Abenteurer, vierzig an der Zahl, wurde weit und breit unter dem aus den Anfangsbuchstaben ihres Wahlspruchs abgeleiteten Namen »Bilu« bekannt.

Die Biluim gingen daran, in Palastina kleine bauerliche Siedlungen ins Leben zu rufen. Bis zum Jahre 1884 gab es bereits ein halbes Dutzend solcher Siedlungen im Heiligen Lande. Sie waren klein und schwach und hatten mit vielen Schwierigkeiten zu kampfen.

In Schitomir und in allen anderen Stadten des russischen Wohngebiets fanden Abend fur Abend heimlich Versammlungen statt. Die Jugend begann zu rebellieren und neue Wege zu gehen. Jakob Rabinski, der jungere der beiden Bruder, wurde von den neuen Ideen ergriffen und entflammt. Manche Nacht lag er schlaflos in dem Alkoven der Werkstatt, den er mit seinem Bruder Yossi teilte, und starrte in die Dunkelheit. Er dachte daran, wie wunderbar es sein mu?te, kampfen zu konnen! Wie wunderbar, aufzubrechen und wirklich nach Palastina zu kommen! Jakobs Gedanken waren erfullt von der ruhmreichen Vergangenheit der Hebraer. Oftmals stellte er sich vor, er wurde an der Seite Judas kampfen, des »Hammers« zu der Zeit, da die Makkabaer die Griechen aus Judaa vertrieben hatten.

Als die Zionsfreunde nach Schitomir kamen, lief Jakob sofort zu ihren Versammlungen. Ihre Botschaft von der Befreiung der Juden aus eigener Kraft war Musik in seinen Ohren. Die Zionsfreunde hatten gern auch seinen Bruder Yossi fur sich gewonnen, weil er so gro? und so stark war. Doch Yossi naherte sich diesen radikalen Ideen nur zogernd, weil er seinen Vater ehrte, wie Gott es befohlen hatte. Doch als sein Bruder Jakob eines Abends zu dem Kerzenmacher Cohen gegangen war, in dessen Werkstatt ein richtiger Bilu sprach, der zu Besuch aus Palastina gekommen war, hielt es auch Yossi vor Neugier nicht mehr aus. Er wollte alles ganz genau wissen — wie der Bilu ausgesehen hatte, was er gesagt hatte, alles.

»Ich finde, Yossi, das nachstemal solltest du wirklich mitkommen«, sagte Jakob.

Yossi seufzte. Ging er hin, wurde er damit zum erstenmal in seinem Leben den Wunschen seines Vaters offen zuwiderhandeln.

»Also gut«, sagte er leise zu Jakob, »ich komme mit.« Und danach betete er den ganzen Tag inbrunstig um Vergebung fur das, was er zu tun beabsichtigte.

Die beiden Bruder sagten ihrem Vater, sie wollten fur einen Freund der Familie, der kurzlich gestorben war, Kaddisch beten. Sie verlie?en das Haus und begaben sich eilig zu der Werkstatt des Kerzenmachers. Es war eine kleine Kellerwerkstatt, ganz der ihres Vaters ahnlich. Es roch nach Wachs und Duftstoffen. Die Fenstervorhange waren zugezogen. Drau?en auf der Stra?e waren Wachen postiert. Der Raum war voller Menschen, und Yossi war uberrascht, so viele bekannte Gesichter zu sehen. Der Redner stammte ursprunglich aus Odessa und hie? Wladimir.

Wladimir war ganz anders als die Juden von Schitomir, sowohl seinem Au?eren als auch seinem Benehmen nach. Er trug weder Bart noch Schlafenlocken. Er hatte Stiefel an und eine dunkle Lederjacke. Jakob war hingerissen, als er zu sprechen begann, doch unter den Zuhorern gab es mehrere, die dem Redner ins Wort fielen und mi?trauische Fragen an ihn richteten.

»Bist du der Messias, der gekommen ist, uns in das Land unserer Vater zu fuhren?« rief einer von ihnen.

»Hast du den Messias unter deinem Bett gefunden, als du dich beim letzten Pogrom darunter verstecktest?« erwiderte Wladimir.

»Wie kann ich sicher sein, da? du nicht ein Spitzel des Zaren bist?« fragte ein anderer.

»Wie kannst du sicher sein, da? du nicht das nachste Opfer des Zaren sein wirst?« schlug Wladimir zuruck.

Es wurde ruhig im Raum. Wladimir sprach leise und eindringlich. Er rief seinen Zuhorern alles ins Gedachtnis, was die Juden in Polen und in Ru?land erlitten hatten, er dehnte seinen zusammenfassenden Ruckblick auf Deutschland und Osterreich aus, sprach von den Vertreibungen der Juden aus England und Frankreich, von den Pogromen in Bray und York, in Speyer und Worms. Und er sprach von der spanischen Inquisition, einer der schrecklichsten Leidenszeiten, in deren Verlauf unvorstellbare Greuel gegen die Juden im Namen der Kirche verubt worden waren. Und schlie?lich sagte Wladimir: »Kameraden, alle Nationen dieser Erde haben uns verhohnt und erniedrigt. Wir mussen uns erheben und wieder zu einer Nation werden. Das ist unsere einzige Rettung. Pinsker hat dies erkannt, und die Zionsfreunde und die Biluim wissen es und handeln danach. Wir mussen das Haus Israel neu erbauen!«

Jakob schlug das Herz, als er mit seinem Bruder die Versammlung verlie?. »Nun, Yossi, was habe ich dir gesagt? Und du hast heute abend gesehen, sogar Rabbi Lipzin war da.«

»Ich mu? es mir uberlegen«, sagte Yossi abwehrend. Dabei war er sich ebenso wie Jakob bereits klar, da? Wladimir recht hatte. Dies war ihre einzige Rettung.

Als sie nach Haus kamen, stand Simon Rabinski in seinem langen Nachthemd hinter seiner Werkbank, die Hande auf dem Rucken verschrankt. Auf der Werkbank brannte eine Kerze.

»Guten Abend, Papa«, sagten beide rasch und wollten in ihrem Alkoven verschwinden.

»Yossi, Jakob!« rief Simon. Beide gingen langsam zu ihm hin und blieben vor der Schusterbank stehen.

Die Mutter machte die Tur auf und sah blinzelnd herein. »Simon«, sagte sie, »sind die Jungens zu Hause?«

»Sie sind zu Hause.«

»Sag ihnen, sie sollten nicht so spat am Abend auf der Stra?e bleiben.«

»Ja, Mama«, sagte Simon. »Geh jetzt wieder schlafen. Ich werde mit ihnen reden.«

Simon sah von Jakob zu Yossi und wieder zu Jakob. »Ich mu? Frau Horowitz morgen erzahlen, da? ihr Mann gewi? in Frieden ruhen kann, weil meine beiden Sohne heute abend fur ihn Kaddisch gebetet haben.«

Es war Yossi unmoglich, seinem Vater gegenuber unehrlich zu sein. »Wir haben gar nicht fur Reb Horowitz gebetet«, murmelte er.

Simon Rabinski tat uberrascht und hob die Hande in die Hohe.

»So, so! Nun, ich hatte es mir denken konnen. Ihr wart gewi? auf Freiersfu?en. Grad heut war Abraham, der Heiratsvermittler, hier bei mir im Laden. Er sagte zu mir, Simon Rabinski, sagte er, einen schonen Sohn hast du da an deinem Yossi. Er wird dir eine gute Mitgift von der Familie eines reichen Madchens bringen — stell dir vor, Yossi, er will schon jetzt eine Braut fur dich aussuchen.«

»Wir waren nicht auf Brautschau«, sagte Yossi und schluckte. »Nein? Nicht auf Brautschau und nicht zum Kaddisch? Vielleicht wart ihr noch einmal in der Synagoge?«

»Nein, Vater«, sagte Yossi fast unhorbar.

Jakob hielt es nicht langer aus. »Wir waren in einer Versammlung der Zionsfreunde!« sagte er.

Yossi sah seinen Vater verlegen an, wurde rot und nickte. Jakob machte ein trotziges Gesicht. Er schien froh zu sein, da? es heraus war. Simon seufzte und sah seine beiden Sohne lange Zeit schweigend und eindringlich an.

»Ich bin gekrankt«, sagte er schlie?lich.

»Deshalb hatten wir dir ja auch nichts davon gesagt, Vater«, sagte Yossi. »Wir wollten dich nicht kranken.«

»Ich bin nicht gekrankt, weil ihr zu einer Versammlung der Zionsfreunde gegangen seid. Ich bin gekrankt, weil die Sohne von Simon Rabinski so gering von ihrem Vater denken, da? sie sich ihm nicht mehr anvertrauen.« Jetzt wand sich auch Jakob verlegen. »Aber«, sagte er, »wenn wir es dir gesagt hatten, dann hattest du uns vielleicht verboten, hinzugehen.«

»Sag mir, Jakob — wann habe ich euch jemals verboten, Wissen zu erwerben? Habe ich euch jemals ein Buch verboten? Gott verzeih mir — selbst, als es euch in den Sinn kam, das Neue Testament lesen zu wollen — habe ich es euch verboten?«

»Nein, Vater«, sagte Jakob.

»Mir scheint, es ist hochste Zeit, da? wir einmal miteinander reden«, sagte Simon.

Yossis rotes Haar leuchtete im Schein der Kerze. Er war um einen halben Kopf gro?er als sein Vater. Er sprach fest und bestimmt. Yossi war zwar langsam von Entschlu?, doch wenn er sich erst einmal entschlossen hatte, blieb er dabei. »Jakob und ich haben dir nichts davon gesagt, weil wir wissen, was du von den Zionsfreunden und den neuen Ideen haltst, und weil wir dich nicht verletzen wollten. Aber ich bin froh, da? ich heute abend hingegangen bin.« »Auch ich finde es gut, da? du hingegangen bist«, sagte Simon. »Rabbi Lipzin mochte gern, da? ich in die Mannschaft zur Verteidigung des Ghettos eintrete«, sagte Yossi.

»Rabbi Lipzin bricht mit so vielen Traditionen, da? ich mich allmahlich frage, ob er uberhaupt noch ein Rabbi ist«, sagte Simon. »Das ist es ja gerade, Vater«, sagte Yossi. »Du hast Angst vor den neuen Ideen.« Es war das

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