Buhne eben so unendlich erweitert als von innen heraus erleuchtet. Was vermochte der Wortdichter Analoges zu bieten, der mit einem viel unvollkommneren Mechanismus, auf indirectem Wege, vom Wort und vom Begriff aus, jene innerliche Erweiterung der schaubaren Buhnenwelt und ihre innere Erleuchtung zu erreichen sich abmuht? Nimmt nun zwar auch die musikalische Tragodie das Wort hinzu, so kann sie doch zugleich den Untergrund und die Geburtsstatte des Wortes danebenstellen und uns das Werden des Wortes, von innen heraus, verdeutlichen.
Aber von diesem geschilderten Vorgang ware doch eben so bestimmt zu sagen, dass er nur ein herrlicher Schein, namlich jene vorhin erwahnte apollinische Tauschung sei, durch deren Wirkung wir von dem dionysischen Andrange und Uebermaasse entlastet werden sollen. Im Grunde ist ja das Verhaltniss der Musik zum Drama gerade das umgekehrte: die Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben. Jene Identitat zwischen der Melodienlinie und der lebendigen Gestalt, zwischen der Harmonie und den Charakterrelationen jener Gestalt ist in einem entgegengesetzten Sinne wahr, als es uns, beim Anschauen der musikalischen Tragodie, dunken mochte. Wir mogen die Gestalt uns auf das Sichtbarste bewegen, beleben und von innen heraus beleuchten, sie bleibt immer nur die Erscheinung, von der es keine Brucke giebt, die in die wahre Realitat, in's Herz der Welt fuhrte. Aus diesem Herzen heraus aber redet die Musik; und zahllose Erscheinungen jener Art durften an der gleichen Musik voruberziehn, sie wurden nie das Wesen derselben erschopfen, sondern immer nur ihre verausserlichten Abbilder sein. Mit dem popularen und ganzlich falschen Gegensatz von Seele und Korper ist freilich fur das schwierige Verhaltniss von Musik und Drama nichts zu erklaren und alles zu verwirren; aber die unphilosophische Rohheit jenes Gegensatzes scheint gerade bei unseren Aesthetikern, wer weiss aus welchen Grunden, zu einem gern bekannten Glaubensartikel geworden zu sein, wahrend sie uber einen Gegensatz der Erscheinung und des Dinges an sich nichts gelernt haben oder, aus ebenfalls unbekannten Grunden, nichts lernen mochten.
Sollte es sich bei unserer Analysis ergeben haben, dass das Apollinische in der Tragodie durch seine Tauschung vollig den Sieg uber das dionysische Urelement der Musik davongetragen und sich diese zu ihren Absichten, namlich zu einer hochsten Verdeutlichung des Drama's, nutzbar gemacht habe, so ware freilich eine sehr wichtige Einschrankung hinzuzufugen: in dem allerwesentlichsten Punkte ist jene apollinische Tauschung durchbrochen und vernichtet. Das Drama, das in so innerlich erleuchteter Deutlichkeit aller Bewegungen und Gestalten, mit Hulfe der Musik, sich vor uns ausbreitet, als ob wir das Gewebe am Webstuhl im Auf — und Niederzucken entstehen sehen — erreicht als Ganzes eine Wirkung, die jenseits aller apollinischen Kunstwirkungen liegt. In der Gesammtwirkung der Tragodie erlangt das Dionysische wieder das Uebergewicht; sie schliesst mit einem Klange, der niemals von dem Reiche der apollinischen Kunst her tonen konnte. Und damit erweist sich die apollinische Tauschung als das, was sie ist, als die wahrend der Dauer der Tragodie anhaltende Umschleierung der eigentlichen dionysischen Wirkung: die doch so machtig ist, am Schluss das apollinische Drama selbst in eine Sphare zu drangen, wo es mit dionysischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und seine apollinische Sichtbarkeit verneint. So ware wirklich das schwierige Verhaltniss des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragodie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisiren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus: womit das hochste Ziel der Tragodie und der Kunst uberhaupt erreicht ist.
Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkung einer wahren musikalischen Tragodie rein und unvermischt, nach seinen Erfahrungen vergegenwartigen. Ich denke das Phanomen dieser Wirkung nach beiden Seiten hin so beschrieben zu haben, dass er sich seine eignen Erfahrungen jetzt zu deuten wissen wird. Er wird sich namlich erinnern, wie er, im Hinblick auf den vor ihm sich bewegenden Mythus, zu einer Art von Allwissenheit sich gesteigert fuhlte, als ob jetzt die Sehkraft seiner Augen nicht nur eine Flachenkraft sei, sondern in's Innere zu dringen vermoge, und als ob er die Wallungen des Willens, den Kampf der Motive, den anschwellenden Strom der Leidenschaften, jetzt, mit Hulfe der Musik, gleichsam sinnlich sichtbar, wie eine Fulle lebendig bewegter Linien und Figuren vor sich sehe und damit bis in die zartesten Geheimnisse unbewusster Regungen hinabtauchen konne. Wahrend er so einer hochsten Steigerung seiner auf Sichtbarkeit und Verklarung gerichteten Triebe bewusst wird, fuhlt er doch eben so bestimmt, dass diese lange Reihe apollinischer Kunstwirkungen doch nicht jenes begluckte Verharren in willenlosem Anschauen erzeugt, das der Plastiker und der epische Dichter, also die eigentlich apollinischen Kunstler, durch ihre Kunstwerke bei ihm hervorbringen: das heisst die in jenem Anschauen erreichte Rechtfertigung der Welt der individuatio, als welche die Spitze und der Inbegriff der apollinischen Kunst ist. Er schaut die verklarte Welt der Buhne und verneint sie doch. Er sieht den tragischen Helden vor sich in epischer Deutlichkeit und Schonheit und erfreut sich doch an seiner Vernichtung. Er begreift bis in's Innerste den Vorgang der Scene und fluchtet sich gern in's Unbegreifliche. Er fuhlt die Handlungen des Helden als gerechtfertigt und ist doch noch mehr erhoben, wenn diese Handlungen den Urheber vernichten. Er schaudert vor den Leiden, die den Helden treffen werden und ahnt doch bei ihnen eine hohere, viel ubermachtigere Lust. Er schaut mehr und tiefer als je und wunscht sich doch erblindet. Woher werden wir diese wunderbare Selbstentzweiung, dies Umbrechen der apollinischen Spitze, abzuleiten haben, wenn nicht aus dem dionysischen Zauber, der, zum Schein die apollinischen Regungen auf's Hochste reizend, doch noch diesen Ueberschwang der apollinischen Kraft in seinen Dienst zu zwingen vermag. Der tragische Mythus ist nur zu verstehen als eine Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel; er fuhrt die Welt der Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst verneint und wieder in den Schooss der wahren und einzigen Realitat zuruckzufluchten sucht; wo sie dann, mit Isolden, ihren metaphysischen Schwanengesang also anzustimmen scheint:
So vergegenwartigen wir uns, an den Erfahrungen des wahrhaft aesthetischen Zuhorers, den tragischen Kunstler selbst, wie er, gleich einer uppigen Gottheit der individuatio, seine Gestalten schafft, in welchem Sinne sein Werk kaum als» Nachahmung der Natur «zu begreifen ware — wie dann aber sein ungeheurer dionysischer Trieb diese ganze Welt der Erscheinungen verschlingt, um hinter ihr und durch ihre Vernichtung eine hochste kunstlerische Urfreude im Schoosse des Ur-Einen ahnen zu lassen. Freilich wissen von dieser Ruckkehr zur Urheimat, von dem Bruderbunde der beiden Kunstgottheiten in der Tragodie und von der sowohl apollinischen als dionysischen Erregung des Zuhorers unsere Aesthetiker nichts zu berichten, wahrend sie nicht mude werden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den Sieg der sittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragodie bewirkte Entladung von Affecten als das eigentlich Tragische zu charakterisiren: welche Unverdrossenheit mich auf den Gedanken bringt, sie mochten uberhaupt keine aesthetisch erregbaren Menschen sein und beim Anhoren der Tragodie vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen. Noch nie, seit Aristoteles, ist eine Erklarung der tragischen Wirkung gegeben worden, aus der auf kunstlerische Zustande, auf eine aesthetische Thatigkeit der Zuhorer geschlossen werden durfte. Bald soll Mitleid und Furchtsamkeit durch die ernsten Vorgange zu einer erleichternden Entladung gedrangt werden, bald sollen wir uns bei dem Sieg guter und edler Principien, bei der Aufopferung des Helden im Sinne einer sittlichen Weltbetrachtung erhoben und begeistert fuhlen; und so gewiss ich glaube, dass fur zahlreiche Menschen gerade das und nur das die Wirkung der Tragodie ist, so deutlich ergiebt sich daraus, dass diese alle, sammt ihren interpretirenden Aesthetikern, von der Tragodie als einer hochsten Kunst nichts erfahren haben. Jene pathologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die moralischen Phanomene zu rechnen sei, erinnert an eine merkwurdige Ahnung Goethe's.»Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse«, sagt er,»ist es auch mir niemals gelungen, irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer von den Vorzugen der Alten gewesen sein, dass das hochste Pathetische auch nur aesthetisches Spiel bei ihnen gewesen ware, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss, um ein solches Werk