voller Gabel vor dem Mund, hatte kurz geblinzelt und sich dann glucklicherweise an MrTulley, seinen Lateinlehrer in Deepdene, erinnert. »Extra ecclesiam nulla salus«, verkundete Sherlock, ziemlich sicher, dass das so viel bedeutete wie: »Au?erhalb der Kirche ist keine Erlosung.«

Das schien zu funktionieren. Denn Sherrinford Holmes nickte und murmelte »Ah, der heilige Cyprian von Karthago, naturlich«, um sich dann wieder seinem Teller zuzuwenden.

MrsHolmes – beziehungsweise Tante Anna – hingegen war eine kleine, vogelahnliche Frau, die sich in einem Zustand permanenter Bewegung zu befinden schien. Selbst wenn sie sa?, flatterten ihre Hande unermudlich umher, ohne irgendwo langer als eine Sekunde zu verweilen. Dabei redete sie die ganze Zeit, ohne jedoch wirklich mit jemandem zu reden, so weit es Sherlock beurteilen konnte. Sie schien es einfach zu genie?en, einen ewigen Monolog zu fuhren, und sie schien nicht zu erwarten, dass sich jemand daran beteiligte oder auf eine ihrer gro?tenteils rhetorischen Fragen antwortete.

Zumindest das Essen war passabel – jedenfalls besser als die Mahlzeiten in der Deepdene-Schule. Zum gro?en Teil bestand es aus Gemuse: Karotten, Kartoffeln oder Blumenkohl, die allesamt, wie er vermutete, auf dem Grund von Manor House angebaut wurden. Aber zu jeder Mahlzeit gab es in irgendeiner Form auch Fleisch, und im Gegensatz zu dem grauen und meist undefinierbaren Knorpelzeugs, das er von der Schule her kannte, war dieses gut gewurzt und lecker. So erfreute Sherlock sich zum Beispiel an Schinkenhaxen, Hahnchenschenkeln, Filets, die – wie man ihm erklarte – vom Lachs stammten, oder bei einer anderen Gelegenheit an gro?en Fleischstucken, die aus einer in der Tischmitte platzierten Lammschulter herausgetrennt wurden. Wenn er nicht aufpasste, nahm er noch so viel zu, dass er irgendwann wie Mycroft aussehen wurde.

Sein Zimmer befand sich oben unter dem Dach. Zwar nicht direkt bei den Bedienstetenunterkunften, aber auch nicht unten bei der Familie.

Entsprechend der Dachneigung fiel die Zimmerdecke von der Tur zum Fenster hin steil ab, was zur Folge hatte, dass man sich nur buckend bewegen konnte. Der Boden bestand aus glatten Dielenbrettern, die mit einem Laufer von fragwurdigem Alter bedeckt waren. Das Bett war ihm insofern vertraut, als es genauso hart war wie das in seiner Schule. Dennoch lag er wahrend der ersten zwei Nachte stundenlang wach. Grund dafur war die Stille. Er war so daran gewohnt, drei?ig andere Jungs schnarchen, im Schlaf reden oder leise vor sich hinschluchzen zu horen, dass er die plotzliche Stille nervenaufreibend fand. Aber als er dann schlie?lich das Fenster geoffnet hatte, um etwas frische Luft zu schnappen, hatte er festgestellt, dass die Nacht uberhaupt nicht still, sondern von vielen feinen Gerauschen erfullt war. Von da an wiegten ihn Eulengekreische, Fuchsgebell oder unvermittelt aufflatternde Huhner in den Schlaf, die in ihrem Stall hinter dem Haus von irgendetwas aufgeschreckt worden waren.

Der Vorschlag seines Bruders, die Bibliothek zu nutzen und sich dort die Zeit mit einem interessanten Buch zu vertreiben, lie? sich leider nicht in die Tat umsetzen. Denn Sherrinford Holmes verbrachte dort einen Gro?teil seiner Zeit mit Recherchen fur seine religiosen Broschuren und Predigten, und Sherlock hatte Angst, ihn zu storen. Stattdessen unternahm er immer ausgedehntere Streifzuge um das Haus herum. Begonnen hatte er seine Erkundungen mit dem ans Haus grenzenden Grundstuck, wozu unter anderem der umzaunte Garten, der Huhnerstall und das gro?e Pflanzenbeet gehorten. Dann hatte er die Steinmauer erklommen, die das Anwesen umgab, war drau?en weiter zur Stra?e vorgedrungen und hatte schlie?lich seine Wanderungen bis in die alten Walder ausgedehnt, die hinten an das Grundstuck von Holmes Manor grenzten. Fruher einmal war er an weitere Marsche gewohnt gewesen. Denn zu Hause hatte er – alleine oder zusammen mit seiner Schwester – ausgiebig die Walder der Umgebung erkundet. Aber der Wald hier schien alter und geheimnisvoller zu sein als jene, die er kannte.

»Fur so einen feinen Typen aus der Stadt kannst du ja ganz schon stillsitzen, was?«

»So wie du«, antwortete Sherlock, ohne mit der Wimper zu zucken, der Stimme hinter ihm. »Du beobachtest mich schon seit einer halben Stunde.«

»Woher wei?t du das?« Sherlock horte ein dumpfes Gerausch, als ob sich jemand gerade von einem der unteren Baumaste auf den mit Farn uberwucherten Waldboden hatte fallen lassen.

»Uberall auf den Baumen um uns herum hocken Vogel. Mit Ausnahme von einem. Und zwar dem, auf dem du gesessen hast. Offensichtlich haben sie Angst vor dir.«

»Denen wurde ich nichts tun. Ebenso wenig wie dir.«

Langsam wandte Sherlock sich um. Die Stimme gehorte einem Jungen, der ungefahr in seinem Alter sein mochte, wenn er auch kleiner und gedrungener war als der eher schlaksige Sherlock. Die verstaubte Kleidung des Jungen war an einigen Stellen ziemlich abgetragen und seine Fingernagel starrten vor Dreck. Seine Haare waren so lang, dass sie ihm bis zu den Schultern reichten.

»Ich bin mir nicht sicher, ob du das uberhaupt konntest«, erwiderte Sherlock so gelassen, wie das unter den Umstanden moglich war.

»Ich hab ’n paar echt miese Tricks drauf«, sagte der Junge. »Und ich hab ’n Messer.«

»Ja, aber ich habe die Boxwettkampfe in der Schule genau studiert und verfuge uber eine beachtliche Reichweite.« Sherlock beaugte den Jungen kritisch. Der raue Stoff seiner Kleidung war an manchen Stellen geflickt, und Gesicht und Hande hatten sicher schon langer keinen Kontakt mehr mit Wasser und Seife gehabt.

»Schule?«, fragte der Junge verwundert. »Die unterrichten Boxen an der Schule?«

»Auf meiner Schule machen sie’s jedenfalls. Sie sagen, das macht uns harter.«

Der Junge setzte sich neben Sherlock.

»Stimmt nicht. Das Leben macht dich harter«, murmelte er und fuhr dann fort: »Mein Name ist Matty. Matty Arnatt.«

»Matty, wie Matthew?«

»Vermutlich. Du lebst oben in dem gro?en Haus an der Stra?e, nicht?«

Sherlock nickte. »Ich bin fur die Sommerferien hergekommen und zu Gast bei meiner Tante und meinem Onkel. Mein Name ist Sherlock, Sherlock Holmes.«

Matty blickte Sherlock skeptisch an. »Das ist aber kein richtiger Name.«

»Was? Sherlock?« Sherlock dachte einen Moment lang nach. »Was stimmt damit nicht?«

»Kennst du irgendeinen anderen Sherlock?«

Sherlock zuckte mit den Schultern. »Nein.«

»Wie hei?t denn dein Vater?«

Sherlock runzelte die Stirn. »Siger.«

»Und dein Onkel? Der, bei dem du wohnst?«

»Sherrinford.«

»Hast du einen Bruder?«

»Ja, einen.«

»Wie ist sein Name?«

»Mycroft.«

Matty schuttelte irritiert den Kopf. »Sherlock, Siger, Sherrinford und Mycroft. Was sind das denn fur Namen! Warum konnt ihr nichts Normales nehmen wie zum Beispiel Matthew, Luke oder John?«

»Das sind Vornamen«, erklarte Sherlock. »Und die gehoren zur Familientradition. Jedes mannliche Familienmitglied hat solch einen Namen.«

Er schwieg einen Moment. »Mein Vater hat mir einmal erzahlt, dass ein Zweig unserer Familie ursprunglich aus Skandinavien stammt. Daher wohl die Namen. Oder so was in der Art. ›Siger‹ konnte skandinavisch sein, denke ich. Die anderen allerdings klingen fur mich in der Tat eher nach altenglischen Ortsnamen. Obwohl mir vollig schleierhaft ist, woher dann ›Sherlock‹ kommt. Vielleicht gibt es ja dort auf irgendeinem Kanal eine Schleuse namens Sher Lock oder Sheer Lock.«

»Du wei?t ’ne Menge Sachen«, sagte Matty. »Aber nicht viel uber Kanale. Durch eine Schleuse, die Sher Lock oder Sheer Lock hei?t, bin ich noch nie gekommen. Aber sag mal, wie sieht’s denn mit Schwestern aus? Gibt’s da auch irgendwelche komischen Namen?«

Sherlock zuckte zusammen und blickte weg. »Lebst du hier in der Gegend?«

Matty blickte ihn einen Moment lang an. Dann schien er die Tatsache zu akzeptieren, dass Sherlock das Thema wechseln wollte. »Ja«, antwortete er. »Im Moment jedenfalls. Ich reise gewisserma?en so herum.«

Sherlocks Interesse war geweckt. »Reisen? Du meinst, du bist ein Zigeuner? Oder bei einem Zirkus?«

Matty schnaubte verachtlich. »Wenn mich jemand einen Zigeuner nennt, bekommt er von mir normalerweise eine verpasst. Und zu einem Zirkus gehor ich ehrlich gesagt auch nicht.«

Plotzlich stolperten Sherlocks Gedanken uber etwas, das Matthew einen Augenblick zuvor gesagt hatte. »Du hast gemeint, dass du keine Schleuse namens Sher Lock oder Sheer Lock kennst. Lebst du etwa auf den Kanalen?

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