Besitzt deine Familie einen Kahn?«

»Ich hab ein kleines Kanalboot. Aber keine Familie. Es gibt nur mich. Mich und Albert.«

»Dein Gro?vater?«, riet Sherlock.

»Mein Pferd«, korrigierte Matty ihn. »Albert zieht das Boot.«

Sherlock wartete einen Augenblick, um zu sehen, ob Matty fortfahren wurde. Als er es nicht tat, fragte er: »Und was ist mit deiner Familie? Was ist mit ihr passiert?«

»Du stellst ganz schon viele Fragen, was?«

»Das ist eine Moglichkeit, um Dinge herauszubekommen.«

Matty zuckte die Achseln. »Mein Vater war bei der Navy. Ist mit einem Schiff weg und nie mehr wiedergekommen. Keine Ahnung, ob er ertrunken, irgendwo auf der Welt in einem Hafen hangengeblieben oder zuruck nach England gekommen ist und dann einfach keine Lust mehr auf die letzten paar Meilen nach Hause hatte. Meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben. Tuberkulose.«

»Das tut mir leid.«

»Sie hatten mich nicht noch einmal zu ihr gelassen, nachdem sie schon tot war«, fuhr Matty fort, als ob er Sherlock nicht gehort hatte. Gedankenverloren starrte er in die Ferne. »Sie ist einfach so dahingeschwunden. Wurde immer dunner und blasser. Es war, als ob sie der Tod stuckchenweise geholt hat. Spuckte jede Nacht Blut. Ich hab gewusst, dass sie kommen und mich in ein Armenhaus stecken wurden, wenn sie starb. Also bin ich abgehauen. Keine zehn Pferde bringen mich in eine von diesen Knochenmuhlen. Die meisten, denen das passiert ist, sind nie wieder rausgekommen. Und wenn, sind sie Kruppel oder nicht mehr richtig im Kopf. Das Leben auf den Kanalen hat mir besser gefallen als das Rumgerenne. Da kommt man in kurzerer Zeit viel weiter voran.«

»Woher hast du das Boot?«, fragte Sherlock. »Hat es mal deiner Familie gehort?«

»Wohl eher nicht«, schnaubte Matty. »Lass es mich mal so sagen: Ich hab’s gefunden. Lassen wir es dabei.«

»Und wie kommst du uber die Runden? Wovon bezahlst du dein Essen?«

Matty zuckte die Achseln. »Im Sommer arbeite ich auf den Feldern. Ich pflucke Obst oder schneide Weizen. Alle wollen nur billige Arbeitskrafte und niemand macht sich was draus, Kinder anzustellen. Im Winter halte ich mich mit Gelegenheitsarbeiten uber Wasser: ein bisschen Gartenarbeit hier, ein paar Bleiziegel auf dem Kirchendach auswechseln dort. Ich komm klar und mach alles. Abgesehen von Schornsteinfegen und unten in den Minen zu arbeiten. Denn das ist ein langsamer Tod.«

»Gutes Argument«, meinte Sherlock. »Wie lange bist du schon in Farnham?«

»Ein paar Wochen. Is ’n guter Platz«, sagte Matty. »Die Leute sind einigerma?en freundlich und lassen mich meistens in Ruhe. Is ’ne ganz ordentliche Stadt.« Er zogerte. »Au?er …«

»Au?er was?«

»Ach, nichts …« Er schuttelte den Kopf. Dann gab er sich einen Ruck. »Sieh mal, ich hab dich ’ne ganze Weile beobachtet. Du hast keine Freunde hier in der Gegend. Aber du bist nicht blod und scheinst gut darin zu sein, Sachen rauszukriegen. Na ja, ich hab da etwas in der Stadt gesehen. Etwas, auf das ich mir einfach keinen Reim machen kann.« Er errotete leicht und schaute weg. »Ich hatte gehofft, dass du mir vielleicht helfen kannst.«

Sherlock war fasziniert, zuckte aber nur die Achseln. »Ich kann es versuchen. Was ist es?«

»Am besten ich zeig’s dir.« Matty klopfte sich die Hande an seiner Hose ab. »Mochtest du dich zuerst einmal in der Stadt umsehen? Ich kann dir zeigen, wo man am besten was zu essen und trinken kriegt oder einfach nur gut Leute beobachten kann. Und welche Stra?en und Wege sich am besten zum Abhauen eignen und wo es gefahrliche Sackgassen gibt, die du besser meiden solltest.«

»Zeigst du mir auch dein Boot?«

Matty schaute Sherlock an. »Vielleicht. Wenn ich sicher bin, dass ich dir trauen kann.«

Sie gingen zusammen den Hang zur Stra?e hinunter, die in die Stadt fuhrte. Uber ihnen spannte sich ein strahlend blauer Himmel. In der Luft lag der Geruch von Rauch, und Sherlock konnte horen, wie jemand in der Ferne mit der Regelma?igkeit einer tickenden Uhr Holz hackte. Als sie gerade ein kleines Waldchen durchquerten, zeigte Matty auf einen Vogel, der hoch uber ihnen seine Kreise zog. »Ein Habicht«, erklarte er knapp. »Lauert auf Beute.«

Es waren einige Meilen bis in die Stadt, und sie brauchten fast eine Stunde fur die Strecke. Sherlock spurte, wie seine Muskeln in den Beinen und im Kreuz immer steifer wurden. Morgen wurde ihm jede Bewegung schwerfallen, und alles wurde weh tun. Aber im Moment sorgte die Anstrengung dafur, dass sich die tiefe Depression, die ihn seit seiner Ankunft auf Holmes Manor im Griff gehabt hatte, langsam verfluchtigte.

Als sie sich der Stadt naherten und auf beiden Stra?enseiten in immer regelma?igeren Abstanden Hauser auftauchten, nahm Sherlock einen muffigen, unangenehmen Geruch wahr, der von der Stadt heranzuwehen schien.

»Was ist das fur ein Gestank?«, fragte er.

Matty schnuffelte. »Was fur ein Gestank?«

»Dieser Gestank. Das musst du doch riechen! Es stinkt wie ein alter, nass gewordener Teppich, den man wieder im Haus ausgelegt hat, bevor er richtig trocken geworden ist.«

»Das wird von den Brauereien kommen. Es gibt ziemlich viele davon am Flussufer. Barratt’s Brauerei ist die gro?te. Barratt expandiert wegen der ganzen Truppen, die neuerdings in Aldershot stationiert sind. Das ist der Geruch von nasser Gerste. Es war das Bier, das meinen Vater so fertig gemacht hat. Er ist zur Navy gegangen, um von dem Zeug wegzukommen. Aber dort hat dann schon der Rum auf ihn gewartet.«

Sie hatten mittlerweile die Au?enbezirke der Stadt erreicht, und zwischen den Hausern und Hutten waren nun immer weniger Lucken zu sehen. Ein Gro?teil der Hauser bestand aus roten Backsteinen, und die Dacher waren entweder mit dunkelroten Ziegeln oder mit Schilfrohrbundeln gedeckt, die sich wie dicke Brotlaibe vorwolbten. An dem Hang, der sich sanft hinter den Hausern erhob, thronte eine graue Steinburg uber der Stadt. Hinter der Burg zog sich der Hang weiter bis zu einem fernen Hohenrucken empor. Sherlock fragte sich unwillkurlich, was fur einen Sinn eine Burg an solch einer Stelle machte, konnte doch ein Angreifer von einer erhohten Position aus nach Belieben Pfeile, Steine und Feuer auf sie herabregnen lassen.

»Hier findet jeden Tag ein Markt statt«, berichtete Matty. »Auf dem Marktplatz. Da werden Schafe, Kuhe, Torten und alles Mogliche verkauft. Guter Platz, um was abzugreifen. Vor allem wenn die Handler abends zusammenpacken und aufraumen. Dann sind sie immer in Eile, um noch vor Sonnenuntergang rauszukommen. Dabei fallen alle moglichen Sachen von den Standen oder sie werden weggeschmissen, weil sie ’n bisschen angegammelt oder wurmstichig sind. Allein von dem Zeugs, das sie dalassen, kannste sehr gut essen.«

»Entzuckend«, erwiderte Sherlock trocken. Zumindest das Essen auf Holmes Manor war etwas, auf das man sich freuen konnte. Auch wenn dies keineswegs fur die Atmosphare wahrend der Mahlzeiten galt.

Sie befanden sich nun in der eigentlichen Stadt, und auf der Stra?e drangten sich mittlerweile so viele Menschen, dass die beiden Jungen immer wieder vom Burgersteig auf die zerfurchte Stra?e treten mussten, um nicht mit jemandem zusammenzusto?en. Sherlock verbrachte die meiste Zeit damit, auf Pferdeapfelhaufen zu achten, und gab sein Bestes, um nicht in einen hineinzutreten. Der allgemeine Bekleidungsstandard hatte sich verbessert. Die respektablen Jacketts und Krawatten der Manner sowie die ansehnlichen Kleider der Damen waren nun haufiger im Stra?enbild zu sehen als die einfachen Kniehosen, Jacken und Kittel der Landbevolkerung. Uberall waren Hunde zu sehen: sowohl ordentlich an der Leine gehaltene als auch raudige und aggressive Streuner, die auf der Suche nach Futter waren. Die dunnen, unterernahrten Katzen hingegen hockten verborgen im Schatten und taxierten mit gro?en Augen die Umgebung. Auf der Stra?e zogen in beiden Fahrtrichtungen Pferdekarren und Kutschen vorbei, die den Pferdedung immer tiefer in den zerfurchten Untergrund druckten.

Als sie eine schmale Gasse erreichten, die von der Hauptstra?e abzweigte, blieb Matty stehen.

»Was ist los?«, fragte Sherlock.

Matty zogerte. »Das Ding, das ich gesehen hab …« Er zuckte die Achseln. »Das ist da weiter unten gewesen. Vor ein paar Tagen. Aber ich kapier’s einfach nicht.«

»Willst du es mir zeigen?«

Statt zu antworten rannte Matty die Gasse hinunter. Sherlock sprintete hinterher, um ihn einzuholen.

An einer Stelle bog die Gasse in einen kleinen Seitenweg ab, der so eng war, dass Sherlock die Gebaude auf beiden Seiten mit ausgestreckten Armen beruhren konnte. Aus einigen der oberen Fenster lehnten sich die Bewohner heraus und unterhielten sich mit den Nachbarn von gegenuber, als wurden sie blo? ein einfaches Plauschchen uber dem Gartenzaun halten.

Matty starrte zu einem ganz bestimmten, leeren Fenster hoch. Die Tur darunter war geschlossen und das

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