anzusehen, und versuchte zu entscheiden, welches am amateurhaftesten ausgefuhrt worden war. Nach einer Weile trat ein Dienstmadchen mit einem Silbertablett zu ihm, auf dem ein Briefumschlag lag.

»Master Holmes«, sagte sie leise. »Dieser Brief kam heute Morgen fur Sie an.«

Sherlock schnappte sich den Umschlag vom Tablett. »Fur mich? Danke!«

Sie lachelte und verschwand. Sherlock blickte sich um – halb in der Erwartung, MrsEglantine wurde gleich auftauchen, um ihm den Brief aus der Hand zu rei?en. Aber er war allein in der Halle. Der Umschlag war tatsachlich an »Master Sherlock Holmes, Holmes Manor, Farnham« adressiert. Und abgestempelt worden war er in Whitehall. Mycroft! Er war von Mycroft! Ungeduldig fuhr er mit dem Fingernagel unter die Wachsversiegelung und zog die Umschlagklappe nach oben.

Im Umschlag steckte ein einzelner Briefbogen. Oben war Mycrofts Londoner Adresse aufgedruckt und darunter hatte sein Bruder in seiner ganz eigenen eleganten Schrift folgende Zeilen geschrieben:

Mein lieber Sherlock,

ich hoffe, dass, wenn Du diesen Brief in Handen haltst, es Dir gut geht. Zweifellos wirst Du Dich im Moment verlassen und alleine fuhlen und deswegen verargert sein. Bitte glaube mir, dass ich Deine Gefuhle verstehen kann und sie respektiere. Ich wunschte nur, es gabe etwas, womit ich Dir helfen konnte.

Es gibt etwas!, dachte Sherlock. Du konntest mich zu dir holen, damit ich die Ferien bei dir verbringen kann! Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, verwarf er ihn auch schon wieder. Mycroft hatte seine eigenen Probleme. Er hatte eine Arbeit, die ihm viel abverlangte, und daruber hinaus fungierte er wahrend der Abwesenheit ihres Vaters als De-Facto-Familienoberhaupt. In dieser Eigenschaft hatte er sich nicht nur um ihre Mutter zu kummern, deren Gesundheit angeschlagen war, sondern auch um ihre Schwester, die ihre eigenen Probleme hatte. Nein, Mycroft hatte fur sie beide die beste Entscheidung getroffen. Manchmal, dachte Sherlock, sind die einzigen Optionen, die sich einem bieten, eben allesamt unfair, und man muss eher die wahlen, die die negativen Konsequenzen minimiert, als jene, die die guten maximiert. Das fuhlte sich verdachtig nach absonderlicher Erwachsenen-Denkweise an, und die sich aufdrangende Schlussfolgerung, dass so das Erwachsenenleben aussehen wurde, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Jeder Brief, den Du mir an oben genannte Adresse schickst, wird mich innerhalb eines Tages erreichen, und ich verspreche, dass ich unverzuglich auf jede Deiner Bitten eingehen werde – mit Ausnahme von der naheliegenden, dass ich Dich wahrend der Ferien zu mir nach London hole.

Ah, wie immer ist er mir einen Schritt voraus, dachte Sherlock. Schon immer hatte sein Bruder eine verbluffende Fahigkeit an den Tag gelegt, wenn es darum ging, zu prophezeien, was Sherlock im nachsten Moment sagen wollte. Er las weiter:

Ich habe angeregt, dass Onkel Sherrinford einen Lehrer engagiert, um Deine Studien zu fordern. Ich habe positive Auskunfte uber einen Mann namens Amyus Crowe erhalten, und ich habe den Namen gegenuber Sherrinford erwahnt. Ich denke, Du solltest MrCrowe Dein Vertrauen schenken. Wie ich gehort habe, hat er auch eine Tochter. Dadurch hast Du vielleicht die Moglichkeit, in der Gegend gleichaltrige Freunde zu finden.

Da sieht man mal, wie viel du wirklich wei?t, dachte Sherlock. Ich habe bereits angefangen, meine eigenen Freunde zu finden.

Abschlie?end gemahne ich Dich, daran zu denken, dass dies blo? eine vorubergehende Situation ist. Die Dinge werden sich andern, so wie sie es immer tun. Mache das Beste aus Deiner jetzigen Lage. Wie der persische Dichter Omar Khayyam schrieb: »Hier mit einem Laib Brot unter dem Ast, einem Flaschchen Wein, einem Buch mit Versen – und mit Dir, die Du neben mir singst in der Wildnis – Und die Wildnis wird zum Paradies …«

Sherlock las die Worte und versuchte, hinter ihre Bedeutung zu kommen. Er war fluchtig vertraut mit den Versen von Omar Khayyam, dank eines Gedichtbandes mit dem Titel Rubaiyat Of Omar Khayyam, den dessen englischer Ubersetzer Richard Burton der Schulbibliothek gestiftet hatte. Der allgemeine Tenor der diversen Vierzeiler schien zu besagen, dass sich die Rader des Schicksals immer weiter drehten, ohne dass sie sich stoppen lie?en, und nur die Mitmenschlichkeit allein konnte auf dem Lebensweg fur etwas Freude sorgen.

Der ungewohnliche Vierzeiler, den Mycroft zitiert hatte, bedeutete, dass Sherlock sozusagen seinen eigenen »Brotlaib« suchen sollte. Etwas Einfaches, das ihm helfen wurde, die vor ihm liegenden Tage zu uberstehen. Hatte Mycroft irgendetwas Bestimmtes im Kopf gehabt, oder handelte es sich dabei lediglich um einen allgemeinen Ratschlag? Sherlock war versucht, sofort zuruckzuschreiben, um seinen Bruder nach weiteren Einzelheiten zu fragen. Aber er kannte Mycroft gut genug, um zu wissen, dass sein Bruder selten tiefer ins Detail ging, wenn er sich zu einer Sache bereits einmal geau?ert hatte. Sherlock wandte seine Aufmerksamkeit den letzten Zeilen zu.

Ein letzter Rat noch: Sei vor MrsEglantine auf der Hut! Ungeachtet ihrer Vertrauensstellung ist sie keine Freundin der Holmes-Familie.

Ich wei?, Du wirst diesen Brief nicht unachtsam herumliegen lassen, sondern an einem sicheren Ort verwahren.

Dein Dich liebender Bruder

Mycroft

Sherlock durchfuhr ein Frosteln, als er die letzten Zeilen las. Fur Mycroft war es absolut untypisch, eine so offensichtliche Warnung auszusprechen. Woraus sich folgende Frage ergab: Warum hatte er sich so eindeutig geau?ert? War es, weil Mycroft wollte, dass Sherlock keinerlei Zweifel bezuglich seiner Meinung uber MrsEglantine hegte? Mycrofts letzter Vorschlag – nein, seine letzte Anweisung –, den Brief nicht rumliegen zu lassen, war eine verschlusselte Botschaft und bedeutete nichts anderes als: Zerstor ihn! Das sah Mycroft schon ahnlicher.

Er schob den Brief wieder zuruck in den Umschlag. Aber es steckte noch etwas anderes darin. Ein weiteres Stuck Papier. Sherlock zog es heraus und starrte unversehens auf eine postalische Zahlungsanweisung in Hohe von funf Schillingen. Funf Schilling! Er hatte Angst davor gehabt, das Thema Taschengeld gegenuber seinem Onkel und seiner Tante anzusprechen. Aber wie es aussah, wurde sich Mycroft darum kummern.

Sherlock stellte fest, dass er von dem Brief hin- und hergerissen war. Auf der einen Seite fuhlte er sich aufgemuntert und frohlicher, nun da Mycroft Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, und er wusste, dass Amyus Crowe die Zustimmung seines Bruders fand. Andererseits jedoch war er jetzt zutiefst besorgt uber etwas, das er zuvor lediglich als eine dumpfe Besorgnis wahrgenommen hatte: namlich MrsEglantine und ihre offensichtliche Abneigung gegen ihn.

»Interessanter Brief?«

Die tiefe Stimme war warm und hatte einen Akzent, den Sherlock nicht einordnen konnte. Er drehte sich um, faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.

Der Mann, der unmittelbar drau?en vor der offenen Eingangstur stand, war gro? und hatte einen machtigen Brustkorb. Sein zu allen Seiten abstehender widerspenstiger Haarschopf war schlohwei? und seine Haut hing in kleinen Faltchen am Hals herab. Aber die Art, wie er seinen Korper hielt, strafte sein offensichtliches Alter Lugen. Das ledrige, braungebrannte Gesicht lie? darauf schlie?en, dass er sich lange in der Natur und unter einer hei?eren Sonne aufgehalten hatte, als man sie in England gewohnt war. Was seinen beigefarbenen Anzug betraf, so waren Sherlock Schnitt und Material vollkommen unbekannt. In seiner Hand hielt der Fremde einen breitkrempigen Hut.

»Von meinem Bruder Mycroft«, antwortete Sherlock, nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Sollte er nach einem Hausmadchen rufen oder den Mann hineinbitten?

»Ah, Mycroft Holmes«, sagte der Mann, »Wie ich sehe, haben wir beide gemeinsame Bekannte. Und da ich nicht glaube, dass du alt genug bist, um Sherrinford Holmes zu sein, habe ich stattdessen vermutlich den jungen Sherlock Holmes vor mir.«

»Sherlock Scott Holmes, zu Ihren Diensten«, sagte Sherlock und straffte sich. Er sah sich um. »Ahm, wurde es Ihnen etwas ausmachen hereinzukommen, Mr …?«

»MrAmyus Crowe«, antwortete der Mann. »Ehemals aus Albuquerque im Staate New Mexico, Teil der Vereinigten Staaten von Amerika. Und du bist sehr freundlich.« Er trat ein. »Aber wahrscheinlich hast du meine Identitat bereits erraten. Ich bin hier auf Empfehlung deines Bruders, und er wurde dir sicher nicht schreiben, ohne das zu erwahnen, nicht wahr?«

»Ich sollte wohl nach einem Hausmadchen suchen oder …«

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