Zur Uberraschung der beiden Rabinskis konnte Kammal ein wenig Hebraisch. »Der Ort, an dem dies Dorf steht, ist die Stelle, an der Josua begraben sein soll«, erklarte er ihnen. »Josua ist nicht nur ein hebraischer Kriegsheld, sondern ebenso auch ein moslemischer Prophet.«
Danach versuchte Kammal, der sich an die arabische Sitte hielt, niemals eine direkte Frage zu stellen, auf Umwegen herauszubekommen, wer die Fremden waren und was der Anla? ihres Besuchs war. Schlie?lich deutete er versuchsweise an, die beiden hatten sich wohl verirrt. Bisher hatten sich noch nie Juden in das Hule-Gebiet gewagt.
Yossi erklarte, da? sie vom Norden her ins Land gekommen seien und die nachstgelegene judische Ansiedlung suchten. Nach einer weiteren halben Stunde versteckter Fragen war Kammal beruhigt. Offenbar waren die beiden Juden nicht mit der Absicht gekommen, hier in diesem Gebiet Land zu erwerben.
Jedenfalls schien er etwas zutraulicher zu werden, und die beiden Bruder erfuhren, da? er nicht nur der Muktar von Abu Yesha war, dem alles Land hier gehorte, sondern auch der geistige Fuhrer und der einzige schriftkundige Mann des Ortes.
Yossi hatte diesen Mann irgendwie gern — warum, wu?te er nicht. Er erzahlte Kammal von ihrer weiten Pilgerfahrt, der muhsamen Wanderung von Ru?land hierher, von ihrem Wunsch, in Palastina se?haft zu werden und ein Stuck Land zu bebauen. Als sie das Obst, das man ihnen anbot, verzehrt hatten und Yossi sich verabschiedete, sagte Kammal:
»Drei?ig Kilometer sudlich von hier werdet ihr Juden finden. Ihr konnt bis zum Abend dort sein, wenn ihr euch an die Stra?e haltet. Der Ort hei?t Rosch Pina.«
Rosch Pina — der Eckstein! Wie aufregend. Diesen Namen hatte Yossi im Ghetto von Schitomir oft gehort.
»Rosch Pina liegt etwa in der Mitte zwischen dem Hule-See und dem See Genezareth. Auf dem Wege dorthin werdet ihr an einem gro?en Hugel vorbeikommen. Unter diesem Hugel liegt das alte Chazor. Moge Gott euch auf eurem Wege beschutzen.«
Die Stra?e fuhrte aus den Feldern von Abu Yesha heraus und an den stinkenden Hule-Sumpfen entlang. Yossi warf einen Blick uber die Schulter zuruck. Er konnte die Stelle sehen, von der sie heute fruh aufgebrochen waren. Ich komme wieder, sagte er zu sich selbst, ich komme wieder, das wei? ich genau.
Gegen Mittag kamen sie zu dem gro?en, von Menschenhand geschaffenen Hugel, den ihnen Kammal beschrieben hatte. Wahrend sie hinaufstiegen, machten sie sich klar, da? unter der Erde, uber die sie schritten, die uralte Stadt Chazor begraben lag. Yossi war begeistert. »Stelle dir doch nur einmal vor«, sagte er zu Jakob, »vielleicht hat Josua genau hier gestanden, wo wir jetzt stehen, als er die Stadt eroberte und die Kanaaniter schlug!«
Yossi befand sich, seit er den ersten Blick in das Gelobte Land getan hatte, in einem Zustand freudiger Bewegtheit, bemerkte uberhaupt nichts von dem Mi?mut, der seinen Bruder Jakob ergriffen hatte. Jakob wollte seinem Bruder nicht die gute Laune verderben, deshalb sagte er nichts; doch seine Stimmung wurde von Minute zu Minute truber.
Gegen Abend erreichten sie Rosch Pina, die nordlichste judische Ansiedlung. Ihre Ankunft erregte gro?es Aufsehen. In einem kleinen Gebaude, das als Versammlungsraum diente, wurden sie mit Fragen uberschuttet. Doch es war vierzig Monate her, seit sie Schitomir verlassen hatten, und sie konnten den Fragern nur mitteilen, da? die Pogrome, die 1881 begonnen hatten, von Jahr zu Jahr immer schlimmer geworden waren.
Die beiden Bruder lie?en sich zwar nichts anmerken, aber Rosch Pina war fur sie eine bittere Enttauschung. An Stelle bluhender Bauernhofe fanden sie ein heruntergekommenes, verarmtes Dorf. Es gab hier nur ein paar Dutzend arme Juden, und sie lebten unter Verhaltnissen, die nicht besser waren als die von Abu Yesha. »Manchmal denke ich, wir hatten besser getan, in Ru?land zu bleiben«, meinte einer der Biluim. »Im Ghetto war man doch wenigstens unter Juden. Wir konnten Bucher lesen und Musik horen, es gab Menschen, mit denen man reden konnte — und es gab Frauen. Hier gibt es nichts von alledem.«
»Aber«, sagte Yossi, »und was ist mit allem, was wir auf den Versammlungen der Zionsfreunde zu horen bekamen —.«
»Sicher, als wir hier ankamen, da waren wir voller Hoffnungen und Plane. Aber die verliert man bald in diesem Land. Seht es euch doch an! Alles ist heruntergekommen, nichts gedeiht. Das wenige, was wir haben, stehlen die Beduinen, und was die Beduinen ubriglassen, das nehmen die Turken. Wenn ich an eurer Stelle ware, ginge ich nach Jaffa weiter und fuhre mit dem nachsten Schiff nach Amerika.«
Was fur eine ausgefallene Idee, dachte Yossi.
»Wenn Rothschild, Baron Hirsch und Schumann uns nicht unterstutzten, waren wir alle schon langst verhungert.«
Am nachsten Morgen brachen sie von Rosch Pina auf und machten sich auf den Weg durch die Berge nach Safed. Safed war eine der vier heiligen Stadte der Juden. Es lag auf einem wunderschonen, kegelformigen Hugel am Eingang des Hule-Gebietes. Hier, so hoffte Yossi, wurde ihre Enttauschung verschwinden; denn hier lebten schon in der zweiten, dritten und vierten Generation Juden, die sich dem Studium der Kabbala widmeten und nach den Lehren der mittelalterlichen judischen Mystik lebten.
Doch der Schock von Rosch Pina wiederholte sich in Safed. Sie fanden einige hundert betagter Juden vor, die mit dem Studium der Schriften beschaftigt waren und von den Almosen ihrer Glaubensbruder in aller Welt lebten. Sie interessierten sich nicht dafur, das Haus Israel neu zu erbauen — sie hatten keinen anderen Wunsch, als in Ruhe uber den Buchern zu hocken.
Die Bruder Rabinski brachen auch von Safed am nachsten Morgen wieder auf und bestiegen den in der Nahe gelegenen Berg Kanaan, um sich umzusehen und zu orientieren. Die Aussicht, die sich von hier oben bot, war wunderbar. Wenn sie zurucksahen, sahen sie Safed auf dem kegelformigen Hugel liegen und dahinter den See Genezareth. Im Norden lagen die schwingenden Hugel des Hule-Gebietes, von wo sie hergekommen waren. Yossi sah mit Vorliebe auf das Land, das sein Fu? zuerst betreten hatte. Und von neuem tat er das Gelubde, da? dieses Land eines Tages ihm gehoren sollte. Jakob vermochte seine Verbitterung nicht mehr zu verbergen. »Unser ganzes Leben lang, in allen unseren Gebeten«, sagte er. »Und nun sieh dir das an, Yossi.«
Yossi legte dem Bruder die Hand auf die Schulter. »Sieh doch nur, wie schon es von hier oben aus erscheint«, sagte er. »Hore, Jakob, wir werden erreichen, da? das Land eines Tages unten im Tal genauso schon aussieht wie hier vom Gipfel aus.«
»Ich wei? nicht, was ich uberhaupt noch glauben soll«, sagte Jakob mit leiser Stimme. »Da sind wir nun gewandert, Winter um Winter durch die grimmige Kalte — und jahrelang durch die Glut des Sommers.«
»Sei nicht mehr traurig«, sagte Yossi. »Morgen machen wir uns auf den Weg nach Jerusalem.«
Jerusalem! Beim Klang dieses magischen Wortes fa?te auch Jakob wieder neuen Mut.
Am nachsten Morgen stiegen sie vom Berg Kanaan herab, wanderten das Sudufer des Sees Genezareth entlang und hinein in das Ginossar-Tal, vorbei an Arbel und dem Schlachtfeld, auf dem Saladin einst die Kreuzritter vernichtend geschlagen hatte.
Doch wahrend sie weiter und weiter wanderten, wurde auch Yossi immer niedergeschlagener. Ihr Gelobtes Land war nicht ein Land, in dem Milch und Honig flo?, sondern ein Land faulender Sumpfe, verwitterter Hugel, steiniger Felder und unfruchtbarer Erde — unfruchtbar, weil Araber und Turken seit tausend Jahren nichts fur diese Erde getan hatten.
Nach einiger Zeit kamen sie zu dem Berge Tabor, in der Mitte von Galilaa, und sie bestiegen diesen Berg, der eine so bedeutende Rolle in der Geschichte ihres Volkes gespielt hatte. Denn hier oben hatten Deborah, die Jeanne d'Arc der Juden, und ihr General Barak mit ihren Truppen im Hinterhalt gelegen, um dann hervorzubrechen und den eindringenden Feind zu vernichten.
Vom Gipfel des Berges Tabor aus hatten sie einen viele Meilen weiten Rundblick. Was sie aber sahen, war das trostlose Bild eines unfruchtbaren, sterbenden Landes.
Und weiter zogen sie ihres Weges mit schwerem Herzen. Doch als sie zu den Hugeln von Judaa kamen, ergriff sie von neuem die Begeisterung! Jeder Stein erzahlte hier von der Geschichte ihres Volkes. Hoher und hoher stiegen sie die Hugel hinauf, bis sie schlie?lich oben auf dem Kamm angelangt waren — und Yossi und Jakob sahen die Stadt Davids!
Jerusalem! Traum ihrer Traume! All die Jahre der Entbehrung, der Bitterkeit und des Leidens wurden unwesentlich in diesem Augenblick.
Sie betraten die alte, ummauerte Stadt durch das Damaskus-Tor, gingen durch schmale Stra?en und Bazare zu der machtigen Hurva-Synagoge. Und von der Synagoge aus gingen sie zu der Mauer des alten Tempels, der