und seelischen Gebrechen der einzelnen ableiten: nicht zu wissen, was uns forderlich, was uns schadlich ist, in der Einrichtung der Lebensweise, Verteilung des Tages, Zeit und Auswahl des Verkehres, in Beruf und Mu?e, Befehlen und Gehorchen, Natur- und Kunstempfinden, Essen, Schlafen und Nachdenken; im Kleinsten und Alltaglichsten unwissend zu sein und keine scharfen Augen zu haben — das ist es, was die Erde fur so viele zu einer» Wiese des Unheils «macht. Man sage nicht, es liege hier wie uberall an der menschlichen Unvernunft: vielmehr — Vernunft genug und ubergenug ist da, aber sie wird falsch gerichtet und kunstlich von jenen kleinen und allernachsten Dingen abgelenkt. Priester und Lehrer, und die sublime Herrschsucht der Idealisten jeder Art, der groberen und feineren, reden schon dem Kinde ein, es komme auf etwas ganz anderes an: auf das Heil der Seele den Staatsdienst, die Forderung der Wissenschaft oder auf Ansehen und Besitz, als die Mittel, der ganzen Menschheit Dienste zu erweisen, wahrend das Bedurfnis des einzelnen, seine gro?e und kleine Not innerhalb der vierundzwanzig Tagesstunden etwas Verachtliches oder Gleichgultiges sei. — Sokrates schon wehrte sich mit allen Kraften gegen diese hochmutige Vernachlassigung des Menschlichen zugunsten des Menschen und liebte es, mit einem Worte Homers, an den wirklichen Umkreis und Inbegriff alles Sorgens und Nachdenkens zu mahnen: das ist es und nur das, sagte er,»was mir zu Hause an Gutem und Schlimmem begegnet».

7

Zwei Trostmittel. — Epikur, der Seelen-Beschwichtiger des spateren Altertums, hatte jene wundervolle Einsicht, die heutzutage immer noch so selten zu finden ist, da? zur Beruhigung des Gemuts die Losung der letzten und au?ersten theoretischen Fragen gar nicht notig sei. So genugte es ihm, solchen, welche» die Gotterangst «qualte, zu sagen:»wenn es Gotter gibt, so bekummern sie sich nicht um uns«, — anstatt uber die letzte Frage, ob es Gotter uberhaupt gebe, unfruchtbar und aus der Ferne zu disputieren. Jene Position ist viel gunstiger und machtiger: man gibt dem andern einige Schritte vor und macht ihn so zum Horen und Beherzigen gutwilliger. Sobald er sich aber anschickt das Gegenteil zu beweisen — da? die Gotter sich um uns bekummern — , in welche Irrsale und Dorngebusche mu? der Arme geraten, ganz von selber, ohne die List des Unterredners, der nur genug Humanitat und Feinheit haben mu?, um sein Mitleiden an diesem Schauspiele zu verbergen. Zuletzt kommt jener andere zum Ekel, dem starksten Argument gegen jeden Satz, zum Ekel an seiner eigenen Behauptung; er wird kalt und geht fort mit derselben Stimmung, wie sie auch der reine Atheist hat:»was gehen mich eigentlich die Gotter an! hole sie der Teufel!«— In anderen Fallen, namentlich wenn eine halb physische, halb moralische Hypothese das Gemut verdustert hatte, widerlegte er nicht diese Hypothese, sondern gestand ein, da? es wohl so sein konne: aber es gebe noch eine zweite Hypothese, um dieselbe Erscheinung zu erklaren; vielleicht konne es sich auch noch anders verhalten. Die Mehrheit der Hypothesen genugt auch in unserer Zeit noch, zum Beispiel uber die Herkunft der Gewissensbisse, um jenen Schatten von der Seele zu nehmen, der aus dem Nachgrubeln uber eine einzige, allein sichtbare und dadurch hundertfach uberschatzte Hypothese so leicht entsteht. — Wer also Trost zu spenden wunscht, an Ungluckliche, Ubeltater, Hypochonder, Sterbende, moge sich der beiden beruhigenden Wendungen Epikurs erinnern, welche auf sehr viele Fragen sich anwenden lassen. In der einfachsten Form wurden sie etwa lauten: erstens, gesetzt es verhalt sich so, so geht es uns nichts an; zweitens: es kann so sein, es kann aber auch anders sein.

8

In der Nacht. — Sobald die Nacht hereinbricht, verandert sich unsere Empfindung uber die nachsten Dinge. Da ist der Wind, der wie auf verbotenen Wegen umgeht, flusternd, wie etwas suchend, verdrossen, weil er's nicht findet. Da ist das Lampenlicht, mit trubem rotlichem Scheine, ermudet blickend, der Nacht ungern widerstrebend, ein ungeduldiger Sklave des wachen Menschen. Da sind die Atemzuge des Schlafenden, ihr schauerlicher Takt, zu der eine immer wiederkehrende Sorge die Melodie zu blasen scheint, — wir horen sie nicht, aber wenn die Brust des Schlafenden sich hebt, so fuhlen wir uns geschnurten Herzens, und wenn der Atem sinkt und fast ins Totenstille erstirbt, sagen wir uns» ruhe ein wenig, du armer gequalter Geist!«— wir wunschen allem Lebenden, weil es so gedruckt lebt, eine ewige Ruhe; die Nacht uberredet zum Tode. — Wenn die Menschen der Sonne entbehrten und mit Mondlicht und Ol den Kampf gegen die Nacht fuhrten, welche Philosophie wurde um sie ihren Schleier hullen! Man merkt es ja dem geistigen und seelischen Wesen des Menschen schon zu sehr an, wie es durch die Halfte Dunkelheit und Sonnen-Entbehrung, von der das Leben umflort wird, im ganzen verdustert ist.

9

Wo die Lehre von der Freiheit des Willens entstanden ist. — Uber dem einen steht die Notwendigkeit in der Gestalt seiner Leidenschaften, uber dem andern als Gewohnheit zu horen und zu gehorchen, uber dem dritten als logisches Gewissen, uber dem vierten als Laune und mutwilliges Behagen an Seitensprungen. Von diesen vieren wird aber gerade da die Freiheit ihres Willens gesucht, wo jeder von ihnen am festesten gebunden ist: es ist, als ob der Seidenwurm die Freiheit seines willens gerade im Spinnen suchte. Woher kommt dies? Ersichtlich daher, da? jeder sich dort am meisten fur frei halt, wo sein Lebensgefuhl am gro?ten ist, also, wie gesagt, bald in der Leidenschaft, bald in der Pflicht, bald in der Erkenntnis, bald im Mutwillen. Das, wodurch der einzelne Mensch stark ist, worin er sich belebt fuhlt, meint er unwillkurlich, musse auch immer das Element seiner Freiheit sein: er rechnet Abhangigkeit und Stumpfsinn, Unabhangigkeit und Lebensgefuhl als notwendige Paare zusammen. — Hier wird eine Erfahrung, die der Mensch im gesellschaftlich-politischen Gebiete gemacht hat, falschlich auf das allerletzte metaphysische Gebiet ubertragen: dort ist der starke Mann auch der freie Mann, dort ist lebendiges Gefuhl von Freude und Leid, Hohe des Hoffens, Kuhnheit des Begehrens, Machtigkeit des Hassens das Zubehor der Herrschenden und Unabhangigen, wahrend der Unterworfene, der Sklave, gedruckt und stumpf lebt. — Die Lehre von der Freiheit des Willens ist eine Erfindung herrschender Stande.

10

Keine neuen Ketten fuhlen. — So lange wir nicht fuhlen, da? wir irgend wovon abhangen, halten wir uns fur unabhangig: ein Fehlschlu?, welcher zeigt, wie stolz und herrschsuchtig der Mensch ist. Denn er nimmt hier an, da? er unter allen Umstanden die Abhangigkeit, sobald er sie erleide, merken und erkennen musse, unter der Voraussetzung, da? er in der Unabhangigkeit fur gewohnlich lebe und sofort, wenn er sie ausnahmsweise verliere, einen Gegensatz der Empfindung spuren werde. — Wie aber, wenn das Umgekehrte wahr ware: da? er immer in vielfacher Abhangigkeit lebt, sich aber fur frei halt, wo er den Druck der Kette aus langer Gewohnheit nicht mehr spurt? Nur an den neuen Ketten leidet er noch: —»Freiheit des Willens «hei?t eigentlich nichts weiter, als keine neuen Ketten fuhlen.

11

Die Freiheit des Willens und die Isolation der Fakta. — Unsere gewohnte ungenaue Beobachtung nimmt eine Gruppe von Erscheinungen als eins und nennt sie ein Faktum: zwischen ihm und einem andern Faktum denkt sie sich einen leeren Raum hinzu, sie isoliert jedes Faktum. In Wahrheit aber ist all unser Handeln und Erkennen keine Folge von Fakten und leeren Zwischenraumen, sondern ein bestandiger Flu?. Nun ist der Glaube an die Freiheit des Willens gerade mit der Vorstellung eines bestandigen, einartigen, ungeteilten, unteilbaren Flie?ens unvertraglich: er setzt voraus, da? jede einzelne Handlung isoliert und unteilbar ist; er ist eine Atomistik im Bereiche des Wollens und Erkennens. — Gerade so wie wir Charaktere ungenau verstehen, so machen wir es mit den Fakten: wir sprechen von gleichen Charakteren, gleichen Fakten: beide gibt es nicht. Nun loben und tadeln wir aber nur unter dieser falschen Voraussetzung, da? es gleiche Fakta gebe, da? eine abgestufte Ordnung von Gattungen der Fakten vorhanden sei, welcher eine abgestufte Wertordnung entspreche: also wir isolieren nicht nur das einzelne Faktum, sondern auch wiederum die Gruppen von angeblich kleinen Fakten (gute, bose, mitleidige, (neidische Handlungen usw.) — beide Male irrtumlich. — Das Wort und der Begriff sind der sichtbarste Grund, weshalb wir an diese Isolation von Handlungen-Gruppen glauben: mit ihnen bezeichnen wir nicht nur die Dinge, wir meinen ursprunglich durch sie das Wahre derselben zu erfassen. Durch Worte und Begriffe werden wir jetzt noch fortwahrend verfuhrt, die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt voneinander, unteilbar, jedes an und fur sich seiend. Es liegt eine philosophische Mythologie in der Sprache versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man sonst auch sein mag. Der Glaube an die Freiheit des Willens, das hei?t der gleichen Fakten und der isolierten Fakten, — hat in der Sprache seinen bestandigen Evangelisten und Anwalt.

Вы читаете Der Wanderer und sein Schatten
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×