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Kein Altruismus! — Ich sehe an vielen Menschen eine uberschussige Kraft und Lust, Function sein zu wollen; sie drangen sich dorthin und haben die feinste Witterung fur alle jene Stellen, wo gerade sie Function sein konnen. Dahin gehoren jene Frauen, die sich in die Function eines Mannes verwandeln, welche an ihm gerade schwach entwickelt ist, und dergestalt zu seinem Geldbeutel oder zu seiner Politik oder zu seiner Geselligkeit werden. Solche Wesen erhalten sich selber am besten, wenn sie sich in einen fremden Organismus einfugen; gelingt es ihnen nicht, so werden sie argerlich, gereizt und fressen sich selber auf.

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Gesundheit der Seele. — Die beliebte medicinische Moralformel (deren Urheber Ariston von Chios ist):»Tugend ist die Gesundheit der Seele«— musste wenigstens, um brauchbar zu sein, dahin abgeandert werden:»deine Tugend ist die Gesundheit deiner Seele«. Denn eine Gesundheit an sich giebt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definiren, sind klaglich missrathen. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Krafte, deine Antriebe, deine Irrthumer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst fur deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit giebt es unzahlige Gesundheiten des Leibes; und je mehr man dem Einzelnen und Unvergleichlichen wieder erlaubt, sein Haupt zu erheben, je mehr man das Dogma von der» Gleichheit der Menschen «verlernt, um so mehr muss auch der Begriff einer Normal- Gesundheit, nebst Normal-Diat, Normal-Verlauf der Erkrankung unsern Medicinern abhanden kommen. Und dann erst durfte es an der Zeit sein, uber Gesundheit und Krankheit der Seele nachzudenken und die eigenthumliche Tugend eines Jeden in deren Gesundheit zu setzen: welche freilich bei dem Einen so aussehen konnte wie der Gegensatz der Gesundheit bei einem Anderen. Zuletzt bliebe noch die grosse Frage offen, ob wir der Erkrankung entbehren konnten, selbst zur Entwickelung unserer Tugend, und ob nicht namentlich unser Durst nach Erkenntniss und Selbsterkenntniss der kranken Seele so gut bedurfe als der gesunden: kurz, ob nicht der alleinige Wille zur Gesundheit ein Vorurtheil, eine Feigheit und vielleicht ein Stuck feinster Barbarei und Ruckstandigkeit sei.

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Das Leben kein Argument. Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben konnen — mit der Annahme von Korpern, Linien, Flachen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt Keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens konnte der Irrthum sein.

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Die moralische Skepsis im Christenthum. — Auch das Christenthum hat einen grossen Beitrag zur Aufklarung gegeben: es lehrte die moralische Skepsis auf eine sehr eindringliche und wirksame Weise: anklagend, verbitternd, aber mit unermudlicher Geduld und Feinheit: es vernichtete in jedem einzelnen Menschen den Glauben an seine» Tugenden«: es liess fur immer jene grossen Tugendhaften von der Erde verschwinden, an denen das Alterthum nicht arm war, jene popularen Menschen, die im Glauben an ihre Vollendung mit der Wurde eines Stiergefechtshelden umherzogen. Wenn wir jetzt, erzogen in dieser christlichen Schule der Skepsis, die moralischen Bucher der Alten, zum Beispiel Seneca's und Epiktet's, lesen, so fuhlen wir eine kurzweilige Ueberlegenheit und sind voller geheimer Einblicke und Ueberblicke, es ist uns dabei zu Muthe, als ob ein Kind vor einem alten Manne oder eine junge schone Begeisterte vor La Rochefoucauld redete: wir kennen Das, was Tugend ist, besser! Zuletzt haben wir aber diese selbe Skepsis auch auf alle religiosen Zustande und Vorgange, wie Sunde, Reue, Gnade, Heiligung, angewendet und den Wurm so gut graben lassen, dass wir nun auch beim Lesen aller christlichen Bucher das selbe Gefuhl der feinen Ueberlegenheit und Einsicht haben: — wir kennen auch die religiosen Gefuhle besser! Und es ist Zeit, sie gut zu kennen und gut zu beschreiben, denn auch die Frommen des alten Glaubens sterben aus: — retten wir ihr Abbild und ihren Typus wenigstens fur die Erkenntniss!

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Die Erkenntniss mehr, als ein Mittel. — Auch ohne diese neue Leidenschaft — ich meine die Leidenschaft der Erkenntniss — wurde die Wissenschaft gefordert werden: die Wissenschaft ist ohne sie bisher gewachsen und gross geworden. Der gute Glaube an die Wissenschaft, das ihr gunstige Vorurtheil, von dem unsere Staaten jetzt beherrscht sind (ehedem war es sogar die Kirche), ruht im Grunde darauf, dass jener unbedingte Hang und Drang sich so selten in ihr offenbart hat, und dass Wissenschaft eben nicht als Leidenschaft, sondern als Zustand und» Ethos «gilt. Ja, es genugt oft schon amour-plaisir der Erkenntniss (Neugierde), es genugt amour-vanite, Gewohnung an sie, mit der Hinterabsicht auf Ehre und Brod, es genugt selbst fur Viele, dass sie mit einem Ueberschuss von Musse Nichts anzufangen wissen als lesen, sammeln, ordnen, beobachten, weiter erzahlen: ihr» wissenschaftlicher Trieb «ist ihre Langeweile. Der Papst Leo der Zehnte hat einmal (im Breve an Beroaldus) das Lob der Wissenschaft gesungen: er bezeichnet sie als den schonsten Schmuck und den grossten Stolz unseres Lebens, als eine edle Beschaftigung in Gluck und Ungluck;»ohne sie, sagt er endlich, ware alles menschliche Unternehmen ohne festen Halt, — auch mit ihr ist es ja noch veranderlich und unsicher genug!«Aber dieser leidlich skeptische Papst verschweigt, wie alle anderen kirchlichen Lobredner der Wissenschaft, sein letztes Urtheil uber sie. Mag man nun aus seinen Worten heraushoren, was fur einen solchen Freund der Kunst merkwurdig genug ist, dass er die Wissenschaft uber die Kunst stellt; zuletzt ist es doch nur eine Artigkeit, wenn er hier nicht von dem redet, was auch er hoch uber alle Wissenschaft stellt: von der» geoffenbarten Wahrheit «und von dem» ewigen Heil der Seele«, — was sind ihm dagegen Schmuck, Stolz, Unterhaltung, Sicherung des Lebens!» Die Wissenschaft ist Etwas von zweitem Range, nichts Letztes, Unbedingtes, kein Gegenstand der Passion«, — diess Urtheil blieb in der Seele Leo's zuruck: das eigentlich christliche Urtheil uber die Wissenschaft! Im Alterthum war ihre Wurde und Anerkennung dadurch verringert, dass selbst unter ihren eifrigsten Jungern das Streben nach der Tugend voranstand, und dass man der Erkenntniss schon ihr hochstes Lob gegeben zu haben glaubte, wenn man sie als das beste Mittel der Tugend feierte. Es ist etwas Neues in der Geschichte, dass die Erkenntniss mehr sein will, als ein Mittel.

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Im Horizont des Unendlichen. — Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brucke hinter uns, — mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh' dich vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brullt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Traumerei der Gute. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefuhlt hat und nun an die Wande dieses Kafigs stosst! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befallt, als ob dort mehr Freiheit gewesen ware, — und es giebt kein» Land «mehr!

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