Haus sah verlassen aus.

»Da oben war’s«, sagte er. »Ich hab Rauch gesehen. Aber der bewegte sich irgendwie. Er kam aus dem Fenster, kroch die Wand hoch und verschwand uber das Dach.«

»So was macht Rauch nicht«, stellte Sherlock klar.

»Dieser Rauch schon«, widersprach Matty energisch.

»Vielleicht hat ihn der Wind fortgetrieben.«

»Vielleicht.« Matty schien nicht uberzeugt zu sein. Er runzelte die Augenbrauen, wahrend er sich an die Geschehnisse erinnerte. »Ich hab jemand schreien gehort. Drinnen. Dann bin ich weggerannt, weil ich Schiss hatte. Aber spater bin ich wiedergekommen. Da stand ein Karren hier drau?en, auf den sie eine Leiche geladen haben. Der Korper war mit einem Bettlaken bedeckt. Aber das hat sich in der Tur verfangen und wurde weggerissen.« Er drehte sich zu Sherlock um. Sein Gesicht hatte sich in eine Maske der Angst und Ungewissheit verwandelt. »Er war mit Beulen ubersat. Gro?en roten Beulen. Uberall auf dem Gesicht und seinem Hals und den Armen. Und sein Gesicht war total verzerrt. So als ware er unter entsetzlichen Qualen gestorben. Glaubst du, das war die Pest? Ich hab davon gehort, wie sie fruher hier im Land getobt hat. Glaubst du, sie ist zuruckgekommen?«

Sherlock lief ein Schauder uber den Rucken. »Vermutlich konnte das durchaus der Beginn einer neuen Seuche sein. Aber ein Tod allein macht noch keine Pest. Und es konnte sich ebenso gut auch um Scharlach handeln oder irgendetwas anderes.«

»Und dieser Schatten, den ich uber das Dach habe schweben sehen? Was ist damit? Ob das wohl seine Seele war? Oder etwas anderes? Etwas, das gekommen ist, um sie zu holen?«

»Das«, sagte Sherlock entschieden, »war hochstwahrscheinlich nur eine Illusion. Hervorgerufen durch einen bestimmten Sonnenstand am Himmel und eine vorbeiziehende Wolke.« Er nahm Matty bei den Schultern und zog ihn fort. »Komm, lass uns gehen.«

Er fuhrte Matty vom Haus fort und bugsierte ihn aus dem engen Weg heraus. Innerhalb kurzester Zeit waren sie wieder auf der Hauptstra?e, die durch Farnham fuhrte. Matty war blass und schwieg.

»Geht es dir gut?«, fragte Sherlock vorsichtig.

Matty nickte. »Tut mir leid«, sagte er beschamt. »Es ist nur … es macht mir Angst. Ich mag keine Krankheiten, seit …«

»Ich verstehe. Schau mal, ich wei? nicht, was du gesehen hast. Aber ich werde daruber nachdenken. Mein Onkel hat eine Bibliothek. Vielleicht lasst sich da eine Antwort finden. Dort oder in den lokalen Zeitungsarchiven.«

Sie gingen uber eine schmale Brucke in die Stadt zuruck. Die Stra?e fuhrte an einem gro?en Holztor vorbei, das in eine Steinmauer eingelassen war. Davor sahen sie ein merkwurdiges Tier am Boden liegen. Es hatte die Beine steif zu allen Seiten ausgestreckt und bewegte sich nicht. Sein Fell war dreckig und glanzlos. Einen Moment lang dachte Sherlock, es ware ein Hund. Aber als sie naher kamen, erkannte er, was da vor ihnen lag. Das Tier hatte eine spitze Schnauze und kurze Beine. Die abwechselnd hellen und dunkelgrauen Fellstreifen mussten zu Lebzeiten einmal wei? und schwarz gewesen sein. Kein Zweifel, es war ein Dachs. Sherlock sah, dass der Bauch des Tieres platt gepresst auf dem Boden lag. Es war uberfahren worden. Wahrscheinlich von einem Kutschrad.

Matty verlangsamte seine Schritte, wahrend er sich dem Tier naherte.

»Du solltest auf der Hut sein, wenn du hier vorbeigehst«, vertraute er Sherlock mit einer Stimme an, als ware einzig und allein sein Begleiter derjenige, der berechtigten Grund zur Angst hatte, wahrend er hingegen vollkommen sicher war. »Ich wei? nicht, was sie da treiben. Aber die haben Wachen da drinnen. Riesige Kerle mit Schlagstocken und Bootshaken.«

Sherlocks Vermutung nach sollten diese Manner lediglich einen gewissen Schutz fur die Lohngelder gewahrleisten, die man drinnen vermutlich fur die dort tatigen Arbeiter aufbewahrte. Gerade wollte er Matty seine entsprechenden Mutma?ungen mitteilen, als das Tor aufschwang. Zwei Manner betraten die Stra?e. Ihre grimmigen vernarbten Schlagervisagen standen im krassen Gegensatz zu ihrer tadellosen schwarzen Samtkleidung. Sie schauten nach links und rechts und musterten die Jungen einen Moment lang prufend, bevor sie den Blick wieder abwandten und jemandem drinnen mit der Hand ein Zeichen gaben.

Eine Kutsche, die von einem einzigen Pferd gezogen wurde, kam zum Vorschein. Auf dem Kutschbock sa? ein gro?er, kraftiger Mann mit Handen wie Spaten und einem von Narben bedeckten Kahlkopf.

Die beiden Manner in Schwarz schlossen das Tor. Dann sprangen sie hinten auf die Kutsche und klammerten sich fest, als sie sich in Bewegung setzte.

»Lass mal sehen, ob der feine Herr einen Viertelpenny rausruckt«, flusterte Matty. Bevor Sherlock ihn aufhalten konnte, rannte Matty auch schon auf die Kutsche zu.

Aufgeschreckt scheuten die Pferde zuruck und stemmten sich gegen die Deichsel, die sie mit der Kutsche verband. Der Fahrer versuchte, die Kontrolle wiederzuerlangen, und schlug mit der Peitsche auf sie ein. Aber dadurch machte er es nur noch schlimmer, und die Kutsche drehte sich herum, als die Pferde versuchten, von Matty wegzukommen.

Im nachsten Augenblick gefror Sherlock das Blut in den Adern. Durch das Kutschenfenster starrte ihn ein von dunnen wei?en Haaren eingerahmtes, fast skelettartiges bleiches Gesicht an. Ohne mit der Wimper zu zucken, musterten ihn ausdruckslose Knopfaugen. Kleine, rosafarbene Augen wie die einer wei?en Ratte. Ein Gefuhl instinktiven Widerwillens durchfuhr Sherlock. Es war so, als hatte er nach einem Salatblatt auf dem Teller gegriffen und stattdessen eine Schnecke erwischt. Sherlock wollte sich in Bewegung setzen und zuruckweichen. Aber der bleiche, bosartige Blick nagelte ihn formlich fest, und er war unfahig, auch nur ein Glied zu ruhren. Doch dann gelang es dem vierschrotigen Fahrer, wieder die Kontrolle zu erlangen. Die Pferde galoppierten an den beiden vorbei und zogen die Kutsche samt ihrer Insassen mit sich fort.

»Hab nicht mal ’ne Chance gehabt«, maulte Matty und klopfte sich den Staub von der Kleidung. »Ich dachte, der Kerl geht gleich mit der Peitsche auf mich los.«

»Wer war der Mann in der Kutsche?«, fragte Sherlock mit beunruhigter Stimme.

Matty schuttelte den Kopf. »Hab ihn nicht gesehen. Hat er reich ausgesehen?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Er sah aus, als ware er seit drei Tagen tot«, erwiderte Sherlock nur.

3

Der aus dem Zugschornstein stromende hei?e Dampf quoll zwischen den Bretterbohlen der Brucke empor und benetzte die Beine der beiden Jungen. Lachend und nass liefen sie dabei in entgegengesetzte Richtungen. Majestatisch stampfte der Zug unter ihnen hindurch und fuhr langsamer werdend in den Bahnhof von Farnham ein. Die beiden gingen wieder zur Mitte der Holzbrucke zuruck, die die Bahnsteige miteinander verband, und beobachteten, wie der Zug allmahlich unter Kettengeklirre und ohrenbetaubendem Zischen zum Stehen kam, als der Lokfuhrer den uberschussigen Dampf ablie?.

Es war der Morgen des folgenden Tages. Vor Eintreffen des Zuges hatte der Bahnsteig noch einsam und verlassen dagelegen. Aber in kurzester Zeit hatte er sich auf magische Weise in ein geschaftiges Menschengewimmel verwandelt, das auf den Ausgang zustromte. Manner in schwarzen Gehrocken und mit Zylindern auf dem Kopf kamen aus den Erste-Klasse-Abteilen geschlupft wie Insekten aus ihren Kokons. Schulter an Schulter schoben sie sich mit den Fahrgasten aus der Zweiten Klasse voran – beleibten Mannern mit Tweedjackets und Schiebermutzen sowie Frauen in ansehnlichen Kleidern –, wozu sich noch etliche muskelbepackte und wettergegerbte Arbeiter in abgewetzten Hemden und geflickten Hosen gesellten, die eng aneinandergequetscht in der Dritten Klasse gesessen hatten. Manner in Uniform zogen eine Schiebetur in einem der Waggons auf und machten sich daran, Holzkisten und gro?e Beutel abzuladen, bei denen es sich Sherlocks Vermutung nach um Postsacke handelte.

Gepacktrager kamen aus ihren wo auch immer gelegenen Buros zum Vorschein, in denen sie sich normalerweise versteckt hielten, und begannen, Kisten und Taschen von den Waggons zu den Gepackkarren zu transportieren. Mit Ausnahme von ein paar Stadtbewohnern, die uber die Ereignisse der Woche plauderten, lag der Bahnsteig innerhalb weniger Minuten wieder einsam und verlassen da. Ein wichtigtuerischer Schaffner mit Hut und blauer Uniformjacke trat an den Bahnsteig. Er blickte zunachst nach vorne Richtung Lok, dann nach hinten ans Zugende, fuhrte seine Pfeife an die Lippen und stie? einen kurzen, scharfen Pfiff aus. Der Zug schien zunachst zu beben, bevor er begann, sich langsam aus dem Bahnhof zu qualen. Schwerfallig zuerst, doch dann immer schneller.

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