Strahlen der tief stehenden Abendsonne trafen ihn wie ein Keulenschlag. Geblendet beugte er sich vornuber, stutzte die Hande auf die Knie und sog gierig die warme Luft ein. Gerausche, die von den Baumen zuvor fast bis zur Unhorbarkeit gedampft worden waren, drangen nun plotzlich mit lauter Eindringlichkeit auf ihn ein. Irgendwo wurde Holz gehackt, und aus einer anderen Richtung drang Gesang an sein Ohr, der zusatzlich noch von entferntem Schweinegrunzen untermalt wurde.

Als er aufsah, nahm er in der Ferne eine Gestalt wahr, die auf einem Pferd sa?. Reiter und Ross befanden sich knapp jenseits des Zufahrtsweges, der in Nahe der gegenuberliegenden Grenzmauer zur Stra?e fuhrte. Das Pferd stand unbeweglich da und blickte in Sherlocks Richtung, was so aussah, als wurde auch dessen Reiter ihn beobachten. Sherlock blinzelte und hob langsam eine Hand, um seine Augen vor der Sonne abzuschirmen. Aber in dem Moment, als die Hand seinen Blick versperrte, setzte sich das Pferd in Bewegung, und der Reiter war verschwunden.

Sherlock schob den Gedanken an die Gestalt beiseite und machte sich auf die Suche nach einer Schubkarre. In der Nahe des Huhnerstalls wurde er schlie?lich fundig. So schnell es ihm im Wald moglich war, schob er die Karre zu der Stelle zuruck, an der die Leiche lag. Als er ankam, durchsuchte Crowe gerade die Taschen des Mannes.

»Keine Hinweise auf seine Identitat«, erklarte Crowe, ohne sich umzublicken. Seine Stimme klang durch das Taschentuch gedampft. »Kennst du ihn?«

Sherlock starrte auf das geschwollene Gesicht und spurte, wie sich ihm der Magen verkrampfte. Er versuchte, hinter den Beulen und roten Flecken die Gesichtszuge zu erkennen. »Ich denke nicht«, sagte er schlie?lich. »Aber es ist schwer zu sagen.«

»Sieh dir seine Ohren an«, erwiderte Crowe. »Menschliche Ohren sind ziemlich charakteristisch. Manche haben keine Ohrlappchen, bei anderen sind sie eingekerbt oder sehen aus wie perfekt geformte Muscheln. Das ist eine einfache Methode, Menschen voneinander zu unterscheiden. Vor allem, wenn sie versuchen sich zu tarnen.«

Sherlock fand, dass der tot auf dem Boden liegende Mann nur schwerlich in der Situation war, sich zu verbergen. Aber er verbiss sich einen entsprechenden Kommentar und konzentrierte sich auf das linke Ohr des Opfers. Er bemerkte, dass es auf halber Hohe eine deutliche Kerbe aufwies, vielleicht die Folgen einer Messerverletzung wahrend eines Kampfes oder eines selbstverschuldeten Malheurs mit der Axt beim Holzhacken. Der Gedanke rief etwas in ihm wach: Er hatte den Mann schon einmal gesehen. Nur wo?

»Ich glaube, er arbeitet fur meinen Onkel«, sagte er schlie?lich. »Ich habe gesehen, wie er mit MrsEglantine und einem anderen Bediensteten ein paar Sachen mit der Kutsche vom Bahnhof abholte.«

»Wann war das?«, fragte Crowe.

»Heute morgen erst«, antwortete Sherlock stirnrunzelnd. »Aber er sieht aus, als ware er schon seit Tagen krank gewesen. Und als ich ihn heute Morgen gesehen habe, war mit ihm noch alles in Ordnung.«

»Interessant«, murmelte Crowe. »Na schon. Lass ihn uns auf die Schubkarre verfrachten und zum Haus zuruckschieben. Eure sauertopfisch dreinblickende Hauswirtschafterin kann dann nach dem hiesigen Knochensager schicken.«

»Knochensager?«, fragte Sherlock verdutzt.

»Arzt«, erklarte Crowe lachend. »Hast du diese Redewendung noch nie gehort?«

Sherlock schuttelte den Kopf.

»Sie werden so genannt, weil das alles war, was sie vor noch nicht allzu langer Zeit konnten: Wenn ein Unfall passierte, amputierten sie einfach Finger oder Zehen, Hande oder Fu?e, Arme oder Beine.« Crowe schnaubte verachtlich. »Erfreulicherweise hat sich die Zivilisation ein wenig weiterentwickelt.« Er beugte sich uber die Leiche, richtete sich dann wieder auf und blickte zu Sherlock hinuber. »Denk dran, nicht seine Haut zu beruhren!«, warnte er. »Nur die Kleidung. Besser kein Risiko eingehen.«

Fur den Ruckweg durch den Wald benotigten sie beinahe eine halbe Stunde. Amyus Crowe schob die Schubkarre mit dem toten Korper, der auf der Ladeflache unruhig hin und her ruckelte. Sherlock lief vorweg und entfernte auf dem Boden liegende Steine oder Aste, die die Rader hatten blockieren oder Crowe ins Stolpern bringen konnen. Immer wenn die Schubkarre uber eine Bodenwelle fuhr, schwangen die Hande des Toten auf und ab, was aussah, als wollte er versuchen, sich aufzurichten. Sherlock bemuhte sich, nicht hinzusehen.

Als sie in Sichtweite des Hauses kamen, ging Sherlocks Atem in kurzen Sto?en, und er spurte, wie seine Muskeln vor Erschopfung brannten. Irgendjemand musste sie schon kommen gesehen haben, denn MrsEglantine schritt ihnen bereits entgegen. Sie trafen sich, als Sherlock und Crowe gerade die letzten Baume hinter sich gelassen hatten.

»Sie werden keinesfalls«, verkundete sie steif, »dieses Ding irgendwo in die Nahe des Hauses bringen.«

»Dieses Ding«, wies Crowe sie ruhig zurecht, »ist ein Arbeiter Ihres gnadigen Herren. Ich wei?, er ist tot. Aber trotzdem glaube ich, dass er ein bisschen Respekt verdient.«

MrsEglantine verschrankte die Arme. »Arbeiter oder nicht«, sagte sie. »Ich werde nicht zulassen, dass er in die Nahe des Hauses kommt. Sehen Sie ihn sich doch an. Ich habe keine Ahnung, ob es die Pest oder die Pocken sind. Aber die Leiche muss verbrannt werden.«

»Da stimme ich Ihnen zu«, erwiderte Crowe. »Doch ich mochte, dass sich das zuerst ein Arzt ansieht. Und naturlich mussen seine Angehorigen benachrichtigt werden. Also seien Sie bitte so nett, und schicken Sie nach einem Arzt aus der Stadt. Gibt es irgendwo einen Ort, wo wir die Leiche in der Zwischenzeit lagern konnen?«

MrsEglantine schnaubte. »Es gibt einen Schuppen, dort weiter unten beim Misthaufen«, antwortete sie. »Der wird nicht mehr genutzt. Bringen Sie ihn dort rein.« Sie schwieg einen Moment. »Wir konnen den Schuppen danach abbrennen«, fugte sie hinzu. Dann drehte sie sich um und ging ins Haus zuruck.

»Was fur eine liebreizende Dame«, murmelte Crowe.

Sherlock fuhrte ihn ums Haus herum zu der Stelle, wo der Viehmist aufgehauft wurde, hauptsachlich um von dort aus als Dunger auf den Gemusefeldern und in den Obstgarten verteilt zu werden. Der feucht-warme und ekelhafte Gestank drang Sherlock trotz des brandygetrankten Taschentuchs in Mund und Nase und erfullte seinen Rachen mit einem widerlichen Aroma.

Der Schuppen war verfallen, und Sherlock und Crowe mussten erst stapelweise zerbrochene Holzbretter und rostige Farmgerate entfernen, bevor sie die Leiche hineinbugsieren konnten.

Die durch Locher in Dach und Wanden sickernden Sonnenstrahlen warfen handtellergro?e Lichtflecken auf die Leiche, lie?en gnadigerweise jedoch den restlichen Korper im Dunkeln. Sherlock kam der Tote, dessen Arme und Beine schlaff uber die Rander der Schubkarre hinabbaumelten, wie eine fratzenhafte lebensgro?e Puppe vor, die achtlos fortgeworfen worden war.

»Es gibt fur uns keinen Grund hierzubleiben«, sagte Crowe und nahm sich beim Rausgehen das Taschentuch vom Gesicht. »Geh zuruck zum Haus. Bitte eines der Hausmadchen, dir ein hei?es Bad einzulassen. Schrubb dich von Kopf bis Fu? mit Karbolseife ab. Wechsele die Kleidung und leg die alten Sachen am besten zum Verbrennen nach drau?en, wenn du noch was zum Wechseln hast. Andernfalls lass sie vom Hausmadchen zum Waschen bringen.«

Nach ausgiebigem Geschrubbe mit dunkelroter Karbolseife kam Sherlock eine Stunde spater mit geroteter und rau gescheuerter Haut wieder aus dem Bad und zog seine Ersatzkleidung an. Beim Hinausgehen konnte er immer noch den teerartigen Geruch wahrnehmen, den die Seife auf seiner Haut hinterlassen hatte und der ihm beharrlich das Wasser in die Augen trieb. Als er um die Hausecke kam und sich die hartnackigen Tranen aus den Augen wischte, sah er Amyus Crowe zusammen mit einem korpulenten Mann im schwarzen Gehrock vor dem baufalligen Schuppen stehen. Die beiden waren in ein Gesprach vertieft.

Das musste der Arzt sein. Beim Naherkommen konnte er die schrille, arrogante Stimme des Doktors horen: »Wir mussen die Behorden informieren. Das ist schon die zweite Leiche, die wir mit ahnlichen Symptomen aufgefunden haben. Wenn das wirklich die Pest ist, sind sofortige Vorkehrungen zu treffen. Der Markt morgen wird abgesagt und samtliche offentlichen Gebaude mussen geschlossen werden, um eine Ausbreitung der Krankheit zu verhindern.

Ach, du lieber Himmel … vielleicht mussen wir sogar samtliche Stra?en in die Stadt sperren!«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Amyus Crowe in seiner langsamen, tiefen Stimme. »Bisher haben wir nur zwei Leichen. Zwei Regentropfen machen noch keinen Regenguss.«

»Aber wenn Sie erst warten, bis der Regen fallt, ehe Sie den Schirm aufspannen, werden Sie durchnasst sein«, erwiderte der Doktor.

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