erstemal, da? Yossi so zu seinem Vater sprach, und er schamte sich im gleichen Augenblick.

Simon kam hinter seiner Werkbank hervor, legte seinen Sohnen die Hande auf die Schultern, fuhrte sie zu ihrem Alkoven und bat sie, sich auf die Betten zu setzen. »Meint ihr denn, ich wu?te nicht genau, was in euren Kopfen spukt? Neue Ideen, wahrhaftig! Von Emanzipation und Ghettoverteidigung war genauso die Rede, als ich in eurem Alter war. Ihr macht nur eine Krise durch, die jeder Jude durchmachen mu? — um seinen Frieden mit der Welt zu machen — um zu wissen, wo sein Platz in der Welt ist. Ich habe als junger Mensch sogar einmal daran gedacht, den christlichen Glauben anzunehmen!«

Yossi war verblufft. Sein Vater hatte daran gedacht, zu konvertieren!

»Warum sollte es falsch sein, da? wir uns verteidigen wollen?« fragte Jakob. »Warum wird es von unseren eigenen Leuten als Sunde betrachtet, wenn wir versuchen, uns bessere Lebensbedingungen zu verschaffen?«

»Du bist Jude«, antwortete sein Vater, »und das bringt bestimmte Verpflichtungen mit sich.«

»Auch die Verpflichtung, da? ich mich unter meinem Bett verkrieche, wenn man mich toten will?« sagte Jakob laut und heftig.

»Sprich nicht so mit Vater«, sagte Yossi.

»Niemand hat behauptet, es sei leicht, Jude zu sein. Wir sind nicht da, um von den Fruchten dieser Erde zu leben. Wir sind in die Welt gestellt, um uber die Gebote Gottes zu wachen. Das ist unsere Mission. Das ist unsere Aufgabe.«

»Und das ist unser Lohn!« gab Jakob heftig zuruck.

»Der Messias wird erscheinen und uns in das Land unserer Vater fuhren, wenn der Herr in seiner Gute die Zeit fur gekommen halt«, sagte Simon, unverandert ruhig und gelassen. »Und ich glaube nicht, da? es Jakob Rabinski ansteht, Zweifel zu hegen an der Weisheit des Herrn. Ich glaube vielmehr, da? es Jakob Rabinski ansteht, zu leben nach den Geboten der heiligen Thora.«

Jakob schossen vor Zorn die Tranen in die Augen. »Ich zweifle nicht an Gottes Geboten«, rief er, »aber ich zweifle an der Weisheit einiger Manner, die diese Gebote auslegen.«

Es trat eine kurze Stille ein. Yossi schluckte. Noch nie hatte irgend jemand so zu seinem Vater gesprochen. Und doch bewunderte er heimlich den Mut seines Bruders. Denn Jakob hatte gewagt, die Frage zu stellen, die er selbst nicht zu stellen wagte.

»Wenn wir nach Gottes Ebenbild erschaffen sind«, fuhr Jakob fort, »dann ist der Messias in uns allen lebendig, und der Messias in meiner Brust sagt mir unablassig, da? ich mich erheben und zuruckschlagen soll. Er sagt mir unablassig, da? ich mich mit den Zionsfreunden auf den Weg in das Gelobte Land machen soll. Das ist es, Vater, was mir der Messias sagt.«

Simon Rabinski blieb unerschutterlich. »Wir sind im Laufe unserer Geschichte immer wieder von Mannern heimgesucht worden, die sich falschlich als Messias bezeichneten. Ich furchte, da? auch du jetzt einem solchen falschen Messias dein Ohr leihst.«

»Und woran soll ich den wahren Messias erkennen?« fragte Jakob herausfordernd.

»Die Frage ist nicht, ob Jakob Rabinski den Messias erkennt. Die Frage ist, ob der Messias den Jakob Rabinski erkennen wird. Wenn Jakob Rabinski von Gottes Geboten abweicht und falschen Propheten sein Ohr leiht, dann wird der Messias ohne Zweifel erkennen, da? Jakob Rabinski aufgehort hat, Jude zu sein. Ich mochte Jakob Rabinski daher empfehlen, weiterhin als ein Jude zu leben, wie es sein Vater und seines Vaters Vater getan haben.«

IV.

»Schlagt die Juden tot!«

Ein Steinschlag durchschlug das Fenster des Seminars. Eilig brachte der Rabbi seine Schuler durch den hinteren Ausgang in die Sicherheit des Kellers. Durch die Stra?en hasteten Juden, die sich in wilder Flucht vor einer aufgebrachten Meute von mehr als tausend Primanern und Kosaken in Sicherheit zu bringen versuchten.

»Schlagt die Juden tot!« schrien sie. »Schlagt die Juden tot!«

Wieder einmal fand ein Pogrom statt, inszeniert von Andrejew, dem buckligen Direktor des Stadtischen Gymnasiums und dem gro?ten Judenhasser von Schitomir. Andrejews Schuler zogen randalierend durch das Ghetto, zertrummerten die Schaufenster, schleppten alle Juden, die sie erwischten, auf die Stra?e und schlugen erbarmungslos auf sie ein.

»Schlagt sie tot, die Juden — schlagt sie tot — schlagt sie tot!«

Jakob und Yossi hielt es nicht im Keller des Seminars. Sie rannten durch schmale Ga?chen und ausgestorbene Seitenstra?en nach Haus, um ihre Eltern zu beschutzen. Mehrfach mu?ten sie ausweichen und in Deckung gehen, wenn sich das Getrappel der Kosakenpferde und das blutrunstige Geschrei der Menge naherte. Sie bogen in die Stra?e ein, in der die Werkstatt ihres Vaters lag, und prallten auf ein Dutzend junger Burschen mit bunten Mutzen. Schuler von Andrejew.

»Da sind zwei von denen!«

Jakob und Yossi machten kehrt und liefen davon, um das Rudel der Verfolger von der Wohnung ihrer Eltern abzulenken. Mit Gejohle setzten die Gymnasiasten den beiden Brudern nach. Lange ging die Jagd kreuz und quer durch die Stra?en und Ga?chen, uber Hinterhofe und Gartenzaune, bis die Verfolger sie in einer Sackgasse stellten. Yossi und Jakob standen mit dem Rucken gegen die Wand, schwitzend und keuchend, wahrend die Angreifer einen Halbkreis bildeten und auf sie eindrangen. Ihr Anfuhrer trat mit funkelnden Augen vor, schwang ein Eisenrohr und holte aus zum Schlag auf Yossi.

Yossi wehrte den Schlag ab, packte den Angreifer, hob ihn hoch und warf ihn der ubrigen Meute entgegen. Jakob nahm zwei von den Steinen, die er immer bei sich trug, aus einer Tasche und schleuderte sie gegen die Kopfe zweier Angreifer, die bewu?tlos zu Boden fielen. Die anderen Gymnasiasten stoben in wilder Flucht davon.

Die beiden Bruder sturzten nach Haus und rissen die Tur der Werkstatt auf.

»Mama! Papa!«

Die Werkstatt war ein Trummerfeld.

»Mama! Papa!«

Sie fanden ihre Mutter, die wie von Sinnen in einer Ecke kauerte. Yossi schuttelte sie heftig. »Wo ist Papa?«

»Die Thora!« schrie sie. »Die Thora!«

In diesem Augenblick wankte, sechs Querstra?en weiter, Simon Rabinski in die brennende Synagoge und bahnte sich keuchend den Weg zum Ende des Raumes, dorthin, wo der Thoraschrein stand. Er zog die Vorhange beiseite, auf denen die Zehn Gebote geschrieben standen, und holte das Sefer Thora herunter, die Rolle mit den Geboten Gottes.

Simon druckte das heilige Pergament an seine Brust, um es vor den Flammen zu schutzen, und wankte zur Tur zuruck. Er hatte schwere Verbrennungen erlitten und war dem Ersticken nahe. Er wankte durch die Tur nach drau?en und fiel auf die Knie.

Zwanzig der Schuler Andrejews erwarteten ihn.

»Schlagt den Juden tot!«

Simon kroch noch ein paar Meter auf den Knien weiter, dann brach er zusammen und beschutzte, am Boden liegend, das Sefer Thora mit seinem Leib. Knuppel zerschmetterten seinen Schadel, genagelte Schuhe traten ihm ins Gesicht.

»Schlagt den Juden tot!«

In seiner Todesqual rief Simon Rabinski laut: »Hore, o Israel — der Herr ist unser Gott!«

Simon Rabinski war, als man ihn fand, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das Sefer Thora, die Rolle mit den Geboten, die Gott dem Moses verkundet hatte, war dem Alten vom Mob abgenommen und verbrannt worden.

Das ganze Ghetto von Schitomir betrauerte seinen Tod. Er hatte den ehrenvollsten Tod erlitten, den es fur einen Juden geben konnte. Er hatte das Sefer Thora mit seinem Leib geschutzt! Er wurde zusammen mit einem Dutzend anderer bestattet, die gleich ihm bei Andrejews Pogrom umgebracht worden waren.

Fur Rachel Rabinski war der Tod ihres Mannes nur eine weitere Tragodie im Verlauf eines Lebens, in dem sie kaum etwas anderes gekannt hatte als Kummer und Sorgen. Doch diesmal ging es uber ihre Kraft. Auch ihre Sohne waren ihr kein Trost. Man brachte sie zu Verwandten, die in einer anderen Stadt wohnten. Yossi und Jakob gingen jeden Tag zweimal zur Synagoge, um fur ihren Vater Kaddisch zu beten. Yossi mu?te daran denken, wie sehr sein Vater bestrebt gewesen war, das Leben eines Juden zu fuhren, damit ihn der Messias erkenne. Es war seine Lebensaufgabe gewesen, uber Gottes Gebote zu wachen. Vielleicht hatte sein Vater recht gehabt — vielleicht war es nicht ihr Los, von den Fruchten der Erde zu leben, sondern als Wachter der gottlichen Gebote zu dienen. In

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