in der Lehre des grossen Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen: alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, wird einmal vor dem untruglichen Richter Dionysus erscheinen mussen.

Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen stromenden Geiste der deutschen Philosophie, durch Kant und Schopenhauer, es ermoglicht war, die zufriedne Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die in Begriffe gefasste dionysische Weisheit bezeichnen konnen: wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der deutschen Musik und der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform, uber deren Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten konnen? Denn diesen unausmessbaren Werth behalt fur uns, die wir an der Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen stehen, das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene Uebergange und Kampfe zu einer classisch-belehrenden Form ausgepragt sind: nur dass wir gleichsam in umgekehrter Ordnung die grossen Hauptepochen des hellenischen Wesens analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt aus dem alexandrinischen Zeitalter ruckwarts zur Periode der Tragodie zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns die Empfindung, als ob die Geburt eines tragischen Zeitalters fur den deutschen Geist nur eine Ruckkehr zu sich selbst, ein seliges Sichwiederfinden zu bedeuten habe, nachdem fur eine lange Zeit ungeheure von aussen her eindringende Machte den in hulfloser Barbarei der Form dahinlebenden zu einer Knechtschaft unter ihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens, vor allen Volkern kuhn und frei, ohne das Gangelband einer romanischen Civilisation, einherzuschreiten wagen: wenn er nur von einem Volke unentwegt zu lernen versteht, von dem uberhaupt lernen zu konnen schon ein hoher Ruhm und eine auszeichnende Seltenheit ist, von den Griechen. Und wann brauchten wir diese allerhochsten Lehrmeister mehr als jetzt, wo wir die Wiedergeburt der Tragodie erleben und in Gefahr sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten zu konnen, wohin sie will?

20.

Es mochte einmal, unter den Augen eines unbestochenen Richters, abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchen Mannern bisher der deutsche Geist von den Griechen zu lernen am kraftigsten gerungen hat; und wenn wir mit Zuversicht annehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe Goethe's, Schiller's und Winckelmann's dieses einzige Lob zugesprochen werden musste, so ware jedenfalls hinzuzufugen, dass seit jener Zeit und den nachsten Einwirkungen jenes Kampfes, das Streben auf einer gleichen Bahn zur Bildung und zu den Griechen zu kommen, in unbegreiflicher Weise schwacher und schwacher geworden ist. Sollten wir, um nicht ganz an dem deutschen Geist verzweifeln zu mussen, nicht daraus den Schluss ziehen durfen, dass in irgend welchem Hauptpunkte es auch jenen Kampfern nicht gelungen sein mochte, in den Kern des hellenischen Wesens einzudringen und einen dauernden Liebesbund zwischen der deutschen und der griechischen Cultur herzustellen? So dass vielleicht ein unbewusstes Erkennen jenes Mangels auch in den ernsteren Naturen den verzagten Zweifel erregte, ob sie, nach solchen Vorgangern, auf diesem Bildungswege noch weiter wie jene und uberhaupt zum Ziele kommen wurden. Deshalb sehen wir seit jener Zeit das Urtheil uber den Werth der Griechen fur die Bildung in der bedenklichsten Weise entarten; der Ausdruck mitleidiger Ueberlegenheit ist in den verschiedensten Feldlagern des Geistes und des Ungeistes zu horen; anderwarts tandelt eine ganzlich wirkungslose Schonrednerei mit der» griechischen Harmonie«, der» griechischen Schonheit«, der» griechischen Heiterkeit«. Und gerade in den Kreisen, deren Wurde es sein konnte, aus dem griechischen Strombett unermudet, zum Heile deutscher Bildung, zu schopfen, in den Kreisen der Lehrer an den hoheren Bildungsanstalten hat man am besten gelernt, sich mit den Griechen zeitig und in bequemer Weise abzufinden, nicht selten bis zu einem sceptischen Preisgeben des hellenischen Ideals und bis zu einer ganzlichen Verkehrung der wahren Absicht aller Alterthumsstudien. Wer uberhaupt in jenen Kreisen sich nicht vollig in dem Bemuhen, ein zuverlassiger Corrector von alten Texten oder ein naturhistorischer Sprachmikroskopiker zu sein, erschopft hat, der sucht vielleicht auch das griechische Alterthum, neben anderen Alterthumern, sich» historisch «anzueignen, aber jedenfalls nach der Methode und mit den uberlegenen Mienen unserer jetzigen gebildeten Geschichtsschreibung. Wenn demnach die eigentliche Bildungskraft der hoheren Lehranstalten wohl noch niemals niedriger und schwachlicher gewesen ist, wie in der Gegenwart, wenn der» Journalist«, der papierne Sclave des Tages, in jeder Rucksicht auf Bildung den Sieg uber den hoheren Lehrer davongetragen hat, und Letzterem nur noch die bereits oft erlebte Metamorphose ubrig bleibt, sich jetzt nun auch in der Sprechweise des Journalisten, mit der» leichten Eleganz «dieser Sphare, als heiterer gebildeter Schmetterling zu bewegen — in welcher peinlichen Verwirrung mussen die derartig Gebildeten einer solchen Gegenwart jenes Phanomen anstarren, das nur etwa aus dem tiefsten Grunde des bisher unbegriffnen hellenischen Genius analogisch zu begreifen ware, das Wiedererwachen des dionysischen Geistes und die Wiedergeburt der Tragodie? Es giebt keine andere Kunstperiode, in der sich die sogenannte Bildung und die eigentliche Kunst so befremdet und abgeneigt gegenubergestanden hatten, als wir das in der Gegenwart mit Augen sehn. Wir verstehen es, warum eine so schwachliche Bildung die wahre Kunst hasst; denn sie furchtet durch sie ihren Untergang. Aber sollte nicht eine ganze Art der Cultur, namlich jene sokratisch- alexandrinische, sich ausgelebt haben, nachdem sie in eine so zierlich-schmachtige Spitze, wie die gegenwartige Bildung ist, auslaufen konnte! Wenn es solchen Helden, wie Schiller und Goethe, nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg fuhrt, wenn es bei ihrem muthigsten Ringen nicht weiter gekommen ist als bis zu jenem sehnsuchtigen Blick, den die Goethische Iphigenie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat uber das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcher Helden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht plotzlich, an einer ganz anderen, von allen Bemuhungen der bisherigen Cultur unberuhrten Seite die Pforte von selbst aufthate — unter dem mystischen Klange der wiedererweckten Tragodienmusik.

Moge uns Niemand unsern Glauben an eine noch bevorstehende Wiedergeburt des hellenischen Alterthums zu verkummern suchen; denn in ihm finden wir allein unsre Hoffnung fur eine Erneuerung und Lauterung des deutschen Geistes durch den Feuerzauber der Musik. Was wussten wir sonst zu nennen, was in der Verodung und Ermattung der jetzigen Cultur irgend welche trostliche Erwartung fur die Zukunft erwecken konnte? Vergebens spahen wir nach einer einzigen kraftig geasteten Wurzel, nach einem Fleck fruchtbaren und gesunden Erdbodens: uberall Staub, Sand, Erstarrung, Verschmachten. Da mochte sich ein trostlos Vereinsamter kein besseres Symbol wahlen konnen, als den Ritter mit Tod und Teufel, wie ihn uns Durer gezeichnet hat, den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, der seinen Schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Gefahrten, und doch hoffnungslos, allein mit Ross und Hund zu nehmen weiss. Ein solcher Durerscher Ritter war unser Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die Wahrheit. Es giebt nicht Seinesgleichen. —

Aber wie verandert sich plotzlich jene eben so duster geschilderte Wildniss unserer ermudeten Cultur, wenn sie der dionysische Zauber beruhrt! Ein Sturmwind packt alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne, Verkummerte, hullt es wirbelnd in eine rothe Staubwolke und tragt es wie ein Geier in die Lufte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem Entschwundenen: denn was sie sehen, ist wie aus einer Versenkung an's goldne Licht gestiegen, so voll und grun, so uppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermesslich. Die Tragodie sitzt inmitten dieses Ueberflusses an Leben, Leid und Lust, in erhabener Entzuckung, sie horcht einem fernen schwermuthigen Gesange — er erzahlt von den Muttern des Seins, deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe. — Ja, meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt der Tragodie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist voruber: kranzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlost werden. Ihr sollt den dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten! Rustet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wunder eures Gottes!

21.

Von diesen exhortativen Tonen in die Stimmung zuruckgleitend, die dem Beschaulichen geziemt, wiederhole ich, dass nur von den Griechen gelernt werden kann, was ein solches wundergleiches plotzliches Aufwachen der Tragodie fur den innersten Lebensgrund eines Volkes zu bedeuten hat. Es ist das Volk der tragischen Mysterien, das die Perserschlachten schlagt: und wiederum braucht das Volk, das jene Kriege gefuhrt hat, die Tragodie als nothwendigen Genesungstrank. Wer wurde gerade bei diesem Volke, nachdem es durch mehrere Generationen von den starksten Zuckungen des dionysischen Damon bis in's Innerste erregt wurde, noch einen so gleichmassig kraftigen Erguss des einfachsten politischen Gefuhls, der naturlichsten Heimatsinstincte, der ursprunglichen mannlichen Kampflust vermuthen? Ist es doch bei jedem bedeutenden Umsichgreifen dionysischer Erregungen immer zu spuren, wie die dionysische Losung von den Fesseln des Individuums sich am allerersten in einer bis zur Gleichgultigkeit, ja Feindseligkeit gesteigerten Beeintrachtigung der politischen Instincte fuhlbar macht, so gewiss andererseits der staatenbildende Apollo auch der Genius des principii individuationis ist und Staat und Heimatssinn

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