einzigen, die stehengeblieben war. Diese Mauer war die heiligste Statte in der ganzen judischen Welt.

Doch als sie dann bei den Juden von Jerusalem vorsprachen und um Obdach baten, vergingen ihnen alle Illusionen. Diese Juden hier waren Chassidim, ubertrieben strengglaubige Fanatiker, die die Gesetzes-Vorschriften so streng interpretierten, da? sie glaubten, man konne ihnen nur dann gerecht werden, wenn man sich vollig von der zivilisierten Welt absonderte. Schon im russischen Ghetto hatten sich diese Juden von den anderen isoliert.

Zum erstenmal, seit sie Schitomir verlassen hatten, wurde Yossi und Jakob in einem judischen Heim die Gastfreundschaft verweigert. Die Juden von Jerusalem hatten fur die Biluim nichts ubrig, und die Zionsfreunde standen bei ihnen in Verruf wegen ihrer Ideen, die gegen das gottliche Gebot verstie?en.

Und so mu?ten die beiden Bruder erleben, da? man sie im Lande ihrer Vater als Eindringlinge behandelte. Bekummert machten sie sich von Jerusalem erneut auf den Weg, stiegen die Hugel von Judaa hinunter und lenkten ihre Schritte nach der Hafenstadt Jaffa.

Diese uralte Stadt, die seit den Zeiten der Phonizier ununterbrochen als Hafen gedient hatte, bot das gleiche Bild wie Beirut, Aleppo oder Tripolis: enge Stra?en, Schmutz, Verwahrlosung und Verfall. Immerhin gab es hier in der Nahe einige judische Ansiedlungen: Rischon le Zion, Rechovot und Petach Tikwa. In Jaffa selbst gab es ein paar judische Geschafte und au?erdem eine Agentur fur judische Einwanderer. Und hier wurden sie genau uber die Situation unterrichtet.

In ganz Palastina, einer Provinz des ottomanischen Reiches, gab es nur funftausend Juden. Die meisten davon lebten der Vergangenheit zugewandt, beschaftigt mit dem Studium der Schriften und mit dem Gebet, in den vier heiligen Stadten: Safed, Jerusalem, Hebron und Tiberias. Die zehn oder zwolf landwirtschaftlichen Siedlungen, die von judischen Einwanderern ins Leben gerufen worden waren, befanden sich alle in arger Bedrangnis. Sie wurden notdurftig am Leben erhalten durch die Spenden reicher europaischer Juden, der Barone Hirsch und Rothschild und des Schweizer Multimillionars Schumann. Der anfangliche Idealismus der Biluim hatte sich weitgehend verfluchtigt. Es war ein Unterschied, ob man in einem Keller im russischen Ghetto von der Wiedererrichtung des Hauses Israel sprach, oder ob man der rauhen Wirklichkeit in Palastina gegenuberstand. Die Biluim hatten keine Ahnung von Landwirtschaft. Ihre Gonner in Europa schickten ihnen Fachleute, die sie beraten sollten; doch man verwendete billige arabische Arbeitskrafte und beschrankte sich auf die Erzeugung von zwei bis drei landwirtschaftlichen Produkten fur den Export: Oliven, Wein und Zitrusfruchte. Man hatte keinerlei Versuch unternommen, die Arbeit selbst in die Hand zu nehmen oder die Landwirtschaft rentabel zu machen. Die Juden waren praktisch zu Aufsehern geworden.

Sowohl die Araber als auch die Herren im Lande, die Turken, bestahlen die Juden, wo sie nur konnten. Von den Ertragen wurden enorm hohe Steuern erhoben, und es gab einschrankende Verordnungen aller Art. Die Rauberbanden der Beduinen betrachteten die Juden als »Kinder des Todes«, weil sie es ablehnten, sich zur Wehr zu setzen.

Immerhin gab es in und um Jaffa einige hundert junge Juden, die ahnliche Absichten hatten wie die Bruder Rabinski. Sie hielten die Idee der Biluim-Bewegung lebendig. Sie diskutierten Abend fur Abend in den arabischen Kaffeehausern. Der Versuch, dieses heruntergewirtschaftete Land wieder fruchtbar zu machen, schien eine fast unmogliche Aufgabe; und doch war es zu schaffen, wenn man nur genugend Juden hatte, die bereit waren, zuzupacken und notfalls auch zu kampfen. Fur Yossi war es eine ausgemachte Sache, da? fruher oder spater mehr und mehr Juden nach Palastina kommen wurden, da die Pogrome in Ru?land zwangslaufig immer haufiger und schlimmer werden mu?ten und die Unruhe unter allen russischen Juden zunahm. Alle waren sich daruber klar, da? irgend etwas fehlte, was nicht im Talmud, nicht in der Thora und auch nicht im Midrasch stand. Die meisten der jungen Leute waren wie Jakob und Yossi aus Ru?land geflohen, um der Not und dem Elend zu entgehen, um nicht im russischen Heer dienen zu mussen, oder auf Grund irgendwelcher idealistischer Hoffnungen. Von den in Palastina ansassigen Juden wurden sie als »Au?enseiter« behandelt. Au?erdem waren sie staaten- und heimatlos.

Es dauerte ein Jahr, bis auf einen Brief nach Schitomir Antwort von Rabbi Lipzin kam. Er schrieb ihnen, da? ihre Mutter vor Kummer gestorben sei.

In den nachsten vier bis funf Jahren wuchsen Jakob und Yossi zu Mannern heran. Sie arbeiteten bald hier und bald da, im Hafen von Jaffa und auf den Feldern der judischen Ansiedlungen, manchmal als Arbeiter und manchmal als Aufseher.

Sie schlugen sich durch und nahmen jede Arbeit an, die sich bot. Allmahlich verloren sie mehr und mehr den Kontakt mit der tiefen Religiositat, die die beherrschende Kraft des Lebens im Ghetto gewesen war. Nur zu den hohen Festtagen begaben sie sich nach Jerusalem. Und nur am Versohnungstag, Yom Kippur, hielten sie innere Einkehr — ebenso am Rosch Haschana, dem Neujahrstag. Jakob und Yossi Rabinski wurden typische Vertreter einer neuen Art von Juden. Sie waren jung und stark. Sie waren freie Manner, die eine Freiheit schatzten, die es im Ghetto nie gegeben hatte. Und doch fehlte ihnen etwas. Sie verlangten nach einem festen Ziel, und sie wunschten sich Kontakt mit den Juden in Europa.

So kamen und gingen die Jahre 1891, 1892 und 1893. Doch wahrend Jakob und Yossi scheinbar ziellos in Palastina lebten, ereignete sich an einer anderen Stelle der Welt etwas, was ihr Schicksal und das Schicksal jedes Juden fur alle Zeit beeinflussen sollte.

VI.

In Frankreich wie fast uberall in Westeuropa hatten es die Juden besser als in Osteuropa. Die Franzosische Revolution hatte auch fur die Juden eine Wende gebracht. Frankreich war das erste europaische Land gewesen, das den Juden alle burgerlichen Rechte zuerkannt hatte.

Doch der Judenha? ist eine unheilbare Seuche. Der Erreger dieser Seuche mag unter bestimmten demokratischen Bedingungen nicht sonderlich virulent werden. Gelegentlich sieht es sogar so aus, als sei der Erreger vollig verschwunden; doch selbst im besten Klima stirbt er niemals ganzlich aus.

In Frankreich lebte ein junger aktiver Hauptmann der Armee. Er stammte aus guter und beguterter Familie. Im Jahre 1894 wurde er vor ein Kriegsgericht gestellt, weil er angeblich militarische Geheimnisse an die Deutschen verraten haben sollte. Der Proze?, den man ihm machte, bewegte die ganze Welt und erschutterte das Ansehen der franzosischen Rechtsprechung auf das schwerste. Er wurde des Hochverrats fur schuldig befunden und zu lebenslanglicher Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt.

Er hie? Alfred Dreyfu?.

In dem strengen Winter des Jahres 1894 stand der in Ungnade gefallene Alfred Dreyfu? auf einem Hof, wo man ihm offentlich die Epauletten herunterri?, ihm ins Gesicht schlug und seinen Degen zerbrach. Unter gedampftem Trommelklang wurde er zum Verrater an Frankreich erklart. Als man ihn abfuhrte, rief er laut: »Ich bin unschuldig! Vive la France!«

Alfred Dreyfu? war Jude. Die schleichende Seuche des Antisemitismus brach erneut in Frankreich aus. Aufgebrachte Menschenmengen liefen durch die Stra?en von Paris und schrien den jahrhundertealten Ruf: »Tod den Juden!«

Unter den Menschen, die auf jenem Hof in Paris Zeuge wurden, wie man Dreyfu? offentlich achtete, befand sich ein Mann, der den Ruf: »Ich bin unschuldig!« nicht vergessen konnte, selbst dann nicht, als Dreyfu? spater rehabilitiert wurde. Er konnte noch weniger vergessen, wie der Mob von Paris geschrien hatte: »Tod den Juden!« Der Mann hie? Theodor Herzl. Herzl war gleichfalls Jude, in Ungarn geboren, doch in Wien aufgewachsen. Er war kein orthodoxer Jude und in den heiligen Buchern nicht sonderlich beschlagen. Er und seine Familienangehorigen waren uberzeugte Anhanger der damals vorherrschenden Assimilationstheorie.

Herzl war ein brillanter Essayist. Doch seine innere Unruhe trieb ihn von Ort zu Ort. Glucklicherweise war die Familie in der Lage, dieses unstete Wanderleben ausreichend zu finanzieren.

So kam Herzl auch nach Paris, und hier wurde er schlie?lich Pariser Korrespondent der einflu?reichen Wiener Zeitung Neue Freie Presse. Er war glucklich. Man lebte gut in Paris. Seine Arbeit als Korrespondent machte ihm Freude, und die Atmosphare dieser Stadt begunstigte wunderbar jede Form des geistigen Austausches. Was aber hatte ihn wirklich nach Paris gebracht? Welche unsichtbare Hand hatte ihn an jenem Wintertag auf diesen Hof gefuhrt? Warum gerade ihn, Herzl? Weder in seiner Lebensform noch in seiner Denkweise war er in erster Linie Jude. Und doch, als er horte, wie der Mob drau?en auf der Stra?e schrie: »Tod den Juden!«, da anderte sich sein Leben und das Leben eines jeden Juden fur immer.

Theodor Herzl begann nachzudenken. Er erkannte, da? der Antisemitismus ein unausrottbares Ubel war. Solange es Juden gab, wurde es Menschen geben, die diese Juden ha?ten. In seiner tiefen Sorge fragte sich Herzl, wie dieses Problem zu losen war, und er kam auf seine Frage zu einer Antwort — zu der gleichen Antwort, zu der vor ihm eine Million Juden in hundert verschiedenen Landern gekommen waren, zu der Losung, von der Leo Pinsker in seiner Schrift uber die Auto-Emanzipation gesprochen hatte. Herzl gelangte zu der Uberzeugung: Nur wenn sich

Вы читаете Exodus
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату