»Doch«, erwiderte Mycroft sanft. »Es ist so abgemacht. Onkel Sherrinford und Tante Anna haben zugestimmt, dich den Sommer uber aufzunehmen.«

»Aber ich kenne sie noch nicht einmal!«

»Nichtsdestotrotz gehoren sie zur Familie.«

Mycroft verabschiedete sich vom Direktor, wahrend Sherlock mit ausdrucksloser Miene dastand und die Ungeheuerlichkeit dessen zu erfassen versuchte, was eben geschehen war. Er wurde nicht nach Hause kommen. Weder seinen Vater noch seine Mutter sehen. Keine Erkundungstouren in den umliegenden Feldern und Waldern des Herrensitzes unternehmen, der seit vierzehn Jahren sein Zuhause war. Er wurde nicht in seinem alten Bett im Zimmer unter dem Dach schlafen, in dem er all seine Bucher aufbewahrte.

Nicht in die Kuche schleichen, wo die Kochin ihm ein Stuck Brot mit Marmelade geben wurde, wenn er sie anlachelte. Stattdessen wurde er Wochen mit Menschen verbringen, die er nicht kannte. Sich so ordentlich benehmen wie moglich. In einer Stadt, in einer Gegend, uber die er nichts wusste. Allein. Die ganze Zeit, bis er wieder in die Schule ging.

Wie sollte er das nur aushalten?

Sherlock folgte Mycroft aus dem Studierzimmer des Direktors uber den Korridor zur Eingangshalle. Eine geschlossene zweispannige Kutsche wartete vor der Tur. Von der Reise, die Mycroft zur Schule unternommen hatte, waren die Rader noch mit Schlamm uberzogen und die Seiten der Kabine mit Staub bedeckt. Das Wappen der Holmes-Familie prangte auf der Tur. Sherlocks Koffer war schon auf der Ruckseite verstaut. Vorn auf dem Kutschbock sa? ein hagerer Mann, den Sherlock nicht kannte. Schlaff hielt er die Zugel in den Handen, wahrend die beiden Pferde geduldig warteten.

»Woher wusste er, dass das mein Koffer ist?«

Mycroft machte eine Handbewegung, die besagen sollte, dass das keine gro?e Sache war. »Ich habe den Koffer vorhin vom Fenster des Direktorenzimmers aus gesehen. Er war als einziger unbeaufsichtigt. Und au?erdem ist es der, den Vater immer benutzt hat. Der Direktor war so freundlich, einen Jungen loszuschicken, der dem Kutscher auftrug, den Koffer aufzuladen.« Er offnete die Tur der Kutsche und forderte Sherlock mit einer Geste auf einzusteigen. Doch stattdessen blickte sich Sherlock noch einmal zu seiner Schule und seinen Mitschulern um.

»Du siehst aus, als wurdest du denken, dass du sie nie wiedersiehst«, sagte Mycroft.

»Das ist es nicht«, erwiderte Sherlock. »Es ist nur, ich dachte, ich wurde wegen etwas Schonerem von hier fortgehen. Aber jetzt wei? ich, dass mir etwas Schlechteres bevorsteht. So schlimm es hier auch ist, etwas Besseres ist jetzt jedenfalls nicht mehr zu erwarten.«

»So schlimm wird es nicht sein. Onkel Sherrinford und Tante Anna sind gute Menschen. Sherrinford ist Vaters Bruder.«

»Wieso habe ich dann noch nie was von ihnen gehort?«, fragte Sherlock. »Warum hat Vater nie erwahnt, dass er einen Bruder hat?«

Mycroft zuckte fast unmerklich zusammen. »Ich furchte, es gab ein Zerwurfnis in der Familie. Das Verhaltnis war eine Weile ziemlich gespannt. Mutter hat vor ein paar Monaten wieder Kontakt aufgenommen. Ich bin nicht mal sicher, ob Vater das wei?.«

»Und da schickst du mich hin?«

Mycroft tatschelte Sherlocks Schulter. »Wenn es eine Alternative gabe, wurde ich mich dafur entscheiden, glaube mir. Nun denn, musst du dich von irgendwelchen Freunden verabschieden?«

Sherlock sah sich um und sein Blick fiel auf etliche Jungen, die er kannte. Aber war auch nur einer von ihnen ein wirklicher Freund?

»Nein«, sagte er. »Lass uns gehen.«

Die Reise nach Farnham dauerte mehrere Stunden. Nachdem sie durch das Stadtchen Dorking gefahren waren, der Deepdene am nachsten gelegenen Ortschaft, rumpelte die Kutsche auf Feldwegen weiter. Unter ausladenden Baumkronen entlang und vorbei an einzeln stehenden strohgedeckten Cottages, gro?eren Hausern und Feldern voller reifer Gerste.

Die vom wolkenlosen Himmel brennende Sonne verwandelte die Kutsche trotz des Fahrtwindes schon bald in einen Backofen. Insekten schwirrten trage immer wieder gegen das Fenster, und Sherlock beobachtete eine Weile, wie die Welt an ihnen vorbeizog. Zum Mittagessen hielten sie an einem Gasthaus, in dem Mycroft etwas Schinken, Kase und einen halben Laib Brot kaufte. Irgendwann schlief Sherlock ein. Als er nach ein paar Minuten oder auch Stunden wieder aufwachte, fuhr die Kutsche immer noch durch die gleiche Landschaft. Eine Weile lang unterhielt er sich mit Mycroft daruber, wie es gerade bei ihnen zu Hause aussah. Sie sprachen uber ihre Schwester und die schwache Gesundheit ihrer Mutter. Mycroft erkundigte sich nach Sherlocks Studien, und Sherlock erzahlte ihm ein bisschen uber die verschiedenen Lektionen, die er uber sich hatte ergehen lassen mussen, um sich dann ein wenig ausfuhrlicher uber die unterrichtenden Lehrer auszulassen. Er imitierte ihre Stimmen und Schrullen so witzig und gehassig, dass Mycroft sich vor Lachen nicht mehr zu helfen wusste.

Nach einer Weile saumten immer mehr Hauser die Stra?e, und schon bald fuhren sie durch eine gro?e Stadt. Die Pferdehufe klapperten auf den Pflastersteinen, und als Sherlock sich aus der Kutsche lehnte, fiel sein Blick auf ein Gebaude, das wie ein Rathaus aussah. Das Auffalligste an dem wei? verputzten und mit schwarzen Holzschnitzereien verzierten zweistockigen Bau war eine riesige Uhr, die an einem horizontalen Trager befestigt war und weit auf die Hauptstra?e hinausragte.

»Farnham?«, riet Sherlock.

»Guildford«, antwortete Mycroft. »Aber Farnham ist jetzt nicht mehr weit.«

Als sie Guildford hinter sich gelassen hatten, fuhrte die Stra?e auf einer Anhohe entlang, von der das Land zu beiden Seiten abfiel. Von hier oben sahen die Felder und Walder wie eine Spielzeuglandschaft aus, auf der sich vereinzelte Tupfer gelber Phantasieblumen verteilten.

»Diese Anhohe hei?t Hog’s Back«, erklarte Mycroft. »Hier in der Nahe auf dem Pewley-Hugel gibt es eine Semaphor-Station. Sie ist Teil einer Signalkette, die sich den ganzen Weg von der Admiralitat in London bis zum Hafen von Portsmouth erstreckt. Haben sie euch in der Schule etwas uber Semaphor-Stationen beigebracht?«

Sherlock schuttelte den Kopf.

»Typisch«, murmelte Mycroft. »Den Jungens Latein eintrichtern, bis ihnen der Schadel platzt, aber keinen Sinn fur praktische Dinge.«

Er seufzte tief. »Mit einem Semaphor konnen Nachrichten, fur deren Ubermittlung man mit Pferden Tage brauchen wurde, rasch und uber weite Entfernungen ubermittelt werden. Semaphor-Stationen haben Signaltafeln oben auf dem Dach, die von Weitem sichtbar sind und sechs gro?e Locher aufweisen. Die Locher konnen durch Verschlussklappen geoffnet oder geschlossen werden. Je nachdem, welches Loch geoffnet oder geschlossen ist, werden auf der Tafel verschiedene Buchstaben dargestellt. In jeder Semaphor-Stelle gibt es einen Mann, der die vorherige und die folgende Station der Kette mit einem Teleskop beobachtet. Wenn er eine Nachricht buchstabiert sieht, schreibt er sie auf und wiederholt sie dann auf seiner eigenen Semaphor-Tafel. Auf diese Weise wird die Nachricht weitergeleitet. Diese Semaphor-Kette beginnt beim Marineamt, verlauft uber Chelsea und Kingston upon Thames bis hierher und setzt sich dann den ganzen Weg bis nach Portsmouth Dockyard fort. Eine andere Kette fuhrt runter nach Chatham Dockyards und weitere nach Deal, Sheerness, Great Yarmouth und Plymouth. Sie wurden errichtet, damit die Admiralitat im Falle einer franzosischen Invasion rasch Nachrichten zur Navy schicken konnte.

Aber nun sag doch mal … Wenn es dort sechs Locher gibt und jedes davon entweder geoffnet oder geschlossen werden kann, wie viele verschiedene Kombinationen gibt es dann, um Buchstaben, Nummern oder Symbole darzustellen?«

Sherlock unterdruckte das spontane Verlangen, seinem Bruder zu sagen, dass die Schule vorbei sei, und schloss stattdessen die Augen, um einen Moment lang nachzurechnen. Ein Loch konnte zwei Zustande aufweisen: offen oder geschlossen. Zwei Locher konnten vier Zustande haben: offen-offen, offen-geschlossen, geschlossen- offen, geschlossen-geschlossen. Drei Locher hingegen … Er ging schnell die Kombinationen im Kopf durch, bis sich ein Muster abzuzeichnen begann. »Sechsundvierzig«, sagte er schlie?lich.

»Gut gemacht«, nickte Mycroft. »Ich bin froh, dass du zumindest in Mathematik auf Zack bist.« Er schaute nach rechts aus dem Fenster. »Ah, Aldershot. Interessanter Ort. Ist vor vierzehn Jahren von Konigin Victoria zur Hauptausbildungsgarnison der britischen Armee ernannt worden. Davor war es eine kleine Ortschaft mit nicht mal tausend Einwohnern. Jetzt liegt die Bevolkerungszahl bei sechzehntausend und sie wachst weiter.«

Sherlock reckte den Hals, um uber seinen Bruder hinweg durch das andere Fenster zu sehen. Aber von seinem Blickwinkel aus konnte er nur eine lockere Ansammlung von verstreuten Hausern erkennen und etwas, bei

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