Mit schepperndem Gerausch spannten sich nacheinander die Waggonverbindungen, ehe die Wagen aus dem Bahnhof gezogen wurden.

»Ist das der Zug nach London oder der Zug aus London?«, fragte Sherlock.

Matty blickte in beide Richtungen das Gleis entlang. »Nach London«, antwortete er schlie?lich. »Von hier geht die Linie nach Tongham, Ash, Ash Wharf und dann weiter nach Brookwood und Guildford. Von da aus kannst du einen Zug direkt nach London nehmen.«

London. Sherlock starrte die Bahnschienen entlang, wo der Zug gerade um eine Kurve fuhr und verschwand. Am Ende seiner Fahrt hatte er sich seinem Bruder Mycroft bis auf eine oder zwei Meilen genahert. Mycroft wurde dann wahrscheinlich noch in seinem Buro sitzen und Dokumente studieren oder uber einer Weltkarte bruten, die dort, wo das Britische Empire seinen Fu? hingesetzt hatte, rot markiert war. Fur einen Moment war das Verlangen, hinter dem Zug herzulaufen und aufzuspringen, fast uberwaltigend.

Er vermisste seinen Bruder. Er vermisste seinen Vater, seine Mutter und seine Schwester. Er vermisste sogar seine Schule. Wenn auch nicht ganz so sehr.

»Was ist eigentlich in Brookwood los?«, fragte er, vor allem, um seine Gedanken auf ein anderes Thema zu lenken.

Ein Zittern schien durch Mattys Korper zu gehen. »Frag nicht«, erwiderte er.

»Nein, mal im Ernst.« Sherlocks Interesse war auf einmal geweckt. »Wurde es sich lohnen, wenn wir da mal hinfahren?«

Matty schuttelte den Kopf. »Tagsuber gibt es dort nichts Interessantes zu entdecken«, erklarte er entschieden. »Und nachts wurdest du nicht dort sein wollen, glaub mir.«

»Ich dachte, wir konnten uns Fahrrader besorgen.« Sherlock lie? nicht locker. »Mal rauskommen und ein bisschen durch die Gegend fahren. Ein paar Dorfer und Stadte angucken.«

Matty blickte ihn stirnrunzelnd an. »Warum sollten wir so was tun wollen?«

»Aus Neugierde?«, schlug Sherlock vor. »Fragst du dich nie, wie die Dinge wohl sind, bevor du sie zu Gesicht bekommst?«

»Stadte sehen wie Stadte und Dorfer wie Dorfer aus«, behauptete Matty. »Und die Leute sehen uberall gleich aus. So ist das Leben nun mal. Komm, lass uns gehen.«

Er fuhrte Sherlock die gusseisernen Stufen zum Bahnsteig hinunter, auf dem die Fahrgaste ausgestiegen waren. Von dort gingen sie auf die Stra?e hinaus.

Am Stra?enrand hatte ein Pferdekarren haltgemacht. Drei Manner luden mit Stroh isolierte Eiskisten auf, die mit dem Zug gekommen waren.

Einer der Manner, ein wieselgesichtiger Kerl mit gelben Zahnen, starrte die Jungen an, als sie an ihnen vorbeigingen.

»Junger Master Sherlock«, horten sie eine schneidende Stimme hinter sich. »Ich bin enttauscht, Sie mit dreckigen Gassenjungen verkehren zu sehen. Ihr Bruder ware zutiefst beschamt.«

Obwohl er nicht wusste, wer ihn da ansprach, errotete Sherlock sogleich und drehte sich um. Nur wenige Meter vor sich sah er die Haushalterin MrsEglantine stehen. Zwei Manner, die Sherlock von Holmes Manor her wiedererkannte, luden gerade eine Reihe von Lebensmittelkisten auf den Karren, der von einem gro?en und offensichtlich gutmutigen Pferd gezogen wurde. Die Kisten waren hochstwahrscheinlich mit dem Zug gebracht worden.

»Gassenjunge?« Sherlock sah sich um. Die einzige andere Person, die anwesend war, war Matty. Mit wachsamem Blick beobachtete er MrsEglantine, offensichtlich bereit, sofort loszurennen, sobald die Dinge schief liefen. »Wenn Sie ihn fur einen Gassenjungen halten, sollten Sie haufiger mal aus dem Haus gehen, MrsEglantine«, sagte Sherlock kuhn und argerte sich uber ihre Einstellung.

Die Haushalterin presste die Lippen zusammen. »Der Herr wunscht Sie zu sprechen, wenn Sie zuruck sind«, sagte sie, als die beiden Manner hinter ihr die letzte Kiste auf den Karren hievten. »Bitte lassen Sie ihn nicht warten.« Sie wandte sich ab und kletterte nach vorn auf den Kutschbock. »Das Mittagessen wird serviert, ob Sie nun anwesend sind oder nicht«, fugte sie hinzu, wahrend sich einer der Manner neben sie setzte und der andere auf die Ruckseite kletterte.

»Und Ihr Freund da ist nicht eingeladen.«

Die Pferde trotteten los und zogen den Karren hinter sich her. MrsEglantine wandte sich nicht mehr nach Sherlock um, sondern blickte starr geradeaus. Der Mann, der hinten auf dem Karren Platz genommen hatte, sah Sherlock an, nickte gefallig und fuhrte gru?end eine Hand zur Kappe. Ihm fehlten einige Zahne, und sein Ohr zierte eine Kerbe, die aussah, als hatte er sie sich mit einem Messer, einer Axt oder Ahnlichem beigebracht.

»Wer war das?«, fragte Matty und stellte sich neben Sherlock.

»Das war MrsEglantine. Sie ist Wirtschafterin in dem Haus, in dem ich wohne.« Er machte eine Pause. »Sie mag mich nicht.«

»Schatze mal, sie mag niemanden«, stellte Matty fest.

»Ich gehe besser«, sagte Sherlock. »Wenn ich schnell bin, brauche ich eine halbe Stunde zuruck, und sie hat es ernst gemeint mit dem Essen. Wenn ich es verpasse, laufe ich bis zum Abendessen hungrig herum.« Er drehte sich um und blickte Matty an. »Sehen wir uns morgen?«

Matty nickte. »Wieder hier? Gegen zehn?«

Sherlock brauchte fast eine Dreiviertelstunde, um zuruck nach Holmes Manor zu gehen, und er kam gerade an, als der Gong zum Essen ertonte. Er burstete den grobsten Staub aus der Kleidung und betrat das Esszimmer. Im Gegensatz zu seinen sonstigen Gepflogenheiten hatte Sherrinford Holmes, der gerade in einer Broschure las, am Kopfende des Tisches Platz genommen. Seine Frau Anna wuselte umher, kontrollierte das Besteck und redete mit sich selbst. MrsEglantine stand hinter Onkel Sherrinford und reagierte nicht, als Sherlock eintrat. Aber die Art, wie sie es betont vermied, ihn anzusehen, zeigte ihm, dass sie von seiner Ankunft Notiz genommen hatte.

»Guten Tag, Onkel Sherrinford, Tante Anna«, sagte Sherlock hoflich, als er sich setzte.

Sherrinford nickte in Sherlocks Richtung, ohne von seiner Broschure aufzusehen. Anna schaffte es, so etwas wie einen Gru? in ihren fortwahrenden Monolog einzubauen.

Eine Magd kam mit einer Suppenterrine herein. Unter der Aufsicht von MrsEglantine fullte sie die Suppe in Schusseln. Sherlock beobachtete alles ohne gro?es Interesse, bis Sherrinford seine Broschure niederlegte, sich vorbeugte und ihn ansprach. »Junger Mann, ich bekomme nach dem Mittagessen Besuch, und ich ware dir sehr verbunden, wenn du anwesend warst. Dein Bruder hat mich dazu angehalten, sicherzustellen, dass du weiter an deiner Bildung arbeitest, wahrend du nicht in der Schule weilst. Au?erdem deutete er an, dass er wunscht, du mogest dich von Schwierigkeiten fernhalten. Aus diesem Grund habe ich einen Lehrer angestellt. Er wird sich deiner fur drei Stunden am Tag annehmen. Au?er an Sonntagen, wo ich von dir erwarte, mit dem Rest der Familie zur Kirche zu gehen. Sein Name lautet Amyus Crowe.« Er schniefte. »MrCrowe ist zu Besuch in unserem Land und kommt aus den Kolonien, glaube ich. Aber nichtsdestotrotz hat er sich als gelehrter und urteilsfahiger Mann erwiesen. Sein Latein und Griechisch sind ausgezeichnet. Ich erwarte von dir, dass du seinen Anweisungen Folge leistest.«

Sherlock spurte, wie sein Gesicht plotzlich vor Zorn brannte. Als er auf Holmes Manor angekommen war, hatte er zunachst nur sich endlos hinziehende Tage vor sich liegen sehen. Leere und ode Tage. Und verzweifelt hatte er sich gefragt, was er mit seiner Zeit anfangen sollte. Aber dann hatte ihm die Begegnung mit Matty Arnatt eine ganze Reihe neuer Moglichkeiten eroffnet.

Doch jetzt sah es so aus, als wurde sich das alles wieder in Luft auflosen.

»Danke, Onkel Sherrinford«, murmelte er und versuchte, dankbar auszusehen. Aber sein Gesicht wollte einfach nicht seinen Befehlen gehorchen. MrsEglantine legte ein dezentes Lacheln an den Tag, ohne Sherlocks Blick zu begegnen.

Der Suppe folgte eine Fleischpastete mit dickem Teigmantel und So?e, woran sich wiederum ein »Summer- Pudding« anschloss. Sherlock a?, aber er schmeckte das Essen kaum. Seine Gedanken kreisten bestandig um die Tatsache, dass sich seine Ferien gerade in eine personliche Holle verwandelten. Und er konnte es kaum erwarten, endlich wieder in die vorhersehbare Stabilitat der Schule zuruckzukehren.

Nach dem Mittagessen bat Sherlock, dass man ihn entschuldigte.

»Geh nicht zu weit fort«, ermahnte ihn Sherrinford. »Denk an meinen Besucher.«

Sherlock lungerte in der Eingangshalle herum, wahrend die Familie getrennte Wege ging. Sherrinford begab sich in die Bibliothek und Tante Anna ins Gewachshaus. Sherlock vertrieb sich die Zeit damit, sich die Gemalde

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