seinem Schmerz versuchte Yossi, eine Erklarung fur den grausamen Tod seines Vaters zu finden.
In Jakob sah es anders aus. Sein Herz war voller Ha?, und selbst wenn er zur Synagoge ging, um das Klagegebet fur seinen Vater zu sprechen, sann er auf Rache. Er war unruhig und voller Bitterkeit. Er schwor grimmig, den Tod seines Vaters zu rachen.
Yossi, der wu?te, wie es um seinen Bruder stand, lie? ihn nicht aus den Augen. Er versuchte, ihn zu beruhigen und zu trosten, doch Jakob war untrostlich.
Einen Monat nach dem Tod von Simon Rabinski schlich sich Jakob eines Nachts, wahrend Yossi schlief, heimlich aus der Werkstatt. In seinem Gurtel hatte er ein langes scharfes Messer versteckt, das er von der Schusterbank seines Vaters genommen hatte. Er wagte sich aus dem Ghetto hinaus und begab sich zu der Wohnung Andrejews, des Judenhassers.
Ein instinktives Gefuhl lie? Yossi wenige Minuten spater wachwerden. Als er sah, da? Jakob fort war, kleidete er sich hastig an und rannte ihm nach. Er ahnte, wohin sein Bruder gegangen war. Gegen vier Uhr morgens hob Jakob Rabinski den Messingklopfer an der Tur von Andrejews Wohnung. Als der bucklige Andrejew die Tur offnete, sprang Jakob auf ihn zu und rannte ihm das Messer tief ins Herz. Andrejew stie? einen kurzen Schrei aus und fiel tot zu Boden.
Als Yossi kurz danach angesturzt kam, fand er seinen Bruder, der wie hypnotisiert die Leiche des Mannes anstarrte, den er ermordet hatte. Er zog Jakob fort, und beide flohen.
Den ganzen nachsten Tag und die folgende Nacht hielten sie sich im Keller des Hauses von Rabbi Lipzin verborgen. Die Nachricht von der Ermordung Andrejews war wie ein Lauffeuer durch Schitomir gegangen. Der Altestenrat des Ghettos versammelte sich und fa?te einen Beschlu?.
»Wir haben Anla?, zu befurchten, da? man euch erkannt hat«, sagte der Rabbi, als er von der Versammlung nach Haus kam. »Dein rotes Haar, Yossi, ist einigen der Gymnasiasten aufgefallen.«
Yossi bi? sich auf die Lippe und sagte nicht, da? er nur versucht hatte, die Tat zu verhindern. Jakob zeigte keinerlei Reue, sondern sagte: »Ich wurde es ein zweitesmal tun, gern sogar.«
»Wenn wir auch durchaus verstehen, was euch zu dieser Tat getrieben hat«, sagte der Rabbi, »so konnen wir sie dennoch nicht guthei?en. Es ist sehr wohl moglich, da? es durch euch zu einem weiteren Pogrom kommt. Andererseits — wir sind Juden, und es gibt fur uns vor einem russischen Gericht kein Recht. Wir haben einen Beschlu? gefa?t, dem ihr euch zu fugen habt.«
»Ja, Rabbi«, sagte Yossi.
»Ihr mu?t eure Locken abschneiden und euch wie die Gojim kleiden. Wir werden euch Nahrung und Geld fur eine Woche geben. Ihr mu?t Schitomir sofort verlassen und durft nie mehr hierher zuruckkehren.«
So wurden Jakob und Yossi Rabinski, der eine vierzehn und der andere sechzehn Jahre alt, im Jahr 1884 Fluchtlinge. Sie gingen nach Osten, wanderten nur bei Nacht auf der Landstra?e und hielten sich tagsuber verborgen. Sie erreichten Lubny, rund dreihundert Kilometer von Schitomir entfernt, suchten sofort das Ghetto auf und begaben sich zum Rabbi. Von ihm erfuhren sie, da? ihnen die Kunde ihrer Tat schon vorausgeeilt war. Der Rabbi berief den Altestenrat, und man beschlo? ohne Zogern, den beiden Brudern fur eine weitere Woche Nahrung und Geld mit auf den Weg zu geben.
Yossi und Jakob machten sich von neuem auf den Weg. Ihr nachstes Ziel war Charkow, rund zweihundertundfunfzig Kilometer entfernt, wo man vielleicht nicht so eifrig nach ihnen fahndete. Der Rabbi von Charkow wurde unterrichtet, da? die beiden Rabinskis dorthin unterwegs seien.
Doch die ganze Gegend war alarmiert, und die beiden Bruder konnten sich nur mit gro?ter Vorsicht bewegen. Sie brauchten zwanzig Tage, um nach Charkow zu kommen. Uberall im ganzen judischen Wohnbezirk befand sich ihr Steckbrief, und fur alle Russen war es geradezu eine heilige Pflicht geworden, nach den beiden Brudern zu fahnden. Zwei Wochen lang hielten sie sich in dem feuchten Keller unter der Synagoge von Charkow verborgen. Nur dem Rabbi und einigen der Altesten war ihre Anwesenheit bekannt. Schlie?lich erschien Rabbi Solomon bei ihnen und sagte: »Ihr seid selbst hier nicht sicher. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man euch entdeckt. Schon jetzt schnuffelt die Polizei hier herum und fragt die Leute aus. Und nun, da der Winter bevorsteht, wird es fur euch fast unmoglich sein, weiterzukommen.« Der Rabbi seufzte und schuttelte den Kopf. »Wir haben auch versucht, Papiere fur euch zu beschaffen, damit ihr die Grenzen des judischen Wohngebiets uberschreiten konnt, doch ich furchte, das ist unmoglich. Ihr seid bei der Polizei allzu bekannt.«
Der Rabbi ging unruhig hin und her. »Wir sind zu der Einsicht gekommen, da? es nur eine Moglichkeit gibt. Es wohnen hier im Distrikt einige judische Familien, die sich taufen lie?en und jetzt als Kleinbauern leben. Wir meinen, es wird fur euch das sicherste sein, wenn ihr euch zumindest bis zum Fruhling bei einer dieser Familien verbergt.«
»Rabbi Solomon«, sagte Yossi, »wir sind euch fur alles, was ihr fur uns getan habt, sehr dankbar. Doch mein Bruder und ich haben etwas anderes beschlossen.«
»So? Und was habt ihr beschlossen?«
»Wir wollen nach Palastina«, sagte Jakob.
»Nach Palastina?« sagte der Rabbi erstaunt. »Wie denn?«
»Wir haben uns einen Weg dorthin uberlegt. Gott wird uns helfen.« »Ich zweifle nicht daran, da? euch Gott helfen wird, aber er la?t sich auch nicht dazu zwingen, ein Wunder zu tun. Es sind gut und gern sechshundert Kilometer bis zum Hafen von Odessa. Und selbst wenn ihr Odessa erreichen solltet, wie wollt ihr ohne Papiere auf ein Schiff kommen?«
»Unser Weg fuhrt nicht uber Odessa.«
»Es gibt keinen anderen Weg!«
»Wir wollen nicht uber das Schwarze Meer fahren. Wir haben vor, zu Fu? zu gehen.«
Rabbi Solomon schnappte nach Luft.
»Moses wanderte vierzig Jahre lang«, sagte Jakob. »So lange werden wir nicht brauchen.«
»Junger Freund, ich wei? sehr wohl, da? Moses vierzig Jahre lang gewandert ist, doch das erklart noch immer nicht, wie ihr zu Fu? nach Palastina kommen wollt.«
»Ich will es Ihnen erklaren«, sagte Yossi. »Wir wollen nach Suden wandern. In dieser Richtung wird die Polizei nicht allzu eifrig nach uns suchen. Wir wollen das judische Wohngebiet hinter uns lassen und uber den Kaukasus in die Turkei.«
»Unsinn! Wahnsinn! Das ist unmoglich! Wollt ihr mir vielleicht erzahlen, da? ihr mehr als dreitausend Kilometer zu Fu? zurucklegen wollt, in der Winterkalte, durch fremde Lander und uber ein hohes Gebirge — ohne Papiere, ohne Kenntnis von Land und Leuten und mit einem Steckbrief der Polizei? Ihr seid noch halbe Kinder!«
Jakob sah den Rabbi an, und in seinen Augen brannte das Feuer der Begeisterung. »Furchte dich nicht, denn ich bin bei dir. Ich will die Deinen sammeln aus Ost und West, aus Nord und Sud; will heranfuhren meine Sohne aus der Ferne und meine Tochter von den Enden der Erde«, zitierte er.
Und so geschah es, da? die Bruder Rabinski, gesucht wegen Mordes, von Charkow aus weiterflohen. Sie zogen nach Osten und nach Suden durch die Kalte eines unbarmherzig strengen Winters.
Sie arbeiteten sich nachts durch den Schnee, der ihnen bis an die Knie ging, stemmten ihre jungen Leiber gegen den heulenden Wind, wahrend die Kalte ihre Glieder erstarren lie?. Der Magen knurrte ihnen vor Hunger. Sie ernahrten sich durch Diebstahle auf dem flachen Lande und verbargen sich am Tage in den Waldern.
In diesen qualvollen Nachten war es Jakob, der Yossi mit seiner Begeisterung fur ihre Mission aufrechterhielt. Und manche Nacht mu?te Yossi seinen Bruder acht Stunden lang auf dem Rucken tragen, weil Jakobs Fu?e so wund waren, da? er nicht laufen konnte. Uber das Eis und durch den Schnee wankten sie nach Suden, die Fu?e mit Lumpen umwickelt, Meter um Meter, Meile um Meile, Woche um Woche. Im Fruhling erreichten sie Rostow. Sie brachen zusammen.
Sie fanden das Ghetto, wo man sie aufnahm und ihnen Nahrung und Obdach gewahrte. Sie vertauschten ihre Lumpen gegen neue Kleider. Mehrere Wochen lang mu?ten sie ausruhen, bis sie kraftig genug waren, ihren Weg fortzusetzen. Doch gegen Ende des Fruhlings hatten sie sich von den Strapazen des Winters vollig erholt und begaben sich erneut auf die Wanderung.
Sie brauchten sich jetzt nicht mehr mit den feindlichen Elementen herumzuschlagen, mu?ten sich aber mit noch gro?erer Vorsicht bewegen, da sie das judische Wohngebiet hinter sich gelassen hatten und sich nicht mehr darauf verlassen konnten, bei judischen Gemeinden Schutz, Nahrung und Obdach zu finden. Sie gingen von Rostow aus nach Suden, der Kuste des Schwarzen Meeres entlang. Sie konnten sich jetzt nur von dem ernahren, was sie auf den Feldern stahlen. Bei Tage lie?en sie sich niemals sehen. Als es erneut Winter wurde, waren sie vor eine ungeheuer schwere Entscheidung gestellt. Sollten sie versuchen, den Kaukasus im Winter zu uberqueren oder mit