sprechen wir entweder Norwegisch oder Englisch. Das macht gar keinen Unterschied. Wir beherrschen beide Sprachen flie?end, und ich muss zugeben, dass ich mich tiefer mit ihr verbunden fuhle als mit meiner Mutter.

Kurz nach meinem siebenten Geburtstag nahmen mich meine Eltern wie ublich mit, um bei meiner Gro?mutter in Norwegen Weihnachten zu feiern. Und dort geschah es, dass mein Vater und meine Mutter und ich bei Schnee und Eis nicht weit von Oslo auf der Stra?e fuhren: Unser Wagen geriet ins Rutschen, kam von der Stra?e ab und sturzte in eine Schlucht. Meine Eltern waren tot. Ich war auf dem Rucksitz fest angeschnallt gewesen und trug nur eine Schramme auf der Stirn davon.

Von diesem schrecklichen Nachmittag will ich nicht mehr erzahlen. Ich krieg immer noch das Zittern, wenn ich daran denke. Zum Schluss war ich naturlich wieder im Haus meiner Gro?mutter, und sie nahm mich fest in die Arme, und wir weinten miteinander die ganze lange Nacht.

«Was werden wir denn jetzt nur machen?», fragte ich sie beim Weinen.

«Du wirst hier bei mir bleiben», entgegnete sie, «und ich werde mich um dich kummern.» «Muss ich nicht nach England zuruck?»

«Nein», sagte sie. «Das konnte ich nicht uber mich bringen. Meine Seele soll gen Himmel fahren, aber meine Knochen sollen in Norwegen bleiben.»

Schon am nachsten Tag begann meine Gro?mutter, mir Geschichten zu erzahlen. Das tat sie wahrscheinlich, um uns beide aus unserer gro?en Traurigkeit zu holen. Sie war eine gro?artige Erzahlerin, und mich interessierte alles, was sie sagte. Aber so richtig in Schwung gekommen bin ich erst, als sie von den Hexen angefangen hat. Sie war offensichtlich eine gro?e Kennerin dieser Kreaturen, und sie machte mir unmissverstandlich klar, dass ihre Hexengeschichten im Gegensatz zu den anderen nichts Ausgedachtes waren. Sie beruhten alle auf Wahrheiten, so wie die Bibel. Sie waren Geschichte. Alles, was sie mir von Hexen erzahlte, hatte sich tatsachlich ereignet, und wenn ich klug ware, so glaubte ich es auch. Schlimmer war jedoch, weit, weit schlimmer, dass diese Hexen immer noch unter uns waren. Sie trieben sich ganz in unserer Nahe herum, und wenn ich klug ware, glaubte ich das auch.

«Sagst du wirklich die Wahrheit, Gro?mama? Wirklich und ehrlich die Wahrheit?»

«Mein Schatzelchen», sagte sie. «Du wirst nicht lang auf dieser Erde leben, wenn du nicht wei?t, wie man auf den ersten Blick eine Hexe erkennt.»

«Aber du hast mir doch erzahlt, dass Hexen wie normale Frauen aussehen, Gro?mama. Wie kann ich sie dann erkennen?»

«Hor mir genau zu», sagte meine Gro?mutter. «Du darfst nichts von dem vergessen, was ich dir erzahle. Und danach kannst du nur den Daumen halten und zum Himmel beten und auf das Beste hoffen.»

Wir sa?en in dem gro?en Wohnzimmer in ihrem Haus in Oslo, und ich war schon fertig zum Schlafengehen. Die Vorhange wurden in diesem Haus niemals zugezogen, so konnte ich durch die Fenster sehen, wie drau?en dicke Schneeflocken langsam zu Boden sanken, der kohlrabenschwarz war. Meine Gro?mutter war ungeheuer alt und runzlig, kraftig und dick und ganz und gar in graue Spitze gehullt. Sie thronte wie eine Konigin in ihrem Sessel und fullte ihn bis zur letzten Ritze aus. Nicht einmal eine Maus hatte sich noch neben sie quetschen konnen. Ich hockte, sieben Jahre alt, zu ihren Fu?en auf dem Teppich. Ich hatte meinen Pyjama an, Bademantel und Hausschuhe.

«Und schworst du, dass du mich nicht auf den Arm nimmst?», fragte ich immer wieder. «Schworst du, dass du mir nichts vormachst?»

«Hor zu», antwortete sie. «Ich kenne mindestens funf Kinder, die einfach vom Erdboden verschwunden sind. Nie wieder aufgetaucht. Das haben die Hexen getan.»

«Ich glaube immer, du willst mir nur Angst einjagen», sagte ich.

«Ich will nur verhindern, dass du auf die gleiche Art und Weise verschwindest», sagte sie. «Ich hab dich lieb, und ich mochte, dass du bei mir bleibst.»

«Erzahl mir von den Kindern, die verschwunden sind», sagte ich.

Meine Gro?mutter ist die einzige Gro?mutter gewesen, die ich je in meinem Leben habe Zigarren rauchen sehen. Sie zundete sich eine an, eine lange schwarze Zigarre, die nach versengtem Gummi stank. «Das erste Kind, das ich gekannt habe und das dann verschwunden ist», begann sie, «hie? Ranghild Hansen. Ranghild war damals ungefahr acht Jahre alt, und sie spielte mit ihrer kleinen Schwester auf dem Rasen. Ihre Mutter, die in der Kuche war und Brot backte, kam heraus, um Luft zu schnappen. <Wo ist denn Ranghild?), fragte sie.

<Sie ist mit der gro?en Dame fortgegangen), antwortete die kleine Schwester.

<Mit was fur einer gro?en Dame?), fragte die Mutter.

<Die gro?e Dame mit den wei?en Handschuhen), entgegnete die kleine Schwester. <Sie nahm Ranghild an der Hand und fuhrte sie fort.) Und niemand», schloss meine Gro?mutter, «hat Ranghild jemals wieder gesehen.»

«Haben sie nicht nach ihr gesucht?», fragte ich.

«Meilenweit in der ganzen Umgebung. Jeder in der Stadt hat geholfen, aber wir haben sie niemals gefunden.»

«Was ist mit den anderen vier Kindern passiert?», fragte ich.

«Sie sind genauso verschwunden wie Ranghild.» «Wie denn, Gro?mama? Wie sind sie verschwunden?»

«In jedem dieser Falle hat man eine fremde Dame vorm Haus gesehen. Kurz bevor es geschah.»

«Aber wie sind sie verschwunden?», fragte ich weiter.

«Mit dem zweiten war das sehr merkwurdig», antwortete meine Gro?mutter. «Diese Familie hie? Christiansen. Sie lebten oben in Holmenkollen, und in ihrem Wohnzimmer hing ein altes Olgemalde, auf das sie sehr stolz waren. Es stellte ein paar Enten dar, vor einem Bauernhaus. Keine Leute, nur diese Enten auf einer Wiese und im Hintergrund das Bauernhaus. Es war ein ziemlich gro?es Gemalde und wirklich sehr schon. Nun gut, eines Tages kam ihre Tochter Solveg aus der Schule und a? einen Apfel. Sie sagte, eine nette Frau hatte ihn ihr auf der Stra?e geschenkt. Am nachsten Morgen lag die kleine Solveg nicht in ihrem Bett. Die Eltern suchten uberall, aber sie konnten sie nicht finden. Dann schrie ihr Vater plotzlich: <Da ist sie ja! Das ist Solveg, sie futtert die Enten!> Er deutete auf das Olgemalde, und wahrhaftig, da war Solveg geblieben. Sie stand mitten auf der Wiese und war dabei, die Enten mit altem Brot zu futtern, das sie in einem Korb trug. Der Vater sturzte zu dem Gemalde und beruhrte sie. Das nutzte aber gar nichts. Sie war einfach ein Teil des Gemaldes geworden, ein Bild, auf Leinwand gemalt.»

«Hast du das Gemalde selber gesehen, Gro?mama, mit dem kleinen Madchen drauf?»

«Viele, viele Male», erwiderte meine Gro?mutter. «Und das Merkwurdigste war, dass die kleine Solveg ihre Stellung auf dem Bilde immer wieder wechselte. Eines Tages war sie zum Beispiel im Bauernhaus drin, und man konnte ihr Gesicht erkennen, hinter dem Fenster. Und an einem anderen Tag stand sie ganz weit links und hatte eine Ente im Arm.»

«Hast du gesehen, wie sie sich auf dem Bild bewegt hat, Gro?mama?»

«Das ist niemandem gelungen. Ob sie nun drau?en die Enten gefuttert hat oder drinnen aus dem Fenster geschaut hat, sie war steif und still, einfach eine in Ol gemalte Figur. Das war schon sehr merkwurdig», sagte meine Gro?mutter, «wirklich sehr merkwurdig. Und noch merkwurdiger war: So wie die Jahre vergingen, so wurde sie auf diesem Bilde auch immer alter. Nach zehn Jahren war eine junge Frau aus dem kleinen Madchen geworden. Nach drei?ig Jahren begann sie altlich zu werden. Und dann plotzlich, 54 Jahre nachdem das alles geschehen war, war sie vollkommen aus dem Bilde verschwunden.»

«Glaubst du, dass sie gestorben ist?», fragte ich.

«Wer wei??», gab meine Gro?mutter zuruck. «Es gibt sehr merkwurdige Dinge in der Welt der Hexen.»

«Jetzt hast du mir von zweien erzahlt», stellte ich fest. «Was ist mit der dritten passiert?»

«Die dritte war die kleine Birgit Svenson», sagte meine Gro?mutter. «Sie wohnte uns gegenuber, auf der anderen Seite der Stra?e. Eines Tages begannen ihr am ganzen Korper Federn zu wachsen. Innerhalb eines Monats hatte sie sich in ein gro?es wei?es Huhn verwandelt. Ihre Eltern hielten sie sich jahrelang im Hintergarten in einem Kafig. Sie hat sogar Eier gelegt.»

«Was fur eine Farbe hatten die Eier?», fragte ich.

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