dem es sich um eine Bahnlinie handeln mochte, die parallel zur Stra?e unten am Fu? des Abhangs verlief. Er setzte sich wieder auf seinen Platz, schloss die Augen und versuchte, nicht daran zu denken, was ihn erwartete.

Nach einer Weile spurte er, wie die Kutsche bergab fuhr, und kurz darauf bogen sie diverse Male ab. Das klappernde Gerausch, das die Pferdehufe auf den Pflastersteinen machten, wich dumpfen Tritten, als sie plotzlich auf hartgestampfter Erde weiterfuhren.

Er kniff die Augen noch fester zu, in der irrationalen Hoffnung, so den Moment hinauszuzogern, an dem er akzeptieren musste, was passiert war.

Die Kutsche hielt auf Kiesgrund. Vogelgezwitscher und der Klang des Windes, der durch die Baumkronen wehte, erfullten die Kutsche. Sherlock konnte Schritte horen, die sich knirschend naherten.

»Sherlock«, sagte Mycroft sanft. »Zeit, sich der Realitat zu stellen.«

Er offnete die Augen.

Die Kutsche hatte vor dem Eingang eines riesigen Hauses gehalten. Vor ihnen ragte ein zweistockiges Gebaude aus rotem Backstein in die Hohe, und den schmalen Fenstern nach zu schlie?en, die die Flache der grauen Dachziegel durchbrachen, musste es daruber hinaus auch im Dachgeschoss noch eine ganze Reihe von Raumen geben.

Ein Diener war im Begriff, Mycroft die Tur zu offnen. Sherlock glitt hinuber und folgte seinem Bruder nach drau?en.

Oben auf den drei breiten Steinstufen, die zum Saulenvorbau am Haupteingang hinauffuhrten, stand eine ganz in Schwarz gekleidete Frau im tiefen Schatten. Ihr hageres Gesicht wirkte verharmt. Mit ihren gespitzten Lippen und den zusammengekniffenen Augen sah sie aus, als hatte jemand ihren Morgentee mit Essig vertauscht. »Willkommen auf Holmes Manor. Ich bin MrsEglantine«, sagte sie mit trocken-sproder Stimme. »Ich bin hier die Hauswirtschafterin.« Sie fixierte Mycroft. »MrHolmes erwartet Sie in der Bibliothek, wann immer Sie bereit sind.« Darauf glitt ihr Blick zu Sherlock. »Und der Diener wird Ihr … Gepack … auf Ihr Zimmer bringen, Master Holmes. Der Nachmittagstee wird um drei Uhr serviert. Bitte seien Sie so gut und bleiben Sie bis dahin auf Ihrem Zimmer.«

»Ich werde nicht zum Tee bleiben«, erklarte Mycroft ruhig. »Ich muss leider nach London zuruck.« Er wandte sich Sherlock zu, und in seinen Augen spiegelten sich teils Mitleid, teils bruderliche Liebe, doch war auch eine stumme Warnung in ihnen zu lesen. »Pass auf dich auf, Sherlock«, sagte er. »Ich komme naturlich am Ende der Ferien zuruck, um dich wieder zur Schule zu bringen. Und wenn ich kann, besuche ich dich in der Zwischenzeit. Sei brav, und nutz die Gelegenheit, die Gegend hier kennenzulernen. Soweit ich gehort habe, besitzt Onkel Sherrinford eine au?ergewohnliche Bibliothek. Frag ihn, ob du dir das geballte Wissen, das sie birgt, zu Nutze machen darfst. Ich werde meine Kontaktdaten bei MrsEglantine hinterlassen. Wenn du mich brauchst, schick mir ein Telegramm oder schreib mir einen Brief.« Er streckte seine Hand aus und legte sie trostend auf Sherlocks Schulter.

»Das sind gute Menschen«, sagte er so leise, dass MrsEglantine es nicht horen konnte. »Aber wie alle in der Holmesfamilie haben sie ihre Macken. Sei dir im Klaren daruber und verargere sie nicht. Schreib mir, wenn du Zeit hast. Und denk daran: Das ist nicht das Ende deines Lebens. Es ist nur fur ein paar Monate. Sei tapfer.« Er druckte Sherlocks Schulter.

Sherlock fuhlte einen dicken Klo? der Verargerung und Frustration in seinem Hals aufsteigen und wurgte ihn herunter. Er wollte nicht, dass Mycroft ihm etwas anmerkte, und er wollte nicht, dass seine Zeit auf Holmes Manor mit einem bosen Start begann. Wie auch immer er sich in den nachsten paar Minuten verhalten wurde, es wurde die Atmosphare seines weiteren Aufenthaltes bestimmen.

Er streckte die Hand aus. Mycroft nahm die Hand von Sherlocks Schulter und ergriff sie mit einem freundlichen Lacheln.

»Auf Wiedersehen«, sagte Sherlock so beherrscht, wie er nur konnte. »Liebe Gru?e an Mutter. Und an Charlotte. Und wenn du etwas von Vater horst, lass es mich wissen.«

Mycroft drehte sich um und ging die Stufen zum Eingang empor. MrsEglantine bedachte Sherlock einen Augenblick lang mit ausdruckslosem Blick. Dann wandte sie sich ab und fuhrte Mycroft ins Haus.

Sherlock blickte zuruck und sah, wie der Diener sich abmuhte, den Koffer auf die Schultern zu wuchten. Dann stolperte er an Sherlock vorbei die Stufen hoch, und Sherlock folgte ihm niedergeschlagen.

Der Boden der Eingangshalle war schwarz und wei? gefliest. Von den oberen Stockwerken schwang sich eine mit Verzierungen uberladene Marmortreppe herab, die an einen gefrorenen Wasserfall erinnerte, und an den mit Mahagoni verkleideten Wanden hingen zahlreiche Bilder mit religiosen Szenen, Landschaften und Tieren. Mycroft ging gerade durch eine Tur links von der Treppe, und Sherlock konnte einen fluchtigen Blick in den Raum hineinwerfen. Reihen von in grunem Leder gebundenen Buchern saumten die Wande. Ein dunner, alterer Mann in einem altmodischen schwarzen Anzug erhob sich von einem Stuhl, dessen Polster im Farbton perfekt zur Farbe der Bucher passte. Sein bartiges Gesicht war faltig und blass, die Kopfhaut mit Leberflecken gesprenkelt.

Die Tur schloss sich, als sie sich die Hande schuttelten. Den Koffer auf den Schultern balancierend, ging der Diener uber den gefliesten Boden und steuerte auf die Treppe zu. Sherlock folgte ihm.

MrsEglantine stand auf der untersten Treppenstufe und blickte uber Sherlocks Kopf hinweg auf die geschlossene Tur der Bibliothek.

»Sei dir daruber im Klaren, Kind, dass du hier nicht willkommen bist«, zischte sie, als er an ihr vorbeiging.

2

Sherlock hatte sich ein stilles Platzchen im Wald au?erhalb von Farnham gesucht. Von dort aus konnte er sehen, wie das Gelande vor ihm zu einem Pfad abfiel, der sich wie ein trockenes Flussbett durch das Unterholz schlangelte, bis er au?er Sicht verschwand. Druben auf der anderen Seite der Stadt lugte, an den Hang eines Hugels geschmiegt, eine kleine Burg zwischen den Baumen hervor. Au?er Sherlock war niemand da. Er hatte schon so lange einfach nur still dagesessen, dass sich sogar die Tiere an ihn gewohnt hatten. Hin und wieder raschelte es im hohen Gras, wenn eine Maus vorbeihuschte, und uber ihm am blauen Himmel zogen Habichte trage ihre Kreise. Geduldig warteten sie darauf, dass irgendein kleines Tier dumm genug war, sich auf freies Feld zu begeben.

Hinter ihm fuhr der Wind durch die Blatter der Baume. Er lie? seine Gedanken schweifen und versuchte, weder an die Zukunft noch an die Vergangenheit zu denken. Er wollte einfach nur im Hier und Jetzt leben, solange es irgend ging. Die Vergangenheit schmerzte wie eine Wunde, und die unmittelbare Zukunft gehorte nicht zu den Dingen, die er sich rasch herbeiwunschte. Die einzige Moglichkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen, bestand darin, nicht daruber nachzudenken. Sich einfach nur im Wind treiben zu lassen, wahrend sich die Tiere um ihn herum tummelten.

Er lebte jetzt bereits drei Tage auf Holmes Manor, und die Dinge waren seit seinem ersten Erlebnis keinen Deut besser geworden. Das Schlimmste jedoch war MrsEglantine.

Als allgegenwartiges Schreckgespenst lauerte die Hauswirtschafterin selbst in den abgelegensten Winkeln des Hauses. Wohin auch immer er sich wandte, stets schien sie schon in irgendwelchen dunklen Schatten auf ihn zu warten, um ihn mit ihren runzeligen Auglein zu taxieren. Seit seiner Ankunft hatte sie kaum drei Satze zu ihm gesprochen. Soweit er es beurteilen konnte, erwartete man von ihm nichts anderes, als punktlich zum Fruhstuck, Mittagessen, Nachmittagstee und Abendessen zu erscheinen. Naturlich schweigend und ohne mehr zu essen als unbedingt notig, um sich gleich danach wieder bis zur nachsten Mahlzeit in Luft aufzulosen. Nach diesem Schema wurde sein Leben bis zum Ende der Ferien verlaufen. Bis Mycroft kame, um ihn aus seiner Haft zu erlosen.

Anna und Sherrinford Holmes – seine Tante und sein Onkel – waren normalerweise beim Fruhstuck und Abendessen anwesend. Sherrinford war ebenso gro? wie sein Bruder und trotz seiner schlankeren Statur zweifellos eine dominante Erscheinung. Er hatte markante Wangenknochen und eine nach vorn gewolbte Stirn, die seitlich an den Schlafen einfiel. Im Gegensatz zu seinem buschigen wei?en Bart, der bis auf die Brust herabfiel, war seine Kopfbehaarung so sparlich, dass es fur Sherlock so aussah, als ware jede einzelne Haarstrahne sorgfaltig auf die Kopfhaut gemalt und dann mit einer Schicht Glanzlack uberzogen worden. Zwischen den Mahlzeiten verschwand er entweder in sein Arbeitszimmer oder in die Bibliothek. Den sparlichen Konversationsfetzen nach zu schlie?en, die Sherlock aufgeschnappt hatte, verfasste er dort religiose Broschuren und Predigten fur Gemeindepfarrer aus dem ganzen Land. Der einzig nennenswerte Wortwechsel mit seinem Onkel wahrend der letzten drei Tage hatte beim Mittagessen stattgefunden. Plotzlich hatte Sherrinford von seinem Teller aufgeschaut, Sherlock mit Unheil verkundendem Blick fixiert und dann gefragt: »Wie ist es um deine Seele bestellt, Junge?« Sherlock, mit erhobener

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