uberhaupt gultigen Werthe und Unwerthe an, und gerath damit in's Unverstandliche und Unpraktische. Es ist sehr selten, dass eine hohere Natur soviel Vernunft ubrig behalt, um Alltags-Menschen als solche zu verstehen und zu behandeln: zu allermeist glaubt sie an ihre Leidenschaft als an die verborgen gehaltene Leidenschaft Aller und ist gerade in diesem Glauben voller Gluth und Beredtsamkeit. Wenn nun solche Ausnahme-Menschen sich selber nicht als Ausnahmen fuhlen, wie sollten sie jemals die gemeinen Naturen verstehen und die Regel billig abschatzen konnen! — und so reden auch sie von der Thorheit, Zweckwidrigkeit und Phantasterei der Menschheit, voller Verwunderung, wie toll die Welt laufe und warum sie sich nicht zu dem bekennen wolle, was,»ihr Noth thue«. — Diess ist die ewige Ungerechtigkeit der Edlen.

4

Das Arterhaltende. — Die starksten und bosesten Geister haben bis jetzt die Menschheit am meisten vorwarts gebracht: sie entzundeten immer wieder die einschlafenden Leidenschaften — alle geordnete Gesellschaft schlafert die Leidenschaften ein —, sie weckten immer wieder den Sinn der Vergleichung, des Widerspruchs, der Lust am Neuen, Gewagten, Unerprobten, sie zwangen die Menschen, Meinungen gegen Meinungen, Musterbilder gegen Musterbilder zu stellen. Mit den Waffen, mit Umsturz der Grenzsteine, durch Verletzung der Pietaten zumeist: aber auch durch neue Religionen und Moralen! Die selbe» Bosheit «ist in jedem Lehrer und Prediger des Neuen, — welche einen Eroberer verrufen Macht, wenn sie auch sich feiner aussert, nicht sogleich die Muskeln in Bewegung setzt und eben desshalb auch nicht so verrufen macht! Das Neue ist aber unter allen Umstanden das Bose, als Das, was erobern, die alten Grenzsteine und die alten Pietaten umwerfen will; und nur das Alte ist das Gute! Die guten Menschen jeder Zeit sind die, welche die alten Gedanken in die Tiefe graben und mit ihnen Frucht tragen, die Ackerbauer des Geistes. Aber jedes Land wird endlich ausgenutzt, und immer wieder muss die Pflugschar des Bosen kommen. — Es giebt jetzt eine grundliche Irrlehre der Moral, welche namentlich in England sehr gefeiert wird: nach ihr sind die Urtheile» gut «und» bose «die Aufsammlung der Erfahrungen uber» zweckmassig «und» unzweckmassig«; nach ihr ist das Gut-Genannte das Arterhaltende, das Bos-Genannte aber das der Art Schadliche. In Wahrheit sind aber die bosen Triebe in eben so hohem Grade zweckmassig, arterhaltend und unentbehrlich wie die guten: — nur ist ihre Function eine verschiedene.

5

Unbedingte Pflichten. — Alle Menschen, welche fuhlen, dass sie die starksten Worte und Klange, die beredtesten Gebarden und Stellungen nothig haben, um uberhaupt zu wirken, Revolutions- Politiker, Socialisten, Bussprediger mit und ohne Christenthum, bei denen allen es keine halben Erfolge geben darf: alle diese reden von» Pflichten«, und zwar immer von Pflichten mit dem Charakter des Unbedingten — ohne solche hatten sie kein Recht zu ihrem grossen Pathos: das wissen sie recht wohl! So greifen sie nach Philosophieen der Moral, welche irgend einen kategorischen Imperativ predigen, oder sie nehmen ein gutes Stuck Religion in sich hinein, wie diess zum Beispiel Mazzini gethan hat. Weil sie wollen, dass ihnen unbedingt vertraut werde, haben sie zuerst nothig, dass sie sich selber unbedingt vertrauen, auf Grund irgend eines letzten indiscutabeln und an sich erhabenen Gebotes, als dessen Diener und Werkzeuge sie sich fuhlen und ausgeben mochten. Hier haben wir die naturlichsten und meistens sehr einflussreichen Gegner der moralischen Aufklarung und Skepsis: aber sie sind selten. Dagegen giebt es eine sehr umfangliche Classe dieser Gegner uberall dort, wo das Interesse die Unterwerfung lehrt, wahrend Ruf und Ehre die Unterwerfung zu verbieten scheinen. Wer sich entwurdigt fuhlt bei dem Gedanken, das Werkzeug eines Fursten oder einer Partei und Secte oder gar einer Geldmacht zu sein, zum Beispiel als Abkommling einer alten, stolzen Familie, aber eben diess Werkzeug sein will oder sein muss, vor sich und vor der Oeffentlichkeit, der hat pathetische Principien nothig, die man jederzeit in den Mund nehmen kann: — Principien eines unbedingten Sollens, welchen man sich ohne Beschamung unterwerfen und unterworfen zeigen darf. Alle feinere Servilitat halt am kategorischen Imperativ fest und ist der Todfeind Derer, welche der Pflicht den unbedingten Charakter nehmen wollen: so fordert es von ihnen der Anstand, und nicht nur der Anstand.

6

Verlust an Wurde. — Das Nachdenken ist um all seine Wurde der Form gekommen, man hat das Ceremoniell und die feierliche Gebarde des Nachdenkens zum Gespott gemacht und wurde einen weisen Mann alten Stils nicht mehr aushalten. Wir denken zu rasch, und unterwegs, und mitten im Gehen, mitten in Geschaften aller Art, selbst wenn wir an das Ernsthafteste denken; wir brauchen wenig Vorbereitung, selbst wenig Stille: — es ist, als ob wir eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe herumtrugen, welche selbst unter den ungunstigsten Umstanden noch arbeitet. Ehemals sah man es jedem an, dass er einmal denken wollte — es war wohl die Ausnahme! — , dass er jetzt weiser werden wollte und sich auf einen Gedanken gefasst machte: man zog ein Gesicht dazu, wie zu einem Gebet, und hielt den Schritt an; ja man stand stundenlang auf der Strasse still, wenn der Gedanke» kam«— auf einem oder auf zwei Beinen. So war es» der Sache wurdig»!

7

Etwas fur Arbeitsame. — Wer jetzt aus den moralischen Dingen ein Studium machen will, eroffnet sich ein ungeheures Feld der Arbeit. Alle Arten Passionen mussen einzeln durchdacht, einzeln durch Zeiten, Volker, grosse und kleine Einzelne verfolgt werden; ihre ganze Vernunft und alle ihre Werthschatzungen und Beleuchtungen der Dinge sollen an's Licht hinaus! Bisher hat alles Das, was dem Dasein Farbe gegeben hat, noch keine Geschichte: oder wo gabe es eine Geschichte der Liebe, der Habsucht, des Neides, des Gewissens, der Pietat, der Grausamkeit? Selbst eine vergleichende Geschichte des Rechtes, oder auch nur der Strafe, fehlt bisher vollstandig. Hat man schon die verschiedene Eintheilung des Tages, die Folgen einer regelmassigen Festsetzung von Arbeit, Fest und Ruhe zum Gegenstand der Forschung gemacht? Kennt man die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Giebt es eine Philosophie der Ernahrung? (Der immer wieder losbrechende Larm fur und wider den Vegetarianismus beweist schon, dass es noch keine solche Philosophie giebt!) Sind die Erfahrungen uber das Zusammenleben, zum Beispiel die Erfahrungen der Kloster, schon gesammelt? Ist die Dialektik der Ehe und Freundschaft schon dargestellt? Die Sitten der Gelehrten, der Kaufleute, Kunstler, Handwerker, — haben sie schon ihre Denker gefunden? Es ist so viel daran zu denken! Alles, was bis jetzt die Menschen als ihre» Existenz-Bedingungen «betrachtet haben, und alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglauben an dieser Betrachtung, — ist diess schon zu Ende erforscht? Allein die Beobachtung des verschiedenen Wachsthums, welches die menschlichen Triebe je nach dem verschiedenen moralischen Klima gehabt haben und noch haben konnten, giebt schon zu viel der Arbeit fur den Arbeitsamsten; es bedarf ganzer Geschlechter und planmassig zusammen arbeitender Geschlechter von Gelehrten, um hier die Gesichtspuncte und das Material zu erschopfen. Das Selbe gilt von der Nachweisung der Grunde fur die Verschiedenheit des moralischen Klimas (»wesshalb leuchtet hier diese Sonne eines moralischen Grundurtheils und Hauptwerthmessers — und dort jene?«). Und wieder eine neue Arbeit ist es, welche die Irrthumlichkeit aller dieser Grunde und das ganze Wesen des bisherigen moralischen Urtheils feststellt. Gesetzt, alle diese Arbeiten seien gethan, so trate die heikeligste aller Fragen in den Vordergrund, ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten kann — und dann wurde ein Experimentiren am Platze sein, an dem jede Art von Heroismus sich befriedigen konnte, ein Jahrhunderte langes Experimentiren, welches alle grossen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten stellen konnte. Bisher hat die Wissenschaft ihre Cyklopen- Bauten noch nicht gebaut; auch dafur wird die Zeit kommen.

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