Tisch gleiten. «Lauf, Schatzelchen, lauf!», flusterte sie, und dann richtete sie sich wieder auf.

Ich war nun ganz auf mich gestellt. Ich umklammerte das Flaschchen. Ich wusste genau, wo sich die Tur zur Kuche befand. Ich musste, um sie zu erreichen, fast um den halben riesigen Saal herumrennen. Also los, dachte ich und huschte wie ein Blitz unter dem Tisch hervor und flitzte zur Wand. Ich hatte nicht die Absicht, quer durch den Speisesaal zu laufen. Das war viel zu riskant. Mein Plan bestand darin, mich dicht an die Fu?leiste unten an der Wand zu halten und ihr zu folgen, bis ich auf die Kuchentur stie?.

Ich rannte. Ach, und wie ich rannte! Ich glaube nicht, dass mich jemand sah. Sie waren alle viel zu sehr mit dem Essen beschaftigt. Aber um die Tur zu erreichen, die in die Kuche fuhrte, musste ich den Haupteingang in den Speisesaal uberqueren. Ich war gerade dabei, Anlauf zu nehmen, da stromte eine gro?e Horde von Damen herein. Ich schmiegte mich an die Wand und presste das Flaschchen an mich. Zuerst sah ich nur die Schuhe und die Fesseln dieser Frauen, die durch die Tur quollen, als ich aber etwas hoher blickte, erkannte ich sie gleich. Die Hexen versammelten sich zum Abendessen.

Ich wartete, bis sie alle an mir vorbeigegangen waren, dann flitzte ich zur Kuchentur. Ein Kellner stie? sie gerade auf, um hineinzugehen. Ich trippelte hinter ihm her und versteckte mich sofort hinter einem gro?en Mullkubel. Ich blieb dort ein paar Minuten verborgen und horte nur zu, wie sie schwatzten und spektakelten.

Meine Gute, was war diese Kuche fur ein Ort! Dieser Krach! Und diese Dampfschwaden! Und das Geklapper von Topfen und Pfannen und das Durcheinandergeschrei der Koche! Und dazu noch die Kellner, die unaufhorlich vom Speisesaal raus und rein eilten und den Kochen die Bestellungen zuriefen! «Vier Suppen und zwei Lamm und zwei Fisch fur Tisch 28! Drei Apfelauflauf und zwei Erdbeereis fur Nummer 17!» So ging das die ganze Zeit.

Uber mir, aber nicht weit von meinem Kopf entfernt, war ein Griff, der seitlich an dem Abfallkubel sa?. Ohne das Flaschchen loszulassen, machte ich einen Satz, uberschlug mich in der Luft und erwischte den Griff mit meiner Schwanzspitze. Plotzlich schaukelte ich hin und her und rauf und runter. Ich war vor Entzucken ganz au?er mir. Das war herrlich! So, sagte ich mir, muss sich ein Trapezkunstler fuhlen, wenn er sich hoch oben durch die Zirkuskuppel schwingt. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sein Trapez nur vorwarts und ruckwarts schaukeln konnte. Mein Trapez jedoch, mein Schwanz, konnte mich in jeder Richtung schaukeln lassen, die ich wunschte.

Vielleicht wurde ich am Ende noch eine Zirkusmaus werden.

In diesem Augenblick kam ein Kellner mit einem Teller in der Hand herein, und ich horte, wie er sagte: «Die alte Ziege von Tisch 14 sagt, dies Fleisch hier sei zah. Sie will eine andere Portion!» Einer der Koche antwortete: «Los, gib mir ihren Teller!» Ich lie? mich auf den Boden fallen und lugte um den Mullkubel. Ich sah, wie der Koch das Fleisch vom Teller gleiten lie? und wie er eine andere Scheibe draufklatschte. Dann sagte er: «Los, Jungs, gebt ihr ein bisschen So?e!» Er machte mit dem Teller eine Runde durch die Kuche, und wisst ihr, was sie gemacht haben? Jeder von diesen Kochen und Kuchenjungen hat einmal auf den Teller der alten Dame gespuckt! «So, woll'n mal sehn, wie ihr das schmeckt!», sagte der Koch und gab dem Kellner den Teller zuruck.

Kurz darauf kam wieder ein Kellner hereingeeilt und rief: «Alle von der gro?en KGVK-Gesellschaft wollen die Suppe!» Das war der Augenblick! Ich war jetzt ganz Ohr. Ich beugte mich ein bisschen weiter hinter dem Abfalleimer hervor, sodass ich alles verfolgen konnte, was in der Kuche passierte. Ein Mann mit einer hohen wei?en Mutze, der der Chefkoch gewesen sein muss, rief mit lauter Stimme: «Die Suppe fur die gro?e Gesellschaft in die gro?ere Silberterrine!»

Ich sah, wie der Chefkoch eine riesige silberne Suppenschussel auf das holzerne Seitenbrett stellte, das an der gegenuberliegenden Wand von einem Ende bis zum anderen reichte. In diese silberne Schussel kommt also die Suppe, sagte ich mir Da hinein muss also auch der Inhalt von meiner kleinen Flasche.

Ich sah, dass uber diesem Seitenbrett ziemlich hoch und fast unter der Decke ein fast ebenso langes Regal angebracht war, das mit Kasserollen und Bratpfannen voll gepackt war. Wenn ich es irgendwie schaffe, auf dieses Regal zu kommen, dachte ich, dann ist die Sache geritzt. Dann werde ich namlich direkt uber der silbernen Suppenschussel sein.

Aber zuerst musste ich irgendwie quer durch die Kuche auf die andere Seite kommen und dann auch noch hinauf auf das Regal. Da hatte ich eine gro?artige Idee! Ich sprang abermals in die Hohe und schlang meinen Schwanz um den Griff des Mullkubels. Dann begann ich, Schwanz oben, Kopf unten, zu schaukeln. Ich schwang mich immer hoher. Ich dachte dabei an den Trapezkunstler im Zirkus, den ich vorige Ostern gesehen hatte, und wie er das Trapez immer hoher und hoher hatte schwingen lassen und wie er es dann loslie? und durch die Luft flog. Genauso machte ich es. Im richtigen Moment, also am hochsten Punkt meines Schwunges, lie? ich meinen Schwanz los und segelte sauber quer durch die Kuche und setzte zu einer perfekten Landung auf dem mittleren Regal auf.

Вonnerwetter, dachte ich, was konnenMause alles machen!

Und dabei stehe ich  doch erst am Anfang!

Keiner hatte mich gesehen.

Sie waren alle viel zu sehr mit ihren Topfen und Pfannen beschaftigt. Von dem mittleren Regal aus schaffte ich es irgendwie, an einem kleinen Wasserrohr in der Ecke hoher zu krabbeln, und im Handumdrehen befand ich mich oben auf dem hochsten Regal fast unter der Decke, zwischen lauter Kasserollen und Bratpfannen. Ich wusste, dass mich hier oben keiner sehen konnte. Es war eine hervorragende Position, und ich begann, mir auf dem Regal einen Weg zu bahnen, bis ich mich direkt uber der gro?en leeren silbernen Terrine befand, in die sie die Suppen fullen wollten. Ich stellte mein Flaschchen hin. Ich schraubte die Kappe ab und kroch an den Rand des Regals und kippte den Inhalt in die Silberterrine da unten. Im nachsten Augenblick kam schon einer der Koche mit einem machtigen Topf, in dem die grune Suppe dampfte, und goss die ganze Geschichte in die Terrine. Dann setzte er den Deckel drauf und rief: «Suppe fur die gro?e Gesellschaft kann raus!» Daraufhin erschien ein Kellner und trug die Silberterrine fort.

Ich hatte es geschafft! Selbst wenn ich jetzt nicht mehr lebendig zu meiner Gro?mutter zuruckkame, wurden die Hexen ihren Mausemacher bekommen! Ich lie? das leere Flaschchen hinter einem gro?en Stieltopf stehen und machte mich oben auf dem Regal auf den Ruckweg. Ohne Flasche kam ich viel besser voran. Ich begann mehr und mehr, meinen Schwanz zu benutzen. Ich turnte von einem Topfgriff zum nachsten, wahrend tief unter mir Koche und Kellner hin und her wuselten und Kessel dampften und Topfe brodelten und Pfannen zischelten, und ich dachte: Oh, Junge, das ist das wahre Leben! Was fur eine Wonne, eine Maus zu sein und solche abenteuerlichen Aufgaben zu erledigen! Ich schaukelte ununterbrochen weiter. Ich hing und hangelte, flog und schwebte aufs herrlichste von Griff zu Griff, und ich genoss das so in vollen Zugen, dass ich vollkommen verga?, wie sehr ich mich da vor aller Augen bewegte, falls einer in der Kuche zufallig nach oben schaute.

Was als Nachstes geschah, passierte so rasch, dass ich keine Zeit mehr hatte, mich zu retten. Ich horte eine Mannerstimme schreien: «Eine Maus! Schaut euch diese dreckige kleine Maus an!» Ich erhaschte einen Blick auf eine wei? gekleidete Gestalt mit einer hohen Kochmutze unter mir, und dann blitzte Stahl auf, als das Tranchiermesser durch die Luft fuhr, und dann schoss mir der Schmerz durch die Schwanzspitze, und plotzlich sturzte ich und knallte mit dem Kopf zuerst auf den Kuchenboden.

Schon als ich fiel, wusste ich genau, was passiert war. Ich wusste, dass mir die Schwanzspitze abgehauen worden war und dass ich auf den Boden krachen wurde und dass sich alle Mann in der Kuche auf mich sturzen wurden.

«Eine Maus!», schrien sie. «Eine Maus! Eine Maus! Schnell, fangt sie!»

Ich prallte auf den Boden, sprang sofort auf und rannte um mein Leben. Uberall um mich herum waren diese gro?en schwarzen Stiefel und traten zu und knallten auf die Kacheln und ich wieselte zwischen ihnen hindurch und rannte und rannte und drehte und wendete mich und schlug Haken und flitzte quer uber den Kuchenboden.

«Fangt sie!», riefen sie. «Erschlag sie! Tritt doch drauf!»

Der ganze Fu?boden schien voll von schwarzen Stiefeln zu sein, die mich tottreten wollten, und ich duckte mich und drehte mich und hupfte und sprang und schnellte hin und her und machte wilde Satze und dann, aus reiner Verzweiflung und ohne dass ich wusste, was ich tat, nur um ein Platzchen zu finden, wo ich mich verbergen

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