einem Schiff uber das Schwarze Meer zu fahren? Beide Wege waren gefahrlich. Zwar schien es glatter Wahnsinn, sich im Winter in ein hohes Gebirge zu wagen, doch ihr Verlangen, Ru?land hinter sich zu lassen, war so brennend, da? sie beschlossen, es zu riskieren. In und um Stavropol, am Fu?e des Gebirges, verubten sie eine Reihe von Einbruchen, um sich fur den Angriff auf die Berge ausreichend mit Kleidung und Nahrung auszurusten. Dann flohen sie weiter in den Kaukasus hinein, noch immer von der Polizei verfolgt, um nach Armenien zu kommen.

Abermals wanderten sie durch die grausame Kalte des Winters. Doch das erste Jahr ihrer Wanderschaft hatte sie abgehartet und sie allerhand Schliche gelehrt, und ihre Sehnsucht, nach Palastina zu kommen, wurde immer gro?er. Die letzte Strecke des Weges legten sie halb betaubt zuruck, nur noch vom Instinkt vorwartsgetrieben. Und im Fruhling erlebten sie zum zweitenmal das Wunder der Wiedergeburt. Eines Tages richteten sie sich auf und atmeten zum erstenmal freie Luft — sie hatten »Mutterchen Ru?land« fur immer hinter sich gelassen. Jakob drehte sich, als er die Grenze zur Turkei uberschritten hatte, noch einmal um und spuckte aus, in Richtung Ru?land.

Jetzt konnten sie sich frei bei Tage bewegen, doch es war ein fremdes Land mit ungewohnten Gerauschen und Geruchen, und sie hatten weder Passe noch Ausweise. Die ganze ostliche Turkei war gebirgig, und sie kamen nur langsam voran. Wenn sie auf den Feldern keine Nahrung stehlen konnten, arbeiteten sie, und zweimal in diesem Fruhjahr wurden sie erwischt und fur kurze Zeit ins Gefangnis gesteckt. Yossi meinte, sie mu?ten nun mit dem Stehlen aufhoren, weil es zu gefahrlich fur sie sei, wenn man sie erwischte: Man konnte sie nach Ru?land zuruckschicken! Im Sommer kamen sie am Fu? des Berges Ararat vorbei, auf dem die Arche Noah gelandet war. Und weiter ging es, nach Suden. In jedem Dorf fragten sie: »Wohnen hier Juden?«

In einigen Dorfern gab es Juden, und die Bruder bekamen von ihnen Nahrung, Kleidung und Obdach, und wurden mit guten Wunschen auf den Weg gebracht. Diese Juden waren anders als alle, die sie bisher kennengelernt hatten. Es waren unwissende und aberglaubische Bauern, doch sie kannten ihre Thora, hielten den Sabbath und feierten die judischen Feste.

»Gibt es hier im Osten Juden?«

»Wir sind Juden.«

»Wir mochten gern mit eurem Rabbi sprechen.«

»Wo wollt ihr hin?«

»Wir sind auf dem Weg in das Gelobte Land.« Dies war das magische Wort, das ihnen den Weg ebnete. »Gibt es hier Juden?« »Im nachsten Dorf wohnt eine judische Familie.« Uberall wurden sie gastlich aufgenommen.

So vergingen zwei Jahre. Die beiden Bruder drangten hartnackig weiter auf ihrem Weg, machten nur halt, wenn die Erschopfung zu gro? wurde oder wenn sie arbeiten mu?ten, um sich zu ernahren. »Wohnen hier im Ort Juden?«

Sie uberschritten die turkische Grenze und kamen nach Syrien, in ein ebenso fremdes Land. In Aleppo machten sie die erste Bekanntschaft mit der arabischen Welt. Sie durchquerten Bazare, kamen durch Stra?en, die von Kamelmist bedeckt waren, und horten die mohammedanischen Gesange, die von den Minaretts ertonten. Und weiter wanderten sie, bis sich vor ihnen plotzlich die blaugrune Weite des Mittelmeeres auftat. Statt der Sturme und der Kalte der hinter ihnen liegenden Jahre begru?te sie hier gluhende Hitze. Sie trotteten die Kuste entlang, in Lumpen gehullt. »Wohnen hier Juden?«

Ja, es gab Juden, doch sie waren wieder anders. Diese Juden sahen aus wie Araber, sprachen wie diese und waren arabisch angezogen. Doch sie sprachen auch Hebraisch und kannten die Thora. Genau wie die Juden in Sudru?land und die Juden in der Turkei nahmen auch diese wie Araber aussehenden Juden die beiden Bruder mit Selbstverstandlichkeit bei sich auf und teilten ihre Nahrung und ihre Lagerstatt mit ihnen. Sie segneten die Bruder, wie man sie uberall auf ihrem Wege gesegnet hatte, um der Heiligkeit ihrer Mission willen.

Und weiter ging der Weg, in den Libanon, vorbei an Tripolis und Beirut, und immer naher kamen sie dem Gelobten Land.

»Wohnen hier Juden?«

Inzwischen war das Jahr 1888 gekommen. Mehr als vierzig Monate waren vergangen seit der Nacht, da Jakob und Yossi aus dem Ghetto von Schitomir geflohen waren. Yossi war zu einem hageren und zahen Riesen von einsachtundachtzig, mit einem Korper aus Stahl, herangewachsen. Er war jetzt zwanzig Jahre alt und trug einen flammend roten Bart.

Jakob war achtzehn. Auch er war durch die mehr als dreijahrige Wanderschaft abgehartet, doch er war nach wie vor von mittlerer Gro?e, hatte ein dunkles, sensibles Gesicht und war noch immer der unbandige Feuerkopf, der er schon als Knabe gewesen war. Sie standen auf einem Berg. Vor ihnen offnete sich ein Tal. Jakob und Yossi starrten hinunter auf den Hule-See im Norden von Galilaa. Yossi Rabinski setzte sich auf einen Felsen und weinte. Jakob legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Wir sind da, Yossi, wir sind da!«

Sie waren am Ziel ihrer Wanderschaft angelangt.

V.

Vom Hugel aus schauten sie in das Land. Auf der anderen Seite des Tales erhob sich im Libanon der schneebedeckte Gipfel des Berges Hermon. Unter ihnen dehnte sich der Hule-See mit seinen Sumpfen. Zu ihrer Rechten lag am Hang ein Araberdorf.

Wie schon war das Gelobte Land, wenn man es von hier oben sah! Yossi Rabinski fuhlte eine Begeisterung in sich, wie er sie noch nie erlebt hatte. Und wie junge Menschen es oft in solchen Augenblicken tun, schwor er heimlich, eines Tages hierher zuruckzukommen, um genau von dieser Stelle aus auf ein Stuck Land hinunterzusehen, das dann ihm gehoren wurde.

Sie blieben dort den Tag und die Nacht, und am nachsten Morgen begannen sie den Abstieg in Richtung auf das Araberdorf. Die wei?en Hauser, die sich in einer Mulde zusammendrangten, leuchteten hell in der Morgensonne. Weideland und Olivenhaine zogen sich vom Dorf abwarts zu den Sumpfen des Hule-Sees. Auf den Feldern zog ein Esel eine holzerne Pflugschar. Andere Esel trugen auf ihren Rucken eine schmale Ernte. In den Weingarten waren Araberfrauen bei der Arbeit. Das Dorf machte den Eindruck, als habe sich hier seit tausend Jahren nichts verandert.

Die Schonheit des Bildes verging, als sie sich dem Dorf naherten. Ein widerwartiger Gestank ekelte sie an. Von den Feldern und aus den Hausern verfolgten die Dorfbewohner die Bruder mit mi?trauischen Blicken, als sie die schmutzige Stra?e entlanggingen. Das Leben bewegte sich trage in der gluhenden Sonne. Die Dorfstra?e war voll vom Mist der Kamele und Esel. Haufen riesiger Fliegen umtanzten die beiden Bruder. Ein Hund lag regungslos im Wasser des offenen Rinnsteins, um sich zu kuhlen. Verschleierte Frauen verschwanden angstlich in armseligen Lehmhutten. Die Halfte der Hutten war baufallig und schien kurz davor, einzusturzen. In jeder Hutte wohnten ein Dutzend oder mehr Menschen, au?erdem auch noch Huhner, Mulis und Ziegen.

Die beiden Rabinskis blieben am Brunnen des Dorfes stehen. Hochgewachsene Madchen balancierten riesige Wassergefa?e auf den Kopfen oder knieten an der Erde, eifrig damit beschaftigt, Wasche zu schrubben. Beim Erscheinen der Fremden verstummte die Unterhaltung.

»Konnen wir etwas Wasser haben?« fragte Yossi.

Niemand wagte zu antworten. Sie zogen einen Eimer voll Wasser herauf, wuschen sich das Gesicht, fullten ihre Wasserflaschen und gingen rasch weiter.

Sie kamen zu einer halbverfallenen Hutte, dem Cafehaus des Ortes. Die Manner sa?en oder lagen trage herum, wahrend ihre Frauen die Felder bestellten. In der Luft hing der Geruch starken Kaffees und mischte sich mit dem Duft des Pfeifenrauches und den ublen Geruchen des Dorfes.

»Wir hatten gern nach dem Weg gefragt«, sagte Yossi.

Nach einer Weile erhob sich einer der Araber vom Boden und forderte sie auf, ihm zu folgen. Er fuhrte sie aus dem Dorf heraus an einen Bach; am anderen Ufer des Baches stand eine kleine Moschee mit einem Minarett. Hier am Ufer stand ein ansehnliches Steinhaus und dicht dabei ein Gebaude, das als Gemeindehaus diente. Dorthin fuhrte man die beiden Bruder, bat sie, einzutreten und Platz zu nehmen. Der Raum war hoch, mit wei?gekalkten Wanden, dicken Mauern und geschickt angeordneten Fenstern. Eine lange Bank lief rings an den Wanden entlang. Sie war mit bunten Kissen bedeckt. An den Wanden hingen allerlei Schwerter, bunter Tand und Bilder von Arabern und fremden Gasten. Schlie?lich kam ein Mann herein, der Mitte Zwanzig sein mochte. Er war mit einem gestreiften Umhang bekleidet, der ihm bis zu den Knocheln ging. Auf dem Kopf trug er ein wei?es Tuch mit einem schwarzen Band. Seine Erscheinung lie? sofort erkennen, da? es sich um einen wohlhabenden Mann handeln mu?te.

»Ich bin Kammal, der Muktar von Abu Yesha«, sagte er. Er klatschte in seine mit Ringen geschmuckten Hande und befahl, Obst und Kaffee fur die Fremden zu bringen. Wahrend sich seine Bruder entfernten, um den Auftrag auszufuhren, betraten die Dorfaltesten schweigend und erhaben den Raum.

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