Forderer gesaumt, die jeweils auf eigenen Sockeln thronten. Aufwirbelnder Kreidestaub lie? schrage Saulen von Sonnenlicht sichtbar werden, die von den hohen Fenstern aus auf den schwarz-wei? gefliesten Boden fielen. Es roch nach Karbol, mit dem die Dienstmadchen jeden Morgen die Fliesen putzten. Angesichts des dichten Gedranges in der Halle war es mehr als wahrscheinlich, dass in Kurze mindestens eine der Busten umkippen und herunterfallen wurde. Die gro?en Risse, die den echten Marmor einiger Busten verunstalteten, lie?en darauf schlie?en, dass kein Schuljahr verging, ohne dass nicht wenigstens eine von ihnen auf den Boden krachte und anschlie?end wieder repariert werden musste.

Von jedermann unbeachtet, schlangelte er sich zwischen den ganzen Leuten hindurch, bis er auf einmal das Gewuhl hinter sich gelassen hatte und in den Korridor gelangte, der von der Eingangshalle ins Gebaude fuhrte. Das Studierzimmer des Direktors lag ein paar Meter weiter den Gang entlang. Er blieb an der Turschwelle stehen, holte tief Luft und klopfte seine Armelaufschlage ab. Dann pochte er an die Tur.

»Herein!«, drohnte eine theatralisch laute Stimme.

Sherlock drehte den Knauf und druckte die Tur auf. Mit aller Macht versuchte er, einen Anfall von Nervositat zu unterdrucken, der ihm plotzlich durch die Glieder fuhr.

Er war bisher nur zweimal im Studierzimmer des Direktors gewesen. Einmal zusammen mit seinem Vater, als er das erste Mal nach Deepdene gekommen war. Dann noch einmal ein Jahr spater zusammen mit einer Gruppe von Schulern, die beschuldigt worden waren, wahrend einer Prufung geschummelt zu haben. Die drei Radelsfuhrer hatten eine Tracht Prugel bezogen und waren anschlie?end von der Schule geflogen. Die vier oder funf Mitlaufer waren blo? verdroschen worden, bis das Blut von den Pobacken spritzte, und konnten dann bleiben. Sherlock – dessen Essays die Gruppe abgeschrieben hatte – war um die Tracht Prugel herumgekommen, indem er behauptete, von alldem nichts gewusst zu haben. In Wirklichkeit hatte er naturlich voll und ganz Bescheid gewusst. Aber er war immer so etwas wie ein Au?enseiter an dieser Schule gewesen, und wenn man ihn tolerierte oder sogar akzeptierte, falls er die anderen Schuler abschreiben lie?, wurde er keinerlei ethische Einwande erheben. Andererseits wurde er die Abschreiber selbstverstandlich auch nicht verraten. Denn andernfalls hatte man ihn zusammengeschlagen. Und vielleicht vor eines der lodernden Kaminfeuer in den Schlafsalen gehalten, bis die Haut Blasen warf und die Kleidung zu qualmen anfing. So war das Leben in der Schule eben – ein pausenloser Balanceakt zwischen Lehrern und den anderen Schulern. Und er hasste es.

Das Studierzimmer des Direktors war genauso, wie er es in Erinnerung hatte: gro?, schummrig und durchdrungen von einer Geruchskombination aus Leder und Pfeifentabak. MrTomlinson sa? hinter einem Schreibtisch, der gro? genug war, um darauf Bowling zu spielen. Er war korpulent und trug einen Anzug, der ein bisschen zu klein fur ihn war. Wahrscheinlich, weil es ihm half, sich der Illusion hinzugeben, dass er bei Weitem nicht so fullig sei, wie es offensichtlich der Fall war.

»Ah, Holmes, nicht wahr? Komm rein, Junge. Rein mit dir. Und mach die Tur hinter dir zu.«

Sherlock tat, was ihm gesagt wurde. Aber als er die Tur schloss, nahm er eine weitere Gestalt im Raum wahr: einen Mann, der mit einem Glas Sherry vor dem Fenster stand. Das geschliffene Kristallglas des Trinkgefa?es brach das Sonnenlicht in alle Farben des Regenbogens.

»Mycroft?«, sagte Sherlock uberrascht.

Sein alterer Bruder drehte sich, um ihn anzusehen. In seinem Gesicht leuchtete fur einen winzigen Moment lang ein Lacheln auf, das Sherlock vielleicht entgangen ware, hatte er im falschen Augenblick geblinzelt. »Sherlock. Du bist gewachsen.«

»Du auch«, antwortete Sherlock. In der Tat hatte sein Bruder betrachtlich an Gewicht zugelegt. Er war beinahe so dick wie der Direktor. Aber sein Anzug war so geschnitten, dass dies eher kaschiert als betont wurde. »Du bist mit Vaters Kutsche gekommen.«

Mycroft zog eine Augenbraue in die Hohe. »Woraus hast du das um Himmels willen geschlossen, junger Mann?«

Sherlock zuckte die Achseln. »Da auf deiner Hose sind parallele Falten, die vom Druck des Sitzpolsters stammen. Aber ich erinnere mich, dass Vaters Kutsche einen Riss im Polster hatte, der vor ein paar Jahren nur unzulanglich repariert wurde. Der Abdruck des reparierten Risses ist auf deiner Hose zu sehen, direkt neben den Falten.« Er hielt inne. »Wo ist Vater, Mycroft?«

Der Direktor rausperte sich, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Ihr Vater ist …«

»Vater wird nicht kommen«, unterbrach Mycroft ihn mit sanfter Stimme.

»Sein Regiment wurde zur Verstarkung unserer Truppen nach Indien verlegt. Es gab dort Unruhen in der Nordwestlichen Grenzprovinz. Du wei?t, wo das ist?«

»Ja. Wir haben Indien in Geographie und Geschichte durchgenommen.«

»Guter Junge.«

»Mir war nicht klar, dass die Einheimischen dort erneut Probleme bereiten«, knurrte der Direktor. »Es stand zumindest nicht in der Times, soviel ist mal sicher.«

»Es sind nicht die Inder«, gestand Mycroft. »Als wir das Land wieder von der Ostindischen Kompanie ubernommen haben, wurden ihre Soldaten wieder der Aufsicht der regularen Armee unterstellt. Sie fanden das neue Regime sehr viel … nun ja … strenger als das, was sie gewohnt waren. Es hat dort jede Menge schlechte Stimmung gegeben, und die Regierung hat beschlossen, die Armeestarke in Indien drastisch zu erhohen, um ihnen eindrucksvoll vor Augen zu fuhren, wie wahre Soldaten wirklich sind. Es ist schlimm genug, wenn die Inder rebellieren. Aber eine Meuterei innerhalb der britischen Armee ist undenkbar.«

»Und wird es dort eine Meuterei geben?«, fragte Sherlock, dem plotzlich das Herz so schwer wurde, dass er meinte, einen Muhlstein in der Brust zu haben. »Kann Vater etwas passieren?«

Mycroft zuckte die machtigen Schultern. »Ich wei? es nicht«, sagte er einfach. Das war eine der Eigenschaften, die Sherlock an seinem Bruder schatzte. Er gab immer direkte Antworten auf direkte Fragen, ohne bittere Pillen zu versu?en. »Leider wei? ich gar nichts. Jedenfalls noch nicht.«

»Aber du arbeitest doch fur die Regierung«, lie? Sherlock nicht locker. »Du musst doch wenigstens eine Vorstellung haben, was passieren konnte. Kannst du nicht ein anderes Regiment schicken? Und Vater hier in England lassen?«

»Ich arbeite erst ein paar Monate im Au?enministerium«, antwortete Mycroft. »Und obwohl es mir schmeichelt, dass du denkst, ich hatte die Macht, solch wichtige Dinge zu beeinflussen, furchte ich, dass ich dazu nicht in der Lage bin. Ich bin ein Referent. Nur ein Angestellter, wirklich.«

»Wie lange wird Vater fort sein?«, fragte Sherlock und dachte an den gro?en Mann in der scharlachroten Uniformjacke mit den breiten wei?en Lederriemen, die sich uber der Brust kreuzten. Den Mann, der sein Vater war und so gern lachte und seine gute Laune nur selten verlor. Er fuhlte, wie sich ihm die Brust zuschnurte. Aber er hielt seine Gefuhle im Zaum. Wenn er eines wahrend seiner Zeit auf der Deepdene-Schule gelernt hatte, dann war es, niemals Gefuhle zu zeigen. Denn wenn man das tat, wurde es gegen einen verwendet.

»Das Schiff braucht sechs Wochen, um den Hafen in Indien zu erreichen. Dann sechs Monate im Land wurde ich mal schatzen. Und dann noch einmal sechs Wochen fur die Ruckreise. Neun Monate insgesamt.«

»Fast ein Jahr.« Er lie? einen Moment lang den Kopf sinken, um sich zu sammeln. Dann nickte er. »Konnen wir jetzt nach Hause gehen?«

»Du gehst nicht nach Hause«, antwortete Mycroft.

Sherlock stand nur da und nahm die Worte in sich auf, sagte aber nichts.

»Er kann nicht hierbleiben«, brummte der Direktor. »Die Schule wird auf den Kopf gestellt und von oben bis unten gereinigt.«

Mycroft wandte seinen gelassenen Blick von Sherlock ab und sah den Direktor an.

»Unsere Mutter ist … unpasslich«, erklarte er. »Selbst an guten Tagen ist ihre Verfassung labil, und die Sache mit unserem Vater hat sie zutiefst bekummert. Sie braucht Ruhe und Frieden, und Sherlock braucht jemand alteren, der sich um ihn kummert.«

»Aber ich habe dich!«, protestierte Sherlock.

Mycroft schuttelte traurig seinen gro?en Kopf. »Ich lebe jetzt in London, und mein Job bringt taglich viele Stunden Arbeit mit sich. Ich furchte, ich ware kein geeigneter Aufpasser fur einen Jungen. Vor allem nicht fur so einen neugierigen wie dich.« Er wandte sich zum Direktor um, was fast so wirkte, als ware es einfacher, ihm die nachste Information mitzuteilen als Sherlock.

»Obwohl unser Familiensitz in Horsham liegt, haben wir Verwandte in Farnham, nicht allzu weit von hier. Einen Onkel und eine Tante. Sherlock wird wahrend der Schulferien bei ihnen wohnen.«

»Nein!«, explodierte Sherlock.

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