Werdens vervollkommnet, aber sind uber das Bild, hinter das Bild nicht hinaus gekommen. Die Reihe der» Ursachen «steht viel vollstandiger in jedem Falle vor uns, wir schliessen: diess und das muss erst vorangehen, damit jenes folge, — aber begriffen haben wir damit Nichts. Die Qualitat, zum Beispiel bei jedem chemischen Werden, erscheint nach wie vor als ein» Wunder«, ebenso jede Fortbewegung; Niemand hat den Stoss» erklart«. Wie konnten wir auch erklaren! Wir operiren mit lauter Dingen, die es nicht giebt, mit Linien, Flachen, Korpern, Atomen, theilbaren Zeiten, theilbaren Raumen —, wie soll Erklarung auch nur moglich sein, wenn wir Alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde! Es ist genug, die Wissenschaft als moglichst getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben, indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben. Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit giebt es wahrscheinlich nie, — in Wahrheit steht ein continuum vor uns, von dem wir ein paar Stucke isoliren; so wie wir eine Bewegung immer nur als isolirte Puncte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern erschliessen. Die Plotzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen abheben, fuhrt uns irre; es ist aber nur eine Plotzlichkeit fur uns. Es giebt eine unendliche Menge von Vorgangen in dieser Secunde der Plotzlichkeit, die uns entgehen. Ein Intellect, der Ursache und Wirkung als continuum, nicht nach unserer Art als willkurliches Zertheilt- und Zerstucktsein, sahe, der den Fluss des Geschehens sahe, — wurde den Begriff Ursache und Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen.
Zur Lehre von den Giften. — Es gehort so viel zusammen, damit ein wissenschaftliches Denken entstehe: und alle diese nothigen Krafte haben einzeln erfunden, geubt, gepflegt werden mussen! In ihrer Vereinzelung haben sie aber sehr haufig eine ganz andere Wirkung gehabt als jetzt, wo sie innerhalb des wissenschaftlichen Denkens sich gegenseitig beschranken und in Zucht halten: — sie haben als Gifte gewirkt, zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende Trieb, der abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, der auflosende Trieb. Viele Hekatomben von Menschen sind zum Opfer gebracht worden, ehe diese Triebe lernten, ihr Nebeneinander zu begreifen und sich mit einander als Functionen Einer organisirenden Gewalt in Einem Menschen zu fuhlen! Und wie ferne sind wir noch davon, dass zum wissenschaftlichen Denken sich auch noch die kunstlerischen Krafte und die practische Weisheit des Lebens hinzufinden, dass ein hoheres organisches System sich bildet, in Bezug auf welches der Gelehrte, der Arzt, der Kunstler und der Gesetzgeber, so wie wir jetzt diese kennen, als durftige Alterthumer erscheinen mussten!
Umfang des Moralischen. — Wir construiren ein neues Bild, das wir sehen, sofort mit Hulfe aller alten Erfahrungen, die wir gemacht haben, je nach dem Grade unserer Redlichkeit und Gerechtigkeit. Es giebt gar keine anderen als moralische Erlebnisse, selbst nicht im Bereiche der Sinneswahrnehmung.
Die vier Irrthumer. — Der Mensch ist durch seine Irrthumer erzogen worden: er sah sich erstens immer nur unvollstandig, zweitens legte er sich erdichtete Eigenschaften bei, drittens fuhlte er sich in einer falschen Rangordnung zu Thier und Natur, viertens erfand er immer neue Gutertafeln und nahm sie eine Zeit lang als ewig und unbedingt, sodass bald dieser, bald jener menschliche Trieb und Zustand an der ersten Stelle stand und in Folge dieser Schatzung veredelt wurde. Rechnet man die Wirkung dieser vier Irrthumer weg, so hat man auch Humanitat, Menschlichkeit und» Menschenwurde «hinweggerechnet.
Heerden-Instinct. — Wo wir eine Moral antreffen, da finden wir eine Abschatzung und Rangordnung der menschlichen Triebe und Handlungen. Diese Schatzungen und Rangordnungen sind immer der Ausdruck der Bedurfnisse einer Gemeinde und Heerde: Das, was ihr am ersten frommt — und am zweiten und dritten —, das ist auch der oberste Maassstab fur den Werth aller Einzelnen. Mit der Moral wird der Einzelne angeleitet, Function der Heerde zu sein und nur als Function sich Werth zuzuschreiben. Da die Bedingungen der Erhaltung einer Gemeinde sehr verschieden von denen einer anderen Gemeinde gewesen sind, so gab es sehr verschiedene Moralen; und in Hinsicht auf noch bevorstehende wesentliche Umgestaltungen der Heerden und Gemeinden, Staaten und Gesellschaften kann man prophezeien, dass es noch sehr abweichende Moralen geben wird. Moralitat ist Heerden-Instinct im Einzelnen.
Heerden-Gewissensbiss. — In den langsten und fernsten Zeiten der Menschheit gab es einen ganz anderen Gewissensbiss als heut zu Tage. Heute fuhlt man sich nur verantwortlich fur Das, was man will und thut, und hat in sich selber seinen Stolz: alle unsere Rechtslehrer gehen von diesem Selbst- und Lustgefuhle des Einzelnen aus, wie als ob hier von jeher die Quelle des Rechts entsprungen sei. Aber die langste Zeit der Menschheit hindurch gab es nichts Furchterlicheres, als sich einzeln zu fuhlen. Allein sein, einzeln empfinden, weder gehorchen noch herrschen, ein Individuum bedeuten — das war damals keine Lust, sondern eine Strafe; man wurde verurtheilt» zum Individuum«. Gedankenfreiheit galt als das Unbehagen selber. Wahrend wir Gesetz und Einordnung als Zwang und Einbusse empfinden, empfand man ehedem den Egoismus als eine peinliche Sache, als eine eigentliche Noth. Selbst sein, sich selber nach eigenem Maass und Gewicht schatzen — das gieng damals wider den Geschmack. Die Neigung dazu wurde als Wahnsinn empfunden worden sein: denn mit dem Alleinsein war jedes Elend und jede Furcht verknupft. Damals hatte der» freie Wille «das bose Gewissen in seiner nachsten Nachbarschaft: und je unfreier man handelte, je mehr der Heerden-Instinct und nicht der personliche Sinn aus der Handlung sprach, um so moralischer schatzte man sich. Alles, was der Heerde Schaden that, sei es, dass der Einzelne es gewollt oder nicht gewollt hatte, machte damals dem Einzelnen Gewissensbisse — und seinem Nachbar noch dazu, ja der ganzen Heerde! — Darin haben wir am allermeisten umgelernt.
Wohlwollen. — Ist es tugendhaft, wenn eine Zelle sich in die Function einer starkeren Zelle verwandelt? Sie muss es. Und ist es bose, wenn die starkere jene sich assimilirt? Sie muss es ebenfalls; so ist es fur sie nothwendig, denn sie strebt nach uberreichlichem Ersatz und will sich regeneriren. Demnach hat man im Wohlwollen zu unterscheiden: den Aneignungstrieb und den Unterwerfungstrieb, je nachdem der Starkere oder der Schwachere Wohlwollen empfindet. Freude und Begehren sind bei dem Starkeren, der Etwas zu seiner Function umbilden will, beisammen: Freude und Begehrtwerdenwollen bei dem Schwacheren, der Function werden mochte. — Mitleid ist wesentlich das Erstere, eine angenehme Regung des Aneignungstriebes, beim Anblick des Schwacheren: wobei noch zu bedenken ist, dass» stark «und» schwach «relative Begriffe sind.