»Ich finde, es stimmt, was ihr gesagt habt. Sich zu verbei?en, ist nicht sinnvoll. Bringen wir den Jungen mit seinem Meister in Sicherheit. Wir anderen werden irgendwie einen Weg finden ...«

»Orosius? Demetrios?«

Die beiden nickten.

»Batiatus?«

Verstort blickte der Riese um sich, als konne er einfach nicht glauben, da? dieses schreckliche, aber so wunderbare Abenteuer nun beendet sein sollte und seine gro?e Familie - die einzige, die er je kennengelernt hatte - dabei war, sich aufzulosen. Er senkte den Kopf, um seine Tranen zu verbergen, und die anderen hielten diese Geste fur ein zustimmendes Nicken.

»Nun ... ich glaube, dann ist es beschlossene Sache«, schlo? Livia. »Jetzt mussen wir versuchen, noch ein wenig Ruhe zu finden. Morgen steht uns allen ein muhevoller Weg bevor, ganz gleich, welche Richtung ein jeder von uns auch einschlagen mag.«

Auch Kustennin erhob sich. »Denkt daran«, sagte er. »An der alten romischen Mole, bei Sonnenaufgang. Schlagt meinen Rat nicht aus.« Und er ergriff sein Pferd bei den Zugeln.

»Warte«, sagte Aurelius. Eilig stieg er auf den Turm hinauf, um die Standarte einzuholen, faltete sie sorgfaltig zusammen und uberreichte sie Kustennin. »Behalte sie, so wird sie nicht zerstort werden.«

Kustennin ergriff sie, sprang in den Sattel und galoppierte davon. Wie versteinert von diesem traurigen Zeremoniell, legte Ambrosinus seine Hand auf Romulus' Schulter und druckte ihn fest an sich, als wolle er ihn vor der inneren Kalte beschutzen, die an seinem Herzen nagte.

Uberwaltigt von seinen Gefuhlen, entfernte sich Aurelius von den anderen; Livia folgte ihm. Sie fand ihn im Dunkeln unter der Treppe zum Wehrgang und legte ihre Lippen auf seinen Mund. »Es ist sinnlos, gegen das Unmogliche anzukampfen. Das Schicksal hat eine Entscheidung fur uns getroffen, es erlaubt nicht, da? wir seine Grenzen uberschreiten. La? uns daher nach Italien zuruckgehen. La? uns ein Schiff suchen, das ins Mittelmeer segelt. Fahren wir heim nach Venetia ...« Doch Aurelius blickte auf Romulus und bi? sich auf die Lippen. Er sa? neben Ambrosinus, der ihn fest an sich druckte und mit seinem Umhang bedeckte.

»Vielleicht werden wir sie spater wiedersehen ... Wer wei??« sagte Livia und gab damit auch seinen Uberlegungen Ausdruck. »Sed primum vivere - das Wichtigste ist, am Leben zu bleiben. Oder meinst du nicht?« Und sie schlo? ihn in die Arme. Doch Aurelius loste sich von ihr. »Du hast deinen Plan niemals aufgegeben, nicht wahr? Ist dir denn nicht klar, da? ich diesen Jungen so liebe wie meinen eigenen Sohn, den ich nie hatte? Verstehst du nicht, da? in dem Augenblick, da ich in deine Lagune zuruckkehrte, ich mich gleichsam in ein flammendes Meer sturzte? La? mich allein, ich bitte dich ... la? mich bitte allein.« Weinend verlie? ihn Livia und suchte in einem der Gebaude Zuflucht.

Aurelius stieg wieder zum Wehrgang hinauf und postierte sich auf einem der Wachturme. Die Nacht war ruhig und klar, eine laue Fruhlingsnacht, doch tobten in seinem Herzen Verzweiflung und eisige Kalte. Er hegte nur einen Wunsch: da? er aufhorte zu existieren und nie geboren worden ware. Lange Zeit verharrte er, wie abwesend, in diesen Gedanken, wahrend der Mond uber dem Mons Badonicus emporstieg und mit seinem silbernen Schein das Tal erleuchtete. Plotzlich ruttelte ihn eine Hand an der Schulter, Ambrosinus stand vor ihm. Die quietschende Holztreppe hatte keinen Laut von sich gegeben, ebensowenig wie der Wehrgang aus locker gefugten Brettern. Mit einem Ruck drehte sich Aurelius um, als sei ihm ein Gespenst erschienen. »Ambrosinus ... was willst du?«

»Komm, wir gehen.« »Wohin?«

»Die Wahrheit suchen.«

Aurelius schuttelte den Kopf. »Nein, la? mich in Ruhe. Morgen haben wir eine lange Reise vor uns.«

Ambrosinus packte ihn an seinem Umhang. »Du wirst jetzt mit mir kommen, sofort!«

Resigniert erhob sich Aurelius. »Wie du willst, vielleicht la?t du mich dann in Ruhe.«

Langsam stieg Ambrosinus die Treppe hinab, ging hinaus ins Freie und steuerte eiligen Schrittes auf den gro?en, kreisformigen Stein zu, den die vier Monolithen umstanden, die im Licht des Mondes wie schweigende Riesen aussahen. Als sie den Stein erreicht hatten, bedeutete er Aurelius, sich zu setzen, und dieser gehorchte, als fuhle er sich einem unerschutterlichen Willen unterworfen. Ambrosinus go? eine Flussigkeit in eine Schale und hielt sie ihm hin. »Trink.«

»Was ist das?« fragte Aurelius verblufft.

»Eine Fahrt in die Holle ... wenn du dich traust.«

Aurelius blickte ihm in die Augen, deren Pupillen geweitet waren, und fuhlte, wie ihn der Strudel der Finsternis einsog. Mechanisch streckte er seine Hand nach der Schale aus und leerte sie in einem einzigen Zug.

Dann legte Ambrosinus ihm die Hande auf das Haupt, die Aurelius wie scharfe Krallen empfand. Sie drangen ihm tief erst in die Haut und dann in den Schadel ein, bis er vor Schmerz zu schreien begann, einem unertraglichen, stechenden Schmerz. Doch war es genauso, als schreie er im Traum - obwohl er weit seinen Mund offnete, entlockte er ihm keinen Klang, der Schmerz steckte in ihm wie ein Lowe im Kafig, der sich blindwutig und qualvoll gegen das Gestange wirft. Dann bohrten sich die Finger in sein Gehirn, wahrend die Stimme des Druiden durchdringend und schneidend in seinen Ohren widerhallte. »La? mich ein«, schrie er donnernd und zischend. »La? mich ein!«

Und der Schrei fand seinen Weg, wie ein Todesschrei explodierte er urplotzlich in Aurelius' Innerem, dann sank der Legionar stohnend auf den Stein nieder und blieb reglos darauf liegen.

Er erwachte an einem ihm unbekannten Ort, von dichtester Finsternis umhullt. Erstaunt blickte er um sich, als suche er etwas, das ihn in die Wirklichkeit zuruckriefe. Vor sich erkannte er die dunklen Umrisse einer belagerten Stadt ... rings um die Stadtmauer brannten die Feuer in den Soldatenlagern. Uber ihm durchpflugten flammende Meteore mit einem grellen Zischen den Himmel. Doch klangen alle Tone wie auch die fernen, gedampften Stimmen so schwankend und verzerrt wie in einem Alptraum.

»Wo bin ich?« sagte er.

Die Stimme des Druiden ertonte hinter ihm: »In deiner Vergangenheit ... in Aquileia!«

»Das ist unmoglich ...«, antwortete er. »Ganz und gar unmoglich.«

Vor ihm in der Ferne taten sich die dunklen Umrisse eines baufalligen Aquadukts auf, zwischen dessen Pfeilern und Bogen zuweilen ein Licht auftauchte und wieder verschwand. Wieder erklang hinter ihm die Stimme von Myrdin Emreis: »Sieh, dort droben ist jemand.« Bei diesen Worten veranderte sich seine Sicht und wurde so scharf wie die eines Nachtvogels. Tatsachlich, dort oben stand eine Gestalt, die sich uber das Aquadukt bewegte. Ein Mann stapfte mit einer Laterne auf der zweiten Bogenreihe entlang. Plotzlich drehte er sich um, so da? die Laterne sein Gesicht beleuchtete.

»Das bist du!« sagte die Stimme hinter ihm.

Und plotzlich erschien es Aurelius, als packe ihn ein machtiger Windsto? und wirbele ihn wie ein Blatt umher. Jetzt war er es, der auf diesem baufalligen Aquadukt stand, und er hielt die Laterne in seiner Hand, wahrend eine Stimme aus der Finsternis sprach, die ihm mehr als vertraut war und ihn zusammenzucken lie?. »Hast du das Gold mitgebracht?« Gleich darauf tauchte ein Gesicht aus dem Dunklen auf: Wulfila!

»Alles, was ich besitze«, antwortete er und ubergab ihm die Borse.

Wulfila wog sie in der Hand. »Das ist nicht das, was wir ausgemacht hatten, aber ... ich werde es trotzdem nehmen.«

»Meine Eltern! Wo sind sie? Die Abmachung war, da? ...«

Unverwandt starrte ihn Wulfila an, sein versteinertes Gesicht verriet keinerlei Gemutsregung. »Du findest sie am Eingang der westlichen Nekropole. Sie sind sehr schwach und nicht imstande, hier heraufzusteigen.« Dann drehte er ihm den Rucken zu und verschwand in der Dunkelheit.

»Warte!« schrie er. Doch erhielt er keine Antwort. Er war allein und von Zweifeln gequalt. Das Licht der Laterne erzitterte. Und wieder erklang die Stimme seines Fuhrers in der Dunkelheit. »Du hattest keine andere Wahl ...«

Jetzt fand er sich unvermittelt am Fu? der Stadtmauer wieder, direkt vor einem Durchla?, der hinaus auf die Felder fuhrte. Das Tor zu offnen, bereitete ihm gro?e Muhe, doch schlie?lich trug er den Sieg uber den Rost und das Gewirr aus Pflanzen und Rankengewachsen davon, die es seit endlos langer Zeit versteckt und geheimhielten. Endlich stand er drau?en, die Laterne in der Hand. Vor ihm lagen die uralten Grabstatten der Totenstadt, die von der Zeit verwittert und mit Brombeerranken und Unkraut uberwuchert waren. Vorsichtig blickte er sich um. Das Gelande lag kahl und offen vor ihm, es schien vollig menschenleer. Mit leiser Stimme rief er: »Vater ...

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