»Ja. Vier Minuten nach elf Uhr wurde Warmsley Vale Nummer 36 – das ist die Nummer der Marchmonts – von London aus verlangt.«
»Sehr interessant«, murmelte Poirot.
Spence hielt sich weiter an sein Notizbuch und ging methodisch alle Angaben durch.
»Rowley Cloade verlie? Arden funf Minuten vor neun. Zehn Minuten nach neun sieht Miss Marchmont David Hunter am Waldrand oben. Selbst wenn wir annehmen, dass er den ganzen Weg vom ›Hirschen‹ bis zum Waldrand hinauf gerannt ist, kann er nicht genugend Zeit gehabt haben, sich mit Arden zu streiten, ihn zu ermorden und dann noch zum Waldrand hinaufzulaufen. Aber abgesehen davon, stehen wir jetzt sowieso wieder am Anfang unserer Untersuchungen. Denn durch die Aussage der alten Dame wissen wir, dass Arden um zehn nach zehn noch am Leben war. Entweder wurde der Mord von der Frau mit dem orangenen Schal, die den Lippenstift verlor, begangen, oder es ist ein uns noch Unbekannter bei Arden eingedrungen, nachdem die Frau ihn verlassen hatte. Wer es auch gewesen sein mag, er hat jedenfalls die Zeiger der Armbanduhr absichtlich zuruckgestellt auf zehn Minuten nach neun.«
»Eine Tatsache, die fur David Hunter au?erordentlich belastend geworden ware, hatte er nicht das Gluck gehabt, auf dem Weg zum Bahnhof Lynn Marchmont zu treffen. Andere Zeugen hatte er nicht gehabt«, warf Poirot ein.
»Woran denken Sie, Monsieur Poirot?«, fragte Spence, von seinen Notizen aufblickend.
»Eine Begegnung am Waldrand… spater ein Telefonanruf… und Lynn Marchmont ist mit Rowley Cloade verlobt… Ich gabe viel darum, wusste ich, was in diesem Telefongesprach gesagt wurde.«
25
Obwohl es spat geworden war, beschloss Hercule Poirot, noch einen Besuch zu machen.
Er lenkte seine Schritte Jeremy Cloades Haus zu.
Das Madchen fuhrte ihn in das Arbeitszimmer des Hausherrn.
Allein gelassen, blickte Poirot sich um. Auf dem Schreibtisch stand ein gro?es Bild Gordon Cloades. Daneben befand sich eine bereits etwas verblasste Fotografie Lord Edward Trentons zu Pferde. Poirot studierte gerade Lord Trentons Gesichtszuge, als Jeremy Cloade das Zimmer betrat.
»Verzeihung.«
Poirot stellte das Bild zuruck.
»Der Vater meiner Frau«, erklarte Jeremy Cloade, nicht ohne leisen Stolz in der Stimme. »Aber womit kann ich Ihnen dienen?«
Er deutete auf einen Sessel, und Poirot nahm Platz.
»Ich wollte Sie fragen, Mr Cloade, ob Sie ganz sicher sind, dass Ihr Bruder kein Testament hinterlassen hat?«
»Ich halte es fur ausgeschlossen, Monsieur Poirot. Man hat nichts gefunden. Gordon pflegte alle wichtigen Papiere in seinem Buro aufzubewahren, und dort ist alles genau untersucht worden. Das Wohnhaus selbst ist ja beinahe ganz zerstort worden beim Angriff.«
»Aber es konnte immerhin moglich sein, dass sich in den Trummern noch etwas findet. Man sollte Nachforschungen anstellen. Ich wurde es begru?en, wenn Sie mich ermachtigten, die erforderlichen Schritte zu unternehmen, Mr Cloade.«
»Naturlich, naturlich«, beeilte sich Jeremy* Cloade zu versichern. »Sehr freundlich von Ihnen, sich dieser Aufgabe unterziehen zu wollen. Nur furchte ich, Ihre Muhe wird von keinem Erfolg gekront sein. Aber immerhin… Sie beabsichtigen also, nach London zuruckzukehren?«
Poirots Lider senkten sich uber die Augen, bis diese nur noch schmale Schlitze waren. Ein sonderbarer Eifer hatte in Jeremy Cloades Stimme mitgeschwungen. Schon wahrend einer kurzen Unterhaltung mit Rowley Cloade war ihm aufgefallen, dass es der Familie Cloade anscheinend nicht recht war, dass er, Poirot, sich noch immer in Warmsley Vale aufhielt. Sie hatten ihn gerufen, doch jetzt wunschten sie ihn offensichtlich so schnell wie moglich wieder weg. Was steckte dahinter?
Bevor er auf Jeremys Frage antworten konnte, offnete sich die Tur, und Frances Cloade trat ein.
Zwei Dinge fielen Poirot sofort auf. Erstens, dass Frances Cloade schlecht aussah, und zweitens, dass sie ihrem Vater sehr ahnelte.
»Monsieur Poirot stattet uns einen Besuch ab, meine Liebe«, teilte Jeremy Cloade vollig uberflussigerweise mit.
Er berichtete seiner Frau von Poirots Plan, in London nach einem eventuell doch vorhandenen Testament zu forschen.
»Ich halte jede Suche fur aussichtslos«, meinte Frances.
»Wenn ich recht unterrichtet bin, war Major Porter dem Luftschutz in dieser Gegend Londons zugeteilt«, warf Poirot ein.
Ein sonderbarer Ausdruck trat in Mrs Cloades Augen.
»Wer ist eigentlich dieser Major Porter?«, erkundigte sie sich.
»Ein pensionierter Offizier.«
»War er wirklich in Afrika?«
Poirot warf ihr einen verwunderten Blick zu.
»Naturlich, Madame. Wieso sollte er nicht dort gewesen sein?«
»Ach, nur so«, erwiderte Frances Cloade geistesabwesend, »Jeremy, ich habe mir uberlegt, dass Rosaleen Cloade sich furchtbar einsam in Furrowbank fuhlen mu?. Hast du etwas dagegen, dass ich sie auffordere, zu uns zu ziehen?«
»Bist du der Meinung, dass das ratsam ware?«, meinte Jeremy zweifelnd.
»Ratsam? Mein Gott, ich wei? nicht. Aber sie ist ein so hilfloses Geschopf. Man muss ihr doch beistehen.«
Ruhig erwiderte der Anwalt.
»Wenn es dich glucklicher macht, meine Liebe.«
»Glucklicher!«, entfuhr es Frances.
»Ich werde mich jetzt verabschieden.«
Hercule Poirot erhob sich.
»Sie fahren jetzt gleich nach London zuruck?«, fragte Frances, ihn in die Halle begleitend.
»Morgen. Aber nur fur vierundzwanzig Stunden, dann kehre ich hierher – in den ›Hirschen‹ – zuruck, wo Sie mich jederzeit finden konnen, Madame, falls Sie mich brauchen.«
»Wieso sollte ich Sie brauchen?«, kam es scharf von Frances’ Lippen.
Poirot antwortete nicht auf die Frage. Er wiederholte nur:
»Sie finden mich im ›Hirschen‹.«
Spater in der Nacht sagte Frances Cloade zu ihrem Mann: »Was sollen wir nur tun, Jeremy? Was sollen wir nur tun?« Es verging ein Weilchen, bevor Jeremy Cloade leise entgegnete:
»Es gibt nur einen Ausweg, Frances.«
26
Versehen mit der Vollmacht Jeremy Cloades hatte Poirot in London alle Auskunfte erhalten, an denen ihm lag. Sie lie?en wenig Hoffnung. Das Haus, in dem Gordon Cloade umgekommen war, lag in Trummern. Au?er Mrs Cloade und David Hunter hatte keiner der Bewohner den Bombenangriff uberlebt. Drei Dienstboten hatten sich au?er der Familie im Haus befunden: Frederick Game, Elisabeth Game und Eileen Corrigan. Alle drei waren auf der Stelle tot gewesen. Gordon Cloade wurde noch lebend geborgen, starb aber auf dem Weg ins Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Poirot notierte sich die Namen und Adressen je eines nahen Verwandten der