Griechen unwillkurlich genothigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzuknupfen, ja es nur durch diese Anknupfung zu begreifen: wodurch auch die nachste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte sich eben so der Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe zu finden. Und gerade nur so viel ist ein Volk — wie ubrigens auch ein Mensch — werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drucken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativitat der Zeit und von der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegentheil davon tritt ein, wenn ein Volk anfangt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrummern: womit gewohnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch mit der unbewussten Metaphysik seines fruheren Daseins, in allen ethischen Consequenzen, verbunden ist. Die griechische Kunst und vornehmlich die griechische Tragodie hielt vor Allem die Vernichtung des Mythus auf: man musste sie mit vernichten, um, losgelost von dem heimischen Boden, ungezugelt in der Wildniss des Gedankens, der Sitte und der That leben zu konnen. Auch jetzt noch versucht jener metaphysische Trieb, sich eine, wenngleich abgeschwachte Form der Verklarung zu schaffen, in dem zum Leben drangenden Sokratismus der Wissenschaft: aber auf den niederen Stufen fuhrte derselbe Trieb nur zu einem fieberhaften Suchen, das sich allmahlich in ein Pandamonium uberallher zusammengehaufter Mythen und Superstitionen verlor: in dessen Mitte der Hellene dennoch ungestillten Herzens sass, bis er es verstand, mit griechischer Heiterkeit und griechischem Leichtsinn, als Graeculus, jenes Fieber zu maskiren oder in irgend einem orientalisch dumpfen Aberglauben sich vollig zu betauben.
Diesem Zustande haben wir uns, seit der Wiedererweckung des alexandrinisch — romischen Alterthums im funfzehnten Jahrhundert, nach einem langen schwer zu beschreibenden Zwischenacte, in der auffalligsten Weise angenahert. Auf den Hohen dieselbe uberreiche Wissenslust, dasselbe ungesattigte Findergluck, dieselbe ungeheure Verweltlichung, daneben ein heimatloses Herumschweifen, ein gieriges Sichdrangen an fremde Tische, eine leichtsinnige Vergotterung der Gegenwart oder stumpf betaubte Abkehr, Alles sub specie saeculi, der» Jetztzeit«: welche gleichen Symptome auf einen gleichen Mangel im Herzen dieser Cultur zu rathen geben, auf die Vernichtung des Mythus. Es scheint kaum moglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremden Mythus uberzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueberpflanzen heillos zu beschadigen: welcher vielleicht einmal stark und gesund genug ist, jenes fremde Element mit furchtbarem Kampfe wieder auszuscheiden, fur gewohnlich aber siech und verkummert oder in krankhaftem Wuchern sich verzehren muss. Wir halten so viel von dem reinen und kraftigen Kerne des deutschen Wesens, dass wir gerade von ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder Elemente zu erwarten wagen und es fur moglich erachten, dass der deutsche Geist sich auf sich selbst zuruckbesinnt. Vielleicht wird Mancher meinen, jener Geist musse seinen Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen beginnen: wozu er eine ausserliche Vorbereitung und Ermuthigung in der siegreichen Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten Krieges erkennen durfte, die innerliche Nothigung aber in dem Wetteifer suchen muss, der erhabenen Vorkampfer auf dieser Bahn, Luther's ebensowohl als unserer grossen Kunstler und Dichter, stets werth zu sein. Aber nie moge er glauben, ahnliche Kampfe ohne seine Hausgotter, ohne seine mythische Heimat, ohne ein» Wiederbringen «aller deutschen Dinge, kampfen zu konnen! Und wenn der Deutsche zagend sich nach einem Fuhrer umblicken sollte, der ihn wieder in die langst verlorne Heimat zuruckbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt — so mag er nur dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der uber ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will.
Wir hatten unter den eigenthumlichen Kunstwirkungen der musikalischen Tragodie eine apollinische Tauschung hervorzuheben, durch die wir vor dem unmittelbaren Einssein mit der dionysischen Musik gerettet werden sollen, wahrend unsre musikalische Erregung sich auf einem apollinischen Gebiete und an einer dazwischengeschobenen sichtbaren Mittelwelt entladen kann. Dabei glaubten wir beobachtet zu haben, wie eben durch diese Entladung jene Mittelwelt des scenischen Vorgangs, uberhaupt das Drama, in einem Grade von innen heraus sichtbar und verstandlich wurde, der in aller sonstigen apollinischen Kunst unerreichbar ist: so dass wir hier, wo diese gleichsam durch den Geist der Musik beschwingt und emporgetragen war, die hochste Steigerung ihrer Krafte und somit in jenem Bruderbunde des Apollo und des Dionysus die Spitze ebensowohl der apollinischen als der dionysischen Kunstabsichten anerkennen mussten.
Freilich erreichte das apollinische Lichtbild gerade bei der inneren Beleuchtung durch die Musik nicht die eigenthumliche Wirkung der schwacheren Grade apollinischer Kunst; was das Epos oder der beseelte Stein vermogen, das anschauende Auge zu jenem ruhigen Entzucken an der Welt der individuatio zu zwingen, das wollte sich hier, trotz einer hoheren Beseeltheit und Deutlichkeit, nicht erreichen lassen. Wir schauten das Drama an und drangen mit bohrendem Blick in seine innere bewegte Welt der Motive — und doch war uns, als ob nur ein Gleichnissbild an uns voruberzoge, dessen tiefsten Sinn wir fast zu errathen glaubten und das wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen wunschten, um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellste Deutlichkeit des Bildes genugte uns nicht: denn dieses schien eben sowohl Etwas zu offenbaren als zu verhullen; und wahrend es mit seiner gleichnissartigen Offenbarung zum Zerreissen des Schleiers, zur Enthullung des geheimnissvollen Hintergrundes aufzufordern schien, hielt wiederum gerade jene durchleuchtete Allsichtbarkeit das Auge gebannt und wehrte ihm, tiefer zu dringen.
Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu mussen und zugleich uber das Schauen hinaus sich zu sehnen, wird sich schwerlich vorstellen, wie bestimmt und klar diese beiden Prozesse bei der Betrachtung des tragischen Mythus nebeneinander bestehen und nebeneinander empfunden werden: wahrend die wahrhaft aesthetischen Zuschauer mir bestatigen werden, dass unter den eigenthumlichen Wirkungen der Tragodie jenes Nebeneinander die merkwurdigste sei. Man ubertrage sich nun dieses Phanomen des aesthetischen Zuschauers in einen analogen Prozess im tragischen Kunstler, und man wird die Genesis des tragischen Mythus verstanden haben. Er theilt mit der apollinischen Kunstsphare die volle Lust am Schein und am Schauen und zugleich verneint er diese Lust und hat eine noch hohere Befriedigung an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt. Der Inhalt des tragischen Mythus ist zunachst ein episches Ereigniss mit der Verherrlichung des kampfenden Helden: woher stammt aber jener an sich rathselhafte Zug, dass das Leiden im Schicksale des Helden, die schmerzlichsten Ueberwindungen, die qualvollsten Gegensatze der Motive, kurz die Exemplification jener Weisheit des Silen, oder, aesehetisch ausgedruckt, das Hassliche und Disharmonische, in so zahllosen Formen, mit solcher Vorliebe immer von Neuem dargestellt wird und gerade in dem uppigsten und jugendlichsten Alter eines Volkes, wenn nicht gerade an diesem Allen eine hohere Lust percipirt wird?
Denn dass es im Leben wirklich so tragisch zugeht, wurde am wenigsten die Entstehung einer Kunstform erklaren; wenn anders die Kunst nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu deren Ueberwindung neben sie gestellt. Der tragische Mythus, sofern er uberhaupt zur Kunst gehort, nimmt auch vollen Antheil an dieser metaphysischen Verklarungsabsicht der Kunst uberhaupt: was verklart er aber, wenn er die Erscheinungswelt unter dem Bilde des leidenden Helden vorfuhrt? Die» Realitat«. dieser Erscheinungswelt am wenigsten, denn er sagt uns gerade:»Seht hin! Seht genau hin! Dies ist euer Leben! Dies ist der Stundenzeiger an eurer Daseinsuhr!»
Und dieses Leben zeigte der Mythus, um es vor uns damit zu verklaren? Wenn aber nicht, worin liegt dann die aesthetische Lust, mit der wir auch jene Bilder an uns voruberziehen lassen? Ich frage nach der aesthetischen Lust und weiss recht wohl, dass viele dieser Bilder ausserdem mitunter noch eine moralische Ergetzung, etwa unter der Form des Mitleides oder eines sittlichen Triumphes, erzeugen konnen. Wer die Wirkung des Tragischen aber allein aus diesen moralischen Quellen ableiten wollte, wie es freilich in der Aesthetik nur allzu lange ublich war, der mag nur nicht glauben, etwas fur die Kunst damit gethan zu haben: die vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen muss. Fur die Erklarung des tragischen Mythus ist es gerade die erste Forderung, die ihm eigenthumliche Lust in der rein aesthetischen Sphare zu suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids, der Furcht, des Sittlich — Erhabenen uberzugreifen. Wie kann das Hassliche und das Disharmonische, der Inhalt des tragischen Mythus, eine aesthetische Lust erregen?
Hier nun wird es nothig, uns mit einem kuhnen Anlauf in eine Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen, indem ich den fruheren Satz wiederhole, dass nur als ein aesthetisches Phanomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint: in welchem Sinne uns gerade der tragische Mythus zu uberzeugen hat, dass selbst das Hassliche und Disharmonische ein kunstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fulle seiner Lust, mit sich selbst spielt. Dieses schwer zu fassende Urphanomen der dionysischen Kunst wird aber auf directem Wege einzig verstandlich und unmittelbar erfasst in der wunderbaren Bedeutung der musikalischen Dissonanz: wie uberhaupt die Musik, neben die Welt hingestellt, allein einen Begriff davon geben kann, was unter der Rechtfertigung der Welt als eines aesthetischen Phanomens zu verstehen ist. Die Lust, die der tragische Mythus