Bevor er den Satz beenden konnte, trat MrsEglantine aus dem Schatten unter der gro?en Haupttreppe hervor. Wie lange hatte sie dort gestanden? Hatte sie Sherlock dabei beobachtet, wie er den Brief gelesen hatte?

»MrCrowe?«, fragte sie. »Der gnadige Herr erwartet Sie. Bitte, folgen Sie mir hier entlang.« Sie deutete in Richtung Bibliothek.

Sherlock war au?er sich vor Schreck und zitterte. Sie konnte unmoglich wissen, was in dem Brief stand. Es sei denn, sie hatte ihn uber Dampf geoffnet und anschlie?end wieder versiegelt, und sein Verstand weigerte sich, ihr das zuzutrauen. Aber nichtsdestotrotz kam er sich vor, als ware er bei etwas Verbotenem ertappt worden.

Amyus Crowe betrat die Halle und legte seinen Hut und Gehstock an der Garderobe ab. Er ging auf Sherlock zu. »Wir sprechen uns spater«, sagte er und legte eine Hand auf Sherlocks Schulter. Obwohl Sherlock gro? fur sein Alter war, uberragte Amyus Crowe ihn derma?en, dass er sich wie ein zehnjahriger Junge vorkam. »Halte dich hier ein bisschen auf, mein Sohn.« Er blickte sich in der Halle um. »Und versuche herauszufinden, wie viele von diesen Gemalden Falschungen sind, wahrend du hier wartest.«

MrsEglantine versteifte sich. »Keines davon ist gefalscht!«, zischte sie. »Der gnadige Herr wurde so was niemals zulassen!«

»›Keines davon‹ ist eine akzeptable Antwort«, sagte Crowe augenzwinkernd, als er an Sherlock vorbeiging. Er ubergab MrsEglantine eine Karte. »Ich ware Ihnen sehr verbunden, wenn Sie meine Gegenwart ankundigen konnten.«

MrsEglantine fuhrte Amyus Crowe in die Bibliothek. Augenblicke spater tauchte sie wieder auf und entfernte sich, ohne Sherlock noch einmal anzusehen. Er sah, wie sie im Schatten an der Treppe verschwand, und fragte sich, ob sie wohl dort stehengeblieben war, um ihn zu beobachten.

Es drangen Stimmen aus der Bibliothek, aber Sherlock konnte keine einzelnen Worter verstehen. Er schlenderte an der Eichenvertafelung entlang und nahm nacheinander die spezifischen Einzelheiten jedes einzelnen Gemaldes in sich auf.

Keines der Bilder war beschriftet. Kunsterziehung stand nicht auf dem Lehrplan der Deepdene-Schule, und er stellte fest, dass er nicht viel Interesse fur die verschiedenen Landschaften, Meerespanoramen und Jagdszenen aufzubringen vermochte. Mit ihren perfekten Baumen, der ungestumen See und den auf spindeldurren Beinchen dahingaloppierenden Pferden kamen sie ihm allesamt irgendwie unecht vor.

Albuquerque. Amerika. Das klang so romantisch. Sherlock wusste wenig uber dieses Land. Abgesehen von der Tatsache, dass es vor uber zweihundert Jahren von England begrundet worden war, dass es sich uber hundert Jahre spater gegen die englische Herrschaft erhoben hatte und dass seine Bewohner ungestum und unabhangig waren. Oh, und dass es dort vor ein paar Jahren einen Burgerkrieg gegeben hatte, bei dem es irgendwie um Sklaverei ging. Aber er mochte Amyus Crowe auf Anhieb, und wenn Crowe charakteristisch fur seine Landsleute war, wollte Sherlock eines Tages unbedingt nach Amerika reisen.

Es war ungefahr eine halbe Stunde vergangen, als sich die Tur zur Bibliothek offnete und Amyus Crowe auftauchte. Er lachelte und schuttelte Sherrinford Holmes die Hand. Hinter ihnen verschwammen die dichten Reihen der in grunes Leder gebundenen Bucher ineinander, was aussah, als stunden sie vor einer grunen Landschaft.

»Ah, Sherlock«, sagte Sherrinford. »MrCrowe, erlauben Sie mir, Ihnen meinen Neffen Sherlock vorzustellen.«

»Wir haben uns bereits kennengelernt«, erklarte MrCrowe und nickte Sherlock zu.

»Bestens. Vielen Dank fur Ihr Kommen. Ich besorge Ihnen ein Hausmadchen, das Sie hinausgeleitet.«

»Machen Sie sich keine Umstande, MrHolmes. Ich werde mit dem jungen Master Sherlock einen Spaziergang uber Ihr Anwesen machen, wenn es recht ist.«

»Naturlich, naturlich.« Sherrinford zog sich in die Bibliothek zuruck wie eine Schildkrote in ihren Panzer, und Crowe ging zu Sherlock hinuber.

»Nun, welches ist es?«, fragte er. »Wenn uberhaupt eines davon.«

Sherlock musterte die Gemalde. Obwohl er sie genauestens untersucht hatte, war er sich immer noch nicht sicher. Er deutete auf ein teilweise unbeholfen ausgefuhrtes Bild eines Reiters, der auf einem Pferd sa?, dessen Beine so dunn waren, dass sie unter dem Gewicht eigentlich hatten umknicken mussen. »Dieses hier ist nicht besonders gut gemalt«, probierte er sein Gluck. »Die Perspektive ist vollig verzerrt und die Anatomie stimmt nicht. Ist das die Falschung?«

»Die Sache mit Betrugern«, sagte Crowe und begutachtete das Gemalde, »ist die, dass die Ungeschickten von ihnen ziemlich schnell erwischt werden. Aber haufig bringen Betruger bessere Werke zustande als das Original. »Du hast recht, was die schlechte Ausfuhrung des Gemaldes anbelangt. Aber es ist echt.« Er ging hinuber zu einer dramatischen Kustenszene, in welcher sich die Wellen am Strand brachen, wahrend im Hintergrund ein Schiff in den Wogen schwankte. »Das ist die Falschung.«

Sherlock starrte auf das Bild. »Woher wissen Sie das?«

»Wie einige andere Gemalde deines Onkels stammt auch dieses von Claude Joseph Vernet. Dein Onkel besitzt au?erdem auch ein paar Bilder von Vernets Sohn Horace. Der altere Vernet war bekannt fur seine Kustenlandschaften. Dieses hier ist ein Bild von Dover Harbour. Aber Vernet ist niemals in England gewesen. Die Details sind so realistisch, dass es offensichtlich nach dem Leben gemalt worden ist. Deswegen ist es erklarterma?en kein Vernet. Es ist eine Falschung in seinem Stil.«

»Das konnte ich nicht wissen«, protestierte Sherlock. »Ich habe nie was uber Vernet gelernt. Und uber andere Maler auch nicht.«

»Und was sagt dir das?«, fragte Crowe. Er blickte auf Sherlock hinab. Seine kobaltblauen Augen verschwanden fast hinter seiner faltigen Haut.

Sherlock dachte einen Moment lang nach. »Ich wei? nicht.«

»Dass man zwar alles, was man will, ableiten kann, aber dass es ohne Wissen zwecklos ist. Dein Gehirn ist wie ein Spinnrad, das sich so lange end- und ziellos dreht, bis es mit Faden gespeist wird und Garn zu produzieren beginnt. Informationen sind die Grundlage allen rationalen Denkens. Finde sie heraus. Sammle sie gewissenhaft. Stopf die Speicherkammern deines Gehirns mit so vielen Fakten wie nur moglich voll. Versuche nicht, zwischen wichtigen und unwichtigen Fakten zu unterscheiden: Potentiell sind alle wichtig.«

Sherlock dachte einen Moment lang nach. Er hatte sich darauf gefasst gemacht, beschamt oder verletzt zu werden. Aber in Crowes Stimme lag keine Spur von Kritik, und er hatte gute Argumente.

»Ich verstehe«, sagte er nickend.

»Das glaube ich dir«, erwiderte Crowe. »Lass uns einen Spaziergang machen und sehen, was wir so finden.«

Crowe nahm seinen Hut und Stock von der Garderobe neben der Tur, und zusammen traten sie in den strahlenden Sommersonnenschein hinaus. Crowe uberquerte den Rasen vor dem Haus und steuerte auf die Baume zu, wahrend er uber die verschiedenen Wolkenformen am Himmel redete und wie sie mit der jeweiligen Wetterlage zusammenhingen.

»Hast du dir jemals Gedanken uber Fuchse oder Hasen gemacht?«, fragte er nach einer Weile.

»Nicht speziell«, antwortete Sherlock, der sich fragte, wohin dieser Themenwechsel wohl fuhren wurde.

»Sagen wir mal, du hattest hundert Fuchse und hundert Hasen in einem Wald. Und der Wald ist von einem Zaun umgeben, so dass kein Tier heraus kann. Was wurde passieren?«

Sherlock uberlegte einen Moment. »Die Hasen wurden Junge bekommen, die Fuchse wurden Junge bekommen und die Fuchse wurden die Hasen fressen.«

»Alle Hasen?«

»Die meisten. Dann waren die restlichen Hasen schwerer zu finden, und vermutlich wurden sie anfangen, sich zu verstecken.«

»Was wurde dann passieren?«

Unsicher, wohin das Ganze fuhren wurde, zuckte Sherlock mit den Schultern.

»Ich vermute, infolge des Nahrungsmangels wurden die Fuchse zu sterben beginnen.«

»Und die Hasen?«

»Die wurden weiterhin Gras fressen, sich verstecken und fortpflanzen, so dass sich ihre Zahl wieder erhohen wurde.« Auf einmal verstand Sherlock. Es war, als ware in seinem Kopf ein Leuchtfeuer explodiert. »Und die Zahl der Fuchse wurde wieder steigen, da sie mehr Hasen fangen, ordentlich was zu fressen kriegen und sich vermehrt fortpflanzen. Und vielleicht wurden sich die Fuchse so vermehren, dass sie mehr und mehr Hasen fressen, bis die Hasen erneut weniger werden.«

»Und dieser Prozess wurde sich stetig wiederholen. Wie zwei aufeinander folgende ansteigende und

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