nicht ohne Bejahung der individuellen Personlichkeit leben konnen. Von dem Orgiasmus aus fuhrt fur ein Volk nur ein Weg, der Weg zum indischen Buddhaismus, der, um uberhaupt mit seiner Sehnsucht in's Nichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischen Zustande mit ihrer Erhebung uber Raum, Zeit und Individuum bedarf: wie diese wiederum eine Philosophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche Unlust der Zwischenzustande durch eine Vorstellung zu uberwinden. Eben so nothwendig gerath ein Volk, von der unbedingten Geltung der politischen Triebe aus, in eine Bahn ausserster Verweltlichung, deren grossartigster, aber auch erschrecklichster Ausdruck das romische imperium ist.
Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verfuhrerischer Wahl gedrangt, ist es den Griechen gelungen, in classischer Reinheit eine dritte Form hinzuzuerfinden, freilich nicht zu langem eigenen Gebrauche, aber eben darum fur die Unsterblichkeit. Denn dass die Lieblinge der Gotter fruh sterben, gilt in allen Dingen, aber eben so gewiss, dass sie mit den Gottern dann ewig leben. Man verlange doch von dem Alleredelsten nicht, dass es die haltbare Zahigkeit des Leders habe; die derbe Dauerhaftigkeit, wie sie z. B. dem romischen Nationaltriebe zu eigen war, gehort wahrscheinlich nicht zu den nothwendigen Pradicaten der Vollkommenheit. Wenn wir aber fragen, mit welchem Heilmittel es den Griechen ermoglicht war, in ihrer grossen Zeit, bei der ausserordentlichen Starke ihrer dionysischen und politischen Triebe, weder durch ein ekstatisches Bruten, noch durch ein verzehrendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zu erschopfen, sondern jene herrliche Mischung zu erreichen, wie sie ein edler, zugleich befeuernder und beschaulich stimmender Wein hat, so mussen wir der ungeheuren, das ganze Volksleben erregenden, reinigenden und entladenden Gewalt der Tragodie eingedenk sein; deren hochsten Werth wir erst ahnen werden, wenn sie uns, wie bei den Griechen, als Inbegriff aller prophylaktischen Heilkrafte, als die zwischen den starksten und an sich verhangnissvollsten Eigenschaften des Volkes waltende Mittlerin entgegentritt.
Die Tragodie saugt den hochsten Musikorgiasmus in sich hinein, so dass sie geradezu die Musik, bei den Griechen, wie bei uns, zur Vollendung bringt, stellt dann aber den tragischen Mythus und den tragischen Helden daneben, der dann, einem machtigen Titanen gleich, die ganze dionysische Welt auf seinen Rucken nimmt und uns davon entlastet: wahrend sie andrerseits durch denselben tragischen Mythus, in der Person des tragischen Helden, von dem gierigen Drange nach diesem Dasein zu erlosen weiss, und mit mahnender Hand an ein anderes Sein und an eine hohere Lust erinnert, zu welcher der kampfende Held durch seinen Untergang, nicht durch seine Siege sich ahnungsvoll vorbereitet. Die Tragodie stellt zwischen die universale Geltung ihrer Musik und den dionysisch empfanglichen Zuhorer ein erhabenes Gleichniss, den Mythus, und erweckt bei jenem den Schein, als ob die Musik nur ein hochstes Darstellungsmittel zur Belebung der plastischen Welt des Mythus sei. Dieser edlen Tauschung vertrauend darf sie jetzt ihre Glieder zum dithyrambischen Tanze bewegen und sich unbedenklich einem orgiastischen Gefuhle der Freiheit hingeben, in welchem sie als Musik an sich, ohne jene Tauschung, nicht zu schwelgen wagen durfte. Der Mythus schutzt uns vor der Musik, wie er ihr andrerseits erst die hochste Freiheit giebt. Dafur verleiht die Musik, als Gegengeschenk, dem tragischen Mythus eine so eindringliche und uberzeugende metaphysische Bedeutsamkeit, wie sie Wort und Bild, ohne jene einzige Hulfe, nie zu erreichen vermogen; und insbesondere uberkommt durch sie den tragischen Zuschauer gerade jenes sichere Vorgefuhl einer hochsten Lust, zu der der Weg durch Untergang und Verneinung fuhrt, so dass er zu horen meint, als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm vernehmlich sprache.
Habe ich dieser schwierigen Vorstellung mit den letzten Satzen vielleicht nur einen vorlaufigen, fur Wenige sofort verstandlichen Ausdruck zu geben vermocht, so darf ich gerade an dieser Stelle nicht ablassen, meine Freunde zu einem nochmaligen Versuche anzureizen und sie zu bitten, an einem einzelnen Beispiele unsrer gemeinsamen Erfahrung sich fur die Erkenntniss des allgemeinen Satzes vorzubereiten. Bei diesem Beispiele darf ich mich nicht auf jene beziehn, welche die Bilder der scenischen Vorgange, die Worte und Affecte der handelnden Personen benutzen, um sich mit dieser Hulfe der Musikempfindung anzunahern; denn diese alle reden nicht Musik als Muttersprache und kommen auch, trotz jener Hulfe, nicht weiter als in die Vorhallen der Musikperception, ohne je deren innerste Heiligthumer beruhren zu durfen; manche von diesen, wie Gervinus, gelangen auf diesem Wege nicht einmal in die Vorhallen. Sondern nur an diejenigen habe ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit der Musik, in ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Verbindung stehen. An diese achten Musiker richte ich die Frage, ob sie sich einen Menschen denken konnen, der den dritten Act von» Tristan und Isolde «ohne alle Beihulfe von Wort und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu percipiren im Stande ware, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflugel zu verathmen? Ein Mensch, der wie hier das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens gelegt hat, der das rasende Begehren zum Dasein als donnernden Strom oder als zartesten zerstaubten Bach von hier aus in alle Adern der Welt sich ergiessen fuhlt, er sollte nicht jahlings zerbrechen? Er sollte es ertragen, in der elenden glasernen Hulle des menschlichen Individuums, den Wiederklang zahlloser Lust — und Weherufe aus dem» weiten Raum der Weltennacht «zu vernehmen, ohne bei diesem Hirtenreigen der Metaphysik sich seiner Urheimat unaufhaltsam zuzufluchten? Wenn aber doch ein solches Werk als Ganzes percipirt werden kann, ohne Verneinung der Individualexistenz, wenn eine solche Schopfung geschaffen werden konnte, ohne ihren Schopfer zu zerschmettern — woher nehmen wir die Losung eines solchen Widerspruches?
Hier drangt sich zwischen unsre hochste Musikerregung und jene Musik der tragische Mythus und der tragische Held, im Grunde nur als Gleichniss der alleruniversalsten Thatsachen, von denen allein die Musik auf directem Wege reden kann. Als Gleichniss wurde nun aber der Mythus, wenn wir als rein dionysische Wesen empfanden, ganzlich wirkungslos und unbeachtet neben uns stehen bleiben, und uns keinen Augenblick abwendig davon machen, unser Ohr dem Wiederklang der universalia ante rem zu bieten. Hier bricht jedoch die apollinische Kraft, auf Wiederherstellung des fast zersprengten Individuums gerichtet, mit dem Heilbalsam einer wonnevollen Tauschung hervor: plotzlich glauben wir nur noch Tristan zu sehen, wie er bewegungslos und dumpf sich fragt:»die alte Weise; was weckt sie mich?«Und was uns fruher wie ein hohles Seufzen aus dem Mittelpunkte des Seins anmuthete, das will uns jetzt nur sagen, wie»od und leer das Meer. «Und wo wir athemlos zu erloschen wahnten, im krampfartigen Sichausrecken aller Gefuhle, und nur ein Weniges uns mit dieser Existenz zusammenknupfte, horen und sehen wir jetzt nur den zum Tode verwundeten und doch nicht sterbenden Helden, mit seinem verzweiflungsvollen Rufe:»Sehnen! Sehnen! Im Sterben mich zu sehnen, vor Sehnsucht nicht zu sterben!«Und wenn fruher der Jubel des Horns nach solchem Uebermaass und solcher Ueberzahl verzehrender Qualen fast wie der Qualen hochste uns das Herz zerschnitt, so steht jetzt zwischen uns und diesem» Jubel an sich «der jauchzende Kurwenal, dem Schiffe, das Isolden tragt, zugewandt. So gewaltig auch das Mitleiden in uns hineingreift, in einem gewissen Sinne rettet uns doch das Mitleiden vor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnissbild des Mythus uns vor dem unmittelbaren Anschauen der hochsten Weltidee, wie der Gedanke und das Wort uns vor dem ungedammten Ergusse des unbewussten Willens rettet. Durch jene herrliche apollinische Tauschung dunkt es uns, als ob uns selbst das Tonreich wie eine plastische Welt gegenuber trate, als ob auch in ihr nur Tristan's und Isoldens Schicksal, wie in einem allerzartesten und ausdrucksfahigsten Stoffe, geformt und bildnerisch ausgepragt worden sei.
So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheit und entzuckt uns fur die Individuen; an diese fesselt es unsre Mitleidserregung, durch diese befriedigt es den nach grossen und erhabenen Formen lechzenden Schonheitssinn; es fuhrt an uns Lebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassen des in ihnen enthaltenen Lebenskernes. Mit der ungeheuren Wucht des Bildes, des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung reisst das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen Selbstvernichtung empor und tauscht ihn uber die Allgemeinheit des dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes Weltbild, z. B. Tristan und Isolde, sehe und es, durch die Musik, nur noch besser und innerlicher sehen solle. Was vermag nicht der heilkundige Zauber des Apollo, wenn er selbst in uns die Tauschung aufregen kann, als ob wirklich das Dionysische, im Dienste des Apollinischen, dessen Wirkungen zu steigern vermochte, ja als ob die Musik sogar wesentlich Darstellungskunst fur einen apollinischen Inhalt sei?
Bei jener prastabilirten Harmonie, die zwischen dem vollendeten Drama und seiner Musik waltet, erreicht das Drama einen hochsten, fur das Wortdrama sonst unzuganglichen Grad von Schaubarkeit. Wie alle lebendigen Gestalten der Scene in den selbstandig bewegten Melodienlinien sich zur Deutlichkeit der geschwungenen Linie vor uns vereinfachen, ertont uns das Nebeneinander dieser Linien in dem mit dem bewegten Vorgange auf zarteste Weise sympathisirenden Harmonienwechsel: durch welchen uns die Relationen der Dinge in sinnlich wahrnehmbarer, keinesfalls abstracter Weise, unmittelbar vernehmbar werden, wie wir gleichfalls durch ihn erkennen, dass erst in diesen Relationen das Wesen eines Charakters und einer Melodienlinie sich rein offenbare. Und wahrend uns so die Musik zwingt, mehr und innerlicher als sonst zu sehen, und den Vorgang der Scene wie ein zartes Gespinnst vor uns auszubreiten, ist fur unser vergeistigtes, in's Innere blickendes Auge die Welt der