Mund stopfen.«
»Und Sie betrachten diese Tatsache als Beweis?«, fragte Poirot.
»Naturlich. Sie etwa nicht?«
»Nein.« Poirot schuttelte den Kopf. »Eine Erpressung lag offensichtlich vor. Den Beweis dafur sehe ich als erbracht an. Aber der Vorsatz, einen Mord zu begehen? Nein,
»Das stimmt, aber vielleicht hat er seine Absicht geandert.«
Poirot zuckte zweifelnd die Achseln.
»Sie nehmen gro?es Interesse an diesem Fall, Monsieur Poirot«, meinte der Inspektor. »Darf ich fragen, wieso?«
»Ehrlich gesagt – « Poirot streckte seine Arme in einer etwas pathetischen Geste aus – »wei? ich das selbst nicht so genau. Sie erinnern sich, dass ich Ihnen erzahlte, wie ich in einem Club zufallig anwesend war, als Major Porter die Cloades und diesen Robert Underhay erwahnte?«
Spence nickte.
»Damals dachte ich: eine interessante Situation. Wer wei?, ob daraus nicht eines Tages etwas entsteht.«
»Und das Unerwartete ist eingetroffen, wie?«, fugte der Inspektor hinzu.
»Nein, das Erwartete«, verbesserte Poirot ihn.
»Haben Sie denn einen Mord erwartet?«, forschte Spence unglaubig.
»Nein, nein, naturlich keinen Mord«, wehrte Poirot ab. »Aber nehmen Sie die Tatsachen: Eine Frau heiratet zum zweiten Mal. Die Moglichkeit besteht, dass der erste Mann noch lebt. Und
»Tja«, meinte Spence zweifelnd. »Das sieht doch alles nach dem Schema-F-Mordfall aus. Erpressung, aus der sich ein Mord ergibt.«
»Und Sie finden das nicht interessant?«, erkundigte sich Poirot. »Solange es sich wirklich nur um den gewohnlichen Schema-F-Mordfall handelt, haben Sie Recht. Aber in diesem Fall liegen die Dinge anders, und das macht die Sache so uberaus interessant. Nichts stimmt bei diesem Mord.«
»Nichts stimmt? Was meinen Sie damit?«
»Wie soll ich mich ausdrucken?« Poirot suchte nach Worten. »Das Muster ist falsch, es ist verzerrt.«
»Das mussen Sie mir erklaren«, sagte Spence geradeheraus. »Da komme ich nicht mit.«
»Nun, nehmen wir einmal den Toten. Es fangt schon mit ihm an, denn mit ihm stimmt etwas nicht.«
Spence machte ein zweifelndes Gesicht.
»Haben Sie denn nicht auch das Gefuhl, dass mit dem Mann etwas nicht in Ordnung war?«, fragte Poirot. »Aber machen wir weiter. Moglich, dass ich die Dinge in einem eigenen Licht sehe. Underhay taucht im ›Hirschen‹ auf. Er schreibt einen Brief an Hunter. Hunter erhalt diesen Brief am nachsten Morgen beim Fruhstuck. Und was ist seine unmittelbare Reaktion? Er schickt seine Schwester Hals uber Kopf nach London.«
»Dabei kann ich nichts weiter finden«, meinte Spence. »Hunter schickte seine Schwester weg, um sie aus dem Weg zu haben und allein mit Underhay verhandeln zu konnen.«
»Schon, lassen wir sein Motiv fur dieses plotzliche Wegschicken der Schwester aus dem Spiel. Hunter sucht Enoch Arden auf, und aus dem Bericht Beatrice Lippincotts uber das belauschte Gesprach wissen wir eindeutig, dass David Hunter nicht sicher war, ob der Mann, mit dem er sprach, Robert Underhay war oder nicht. Er vermutete es, wusste es aber nicht.«
»Sie finden es sonderbar«, hakte Inspektor Spence ein, »dass dieser Enoch Arden nicht rundheraus sagte: ›Ich bin Robert Underhay‹, ja? Aber auch das lasst sich erklaren. Wenn anstandige Leute sich dazu verleiten lassen, ein krummes Ding zu drehen, verzichten sie gern darauf, ihren richtigen Namen zu nennen. Das ist die menschliche Natur.«
»Die menschliche Natur, jawohl«, wiederholte Poirot. »Das ist wahrscheinlich die beste Antwort auf die Frage, was mich an diesem Fall so interessiert. Ich habe mir wahrend der Verhandlung die Anwesenden in Ruhe betrachtet. Nehmen wir zum Beispiel die Cloades. Da sa?en sie alle beisammen, eine Familie, verbunden durch die gleichen Interessen und doch so grundverschieden in ihren Charakteren, Gedanken und Lebensauffassungen. Und sie alle verlie?en sich jahraus, jahrein auf den starken Mann, auf Gordon Cloade. Sie klammerten sich an ihn. Und was geschieht, Inspektor Spence, wenn die Eiche, um die sich der Efeu gerankt hat, plotzlich gefallt wird?«
»Die Frage schlagt nicht in mein Fach«, wehrte der Inspektor lachelnd ab.
»Ich glaube doch. Charakter,
»Ich wei? nicht recht, worauf Sie hinauswollen.« Spence sah etwas verwirrt drein. »Die Cloades machen alle einen guten Eindruck auf mich. Es ist eine anstandige Familie, und Sie werden sehen, wenn der Prozess erst vorbei ist, werden sie alle tadellos dastehen.«
»Wir haben immer noch Mrs Gordon Cloades Aussage«, fuhr Poirot fort. »Schlie?lich ist anzunehmen, dass eine Frau ihren eigenen Mann erkennt, wenn sie ihn sieht.«
Er blinzelte zu dem ihn uberragenden Inspektor auf.
»Wenn ein Millionenvermogen auf dem Spiel steht, lohnt sich’s vielleicht fur eine Frau, ihren Mann nicht zu erkennen«, gab Spence zuruck. »Und au?erdem – wenn der Mann nicht Robert Underhay war, warum wurde er dann ermordet?«
»Das ist eben die gro?e Frage«, murmelte Hercule Poirot.
24
Als Poirot am Abend dieses Tages in den »Hirschen«, zuruckkehrte, blies ein scharfer Ostwind. Frostelnd betrat der Detektiv die – wie stets – verlassen und ode daliegende Halle.
Er stie? die Tur zum Salon auf, aber das nur noch glimmende Feuer im Kamin und der unangenehme Geruch erkalteter Zigarrenasche waren wenig verlockend.
Poirot durchschritt die Halle und offnete die Tur mit der Aufschrift: »Nur fur Gaste.«
Hier knisterte ein behagliches Feuer im Kamin, aber in einem der Sessel hatte sich eine alte Dame von Achtung gebietendem Umfang niedergelassen, und der emporte Blick, den sie dem Eindringling zuwarf, war so durchdringend, dass Poirot sich nur widerstrebend naherte.
»Dieser Salon ist fur die Gaste des Hotels reserviert«, belehrte sie ihn mit zurnender Stimme.
»Ich gehore zu den Gasten des Hotels«, klarte Poirot sie hoflich auf.
Die alte Dame uberdachte das Gehorte einen Augenblick, bevor sie ihre Attacke wieder aufnahm.
»Sie sind ein Auslander«, war ihre nachste, keineswegs freundliche Feststellung.
»Jawohl.«
»Meiner Meinung nach sollten sie alle zuruckgehen«, trompetete die alte Dame.
»Zuruckgehen? Wohin?«, erkundigte sich Poirot verstandnislos.
»Dorthin, woher sie gekommen sind.«
Und mit etwas gedampfter Stimme und verachtlich heruntergezogenen Mundwinkeln fugte sie hinzu:
»Auslander!«
»Das durfte schwer sein.«
Poirot behielt seinen zuruckhaltend hoflichen Ton bei.