hervorzubringen?«Diese so tiefsinnige letzte Frage durfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Erfahrungen, bejahen, nachdem wir gerade an der musikalischen Tragodie mit Staunen erlebt haben, wie wirklich das hochste Pathetische doch nur ein aesthetisches Spiel sein kann: weshalb wir glauben durfen, dass erst jetzt das Urphanomen des Tragischen mit einigem Erfolg zu beschreiben ist. Wer jetzt noch nur von jenen stellvertretenden Wirkungen aus ausseraesthetischen Spharen zu erzahlen hat und uber den pathologisch — moralischen Prozess sich nicht hinausgehoben fuhlt, mag nur an seiner aesthetischen Natur verzweifeln: wogegen wir ihm die Interpretation Shakespeare's nach der Manier des Gervinus und das fleissige Aufspuren der» poetischen Gerechtigkeit «als unschuldigen Ersatz anempfehlen.
So ist mit der Wiedergeburt der Tragodie auch der aesthetische Zuhorer wieder geboren, an dessen Stelle bisher in den Theaterraumen ein seltsames Quidproquo, mit halb moralischen und halb gelehrten Anspruchen, zu sitzen pflegte, der» Kritiker«. In seiner bisherigen Sphare war Alles kunstlich und nur mit einem Scheine des Lebens ubertuncht. Der darstellende Kunstler wusste in der That nicht mehr, was er mit einem solchen, kritisch sich gebardenden Zuhorer zu beginnen habe und spahte daher, sammt dem ihn inspirirenden Dramatiker oder Operncomponisten, unruhig nach den letzten Resten des Lebens in diesem anspruchsvoll oden und zum Geniessen unfahigen Wesen. Aus derartigen» Kritikern «bestand aber bisher das Publicum; der Student, der Schulknabe, ja selbst das harmloseste weibliche Geschopf war wider sein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zu einer gleichen Perception eines Kunstwerks vorbereitet. Die edleren Naturen unter den Kunstlern rechneten bei einem solchen Publicum auf die Erregung moralisch — religioser Krafte, und der Anruf der» sittlichen Weltordnung «trat vikarirend ein, wo eigentlich ein gewaltiger Kunstzauber den achten Zuhorer entzucken sollte. Oder es wurde vom Dramatiker eine grossartigere, mindestens aufregende Tendenz der politischen und socialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der Zuhorer seine kritische Erschopfung vergessen und sich ahnlichen Affecten uberlassen konnte, wie in patriotischen oder kriegerischen Momenten, oder vor der Rednerbuhne des Parlaments oder bei der Verurtheilung des Verbrechens und des Lasters: welche Entfremdung der eigentlichen Kunstabsichten hier und da geradezu zu einem Cultus der Tendenz fuhren musste. Doch hier trat ein, was bei allen erkunstelten Kunsten von jeher eingetreten ist, eine reissend schnelle Depravation jener Tendenzen, so dass zum Beispiel die Tendenz, das Theater als Veranstaltung zur moralischen Volksbildung zu verwenden, die zu Schiller's Zeit ernsthaft genommen wurde, bereits unter die unglaubwurdigen Antiquitaten einer uberwundenen Bildung gerechnet wird. Wahrend der Kritiker in Theater und Concert, der Journalist in der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungsobject der niedrigsten Art, und die aesthetische Kritik wurde als das Bindemittel einer eiteln, zerstreuten, selbstsuchtigen und uberdies armlich — unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren Sinn jene Schopenhauerische Parabel von den Stachelschweinen zu verstehen giebt; so dass zu keiner Zeit so viel uber Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist. Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der im Stande ist, sich uber Beethoven und Shakespeare zu unterhalten? Mag Jeder nach seinem Gefuhl diese Frage beantworten: er wird mit der Antwort jedenfalls beweisen, was er sich unter» Bildung «vorstellt, vorausgesetzt dass er die Frage uberhaupt zu beantworten sucht und nicht vor Ueberraschung bereits verstummt ist.
Dagegen durfte mancher edler und zarter von der Natur Befahigte, ob er gleich in der geschilderten Weise allmahlich zum kritischen Barbaren geworden war, von einer eben so unerwarteten als ganzlich unverstandlichen Wirkung zu erzahlen haben, die etwa eine glucklich gelungene Lohengrinauffuhrung auf ihn ausubte: nur dass ihm vielleicht jede Hand fehlte, die ihn mahnend und deutend anfasste, so dass auch jene unbegreiflich verschiedenartige und durchaus unvergleichliche Empfindung, die ihn damals erschutterte, vereinzelt blieb und wie ein rathselhaftes Gestirn nach kurzem Leuchten erlosch. Damals hatte er geahnt, was der aesthetische Zuhorer ist.
Wer recht genau sich selber prufen will, wie sehr er dem wahren aesthetischen Zuhorer verwandt ist oder zur Gemeinschaft der sokratisch — kritischen Menschen gehort, der mag sich nur aufrichtig nach der Empfindung fragen, mit der er das auf der Buhne dargestellte Wunder empfangt: ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge psychologische Causalitat gerichteten Sinn beleidigt fuhlt, ob er mit einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als ein der Kindheit verstandliches, ihm entfremdetes Phanomen zulasst oder ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet. Daran namlich wird er messen konnen, wie weit er uberhaupt befahigt ist, den Mythus, das zusammengezogene Weltbild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der Erscheinung, das Wunder nicht entbehren kann. Das Wahrscheinliche ist aber, dass fast Jeder, bei strenger Prufung, sich so durch den kritisch — historischen Geist unserer Bildung zersetzt fuhle, um nur etwa auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Abstractionen, sich die einstmalige Existenz des Mythus glaublich zu machen. Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schopferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab. Alle Krafte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet. Die Bilder des Mythus mussen die unbemerkt allgegenwartigen damonischen Wachter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwachst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und seine Kampfe deutet: und selbst der Staat kennt keine machtigeren ungeschriebnen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verburgt.
Man stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen geleiteten Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte, das abstracte Recht, den abstracten Staat: man vergegenwartige sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezugelte Schweifen der kunstlerischen Phantasie: man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Moglichkeiten zu erschopfen und von allen Culturen sich kummerlich zu nahren verurtheilt ist — das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wuhlend nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten Alterthumern nach ihnen graben musste. Worauf weist das ungeheure historische Bedurfniss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschoosses? Man frage sich, ob das fieberhafte und so unheimliche Sichregen dieser Cultur etwas Anderes ist, als das gierige Zugreifen und Nach- Nahrung- Haschen des Hungernden — und wer mochte einer solchen Cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie verschlingt, nicht zu sattigen ist und bei deren Beruhrung sich die kraftigste, heilsamste Nahrung in» Historie und Kritik «zu verwandeln pflegt?
Man musste auch an unserem deutschen Wesen schmerzlich verzweifeln, wenn es bereits in gleicher Weise mit seiner Cultur unlosbar verstrickt, ja eins geworden ware, wie wir das an dem civilisirten Frankreich zu unserem Entsetzen beobachten konnen; und das, was lange Zeit der grosse Vorzug Frankreichs und die Ursache seines ungeheuren Uebergewichts war, eben jenes Einssein von Volk und Cultur, durfte uns, bei diesem Anblick, nothigen, darin das Gluck zu preisen, dass diese unsere so fragwurdige Cultur bis jetzt mit dem edeln Kerne unseres Volkscharakters nichts gemein hat. Alle unsere Hoffnungen strecken sich vielmehr sehnsuchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus, dass unter diesem unruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und Bildungskrampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft verborgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukunftigen Erwachen entgegentraumt. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation hervorgewachsen: in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang. So tief, muthig und seelenvoll, so uberschwanglich gut und zart tonte dieser Choral Luther's, als der erste dionysische Lockruf, der aus dichtverwachsenem Gebusch, im Nahen des Fruhlings, hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem Wiederhall jener weihevoll ubermuthige Festzug dionysischer Schwarmer, denen wir die deutsche Musik danken — und denen wir die Wiedergeburt des deutschen Mythus danken werden!
Ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden Freund auf einen hochgelegenen Ort einsamer Betrachtung fuhren muss, wo er nur wenige Gefahrten haben wird, und rufe ihm ermuthigend zu, dass wir uns an unseren leuchtenden Fuhrern, den Griechen, festzuhalten haben. Von ihnen haben wir bis jetzt, zur Reinigung unserer aesthetischen Erkenntniss, jene beiden Gotterbilder entlehnt, von denen jedes ein gesondertes Kunstreich fur sich beherrscht und uber deren gegenseitige Beruhrung und Steigerung wir durch die griechische Tragodie zu einer Ahnung kamen. Durch ein merkwurdiges Auseinanderreissen beider kunstlerischen Urtriebe musste uns der Untergang der griechischen Tragodie herbeigefuhrt erscheinen: mit welchem Vorgange eine Degeneration und Umwandlung des griechischen Volkscharakters im Einklang war, uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wie nothwendig und eng die Kunst und das Volk, Mythus und Sitte, Tragodie und Staat, in ihren Fundamenten verwachsen sind. Jener Untergang der Tragodie war zugleich der Untergang des Mythus. Bis dahin waren die