Das Dienstmadchen empfing sie mit der Mitteilung, dass Madame noch nicht aufgestanden sei und sie nicht wisse, ob sie die Herrschaften zu empfangen wunsche.

Poirot blickte sich in dem Salon um. Er war teuer und gut eingerichtet, doch fehlte dem Raum jegliche personliche Note.

Rosaleen Cloade hatte offensichtlich in Furrowbank gewohnt, wie ein Fremder in einem guten Hotel wohnt.

»Ob wohl auch die andere – «, murmelte Poirot, aber er vollendete den Satz nicht.

Das Madchen kam ins Zimmer gerannt, Entsetzen in den Augen, und rief: »O Miss Marchmont, Madame liegt oben… es ist schrecklich… sie ruhrt sich nicht, und ich kann sie nicht wachkriegen, und ihre Hande sind so kalt.«

Ohne eine Sekunde zu verlieren, lief Poirot die Treppe hinauf. Lynn und das Madchen folgten. Oben deutete das Madchen auf eine der Turen.

Es war ein prachtvoll ausgestattetes Zimmer. Die Sonne schien hell durch die weit offenen Fenster herein und uberglanzte die kostbaren pastellfarbenen Teppiche.

In dem gro?en geschnitzten Bett lag Rosaleen Cloade. Die langen Wimpern hoben sich von den blassen Wangen ab. Sie hielt ein zerknulltes Taschentuch in der Hand und sah aus wie ein trauriges Kind, das sich in den Schlaf geweint hat.

Poirot fuhlte ihren Puls. Er sah seine Befurchtungen bestatigt.

»Sie muss im Schlaf gestorben sein«, sagte er leise zu Lynn. »Es scheint schon einige Zeit her zu sein.«

»Was sollen wir nur tun? Was sollen wir nur tun?«, jammerte das Madchen.

»Wer war ihr Arzt?«, erkundigte sich Poirot kurz.

»Onkel Lionel«, antwortete Lynn.

»Rufen Sie Dr. Cloade an«, befahl er dem schluchzenden Madchen, das sofort das Schlafzimmer verlie?, um seine Anordnung auszufuhren.

Poirot sah sich um. Auf dem Nachttisch lag eine wei?e Schachtel mit der Aufschrift: »Allabendlich vor dem Schlafengehen ein Pulver.« Seine Hand vorsichtig mit seinem Taschentuch umwickelt, offnete er das Schachtelchen. Drei Pulver waren ubrig geblieben. Poirot wandte sich dem Schreibtisch zu. Der davor stehende Stuhl war beiseite geschoben, auf der Platte lag ein Bogen Papier, auf dem mit ungeschickter, kindlicher Hand geschrieben stand:

»Ich wei? nicht, was ich tun soll. Ich kann nicht mehr weiter. Ich bin schlecht. Ich muss mich einer Menschenseele anvertrauen, sonst komme ich nie mehr zur Ruhe. Ich wollte nichts Schlechtes tun. Ich habe nicht gewusst, dass es so werden wird. Ich muss es niederschreiben – «

Doch weiter war die Schreiberin nicht gekommen. Die Feder lag noch neben dem Papier, achtlos hingeworfen.

Lynn stand neben dem Bett, als die Tur aufgerissen wurde und David Hunter, atemlos vom schnellen Laufen, ins Zimmer sturzte.

»David! Hat man dich freigelassen? Ich bin so froh – «

Er beachtete sie uberhaupt nicht, sondern eilte an ihr voruber zum Bett.

»Rosa! Rosaleen!«

Er beruhrte die kalte Hand. Dann fuhr er wie ein Wahnsinniger herum und spruhte Lynn aus wutblitzenden Augen an.

»Habt ihr sie ermordet, ja? Habt ihr sie aus dem Weg geschafft? Mich hat man mit einer hinterlistigen, erlogenen Anklage ins Gefangnis gesteckt, um freies Spiel zu haben, und dann habt ihr euch verschworen und Rosaleen ermordet. Morder!«

»Nein, David!«, rief Lynn zitternd. »Wie kannst du das denken. Keiner von uns wurde so etwas tun. Niemals.«

»Einer von euch hat sie ermordet, Lynn Marchmont«, fuhr David sie kalt an. »Und du wei?t es so genau, wie ich es wei?.«

»Bevor sie sich letzte Nacht zu Bett begab, schrieb sie dies hier«, mischte sich Poirot ruhigen Tones ein und deutete auf den Schreibtisch.

David wandte sich sofort dem Briefbogen zu, aber Poirot warnte ihn noch rechtzeitig, das Papier nicht zu beruhren. Die Hande hinter dem Rucken verschrankt, las David die wenigen Zeilen.

»Und wollen Sie vielleicht behaupten, sie hatte Selbstmord begangen?«, rief er. »Weshalb hatte Rosaleen Selbstmord begehen sollen?«

Die Stimme, die die Frage beantwortete, gehorte nicht Poirot, sondern – Inspektor Spence.

Der Inspektor stand auf der Schwelle.

»Angenommen, Mrs Cloade war letzten Dienstag nicht in London, sondern in Warmsley Vale? Angenommen, sie suchte den Mann auf, der versucht hatte, sie zu erpressen? Angenommen, sie ermordete ihn in einem Anfall hysterischer Wut?«

»Meine Schwester war letzten Dienstag in London«, entgegnete David heftig. »Sie befand sich in unserer dortigen Wohnung, als ich um elf Uhr heimkam.«

»Das behaupten Sie, Mr Hunter«, sagte Spence. »Und ich nehme an, dass Sie an dieser Geschichte festhalten werden. Aber niemand kann mich zwingen, sie zu glauben. Abgesehen davon« – er deutete auf das Bett –, »ist es zu spat. Der Fall wird nie vor Gericht kommen.« 

31

»Er will es nicht zugeben«, sagte Inspektor Spence, »aber ich glaube, er wei?, dass sie den Mord begangen hat.« Er blickte uber seinen Schreibtisch hinweg Poirot an, der ihm gegenubersa?.

»Es ist doch merkwurdig, wie wir immer an seinem Alibi herumratselten und nie auf den Gedanken kamen, einmal Rosaleen Cloades Angaben zu uberprufen. Dabei haben wir nur David Hunters Aussage, dass seine Schwester sich wirklich am Dienstagabend in ihrer Londoner Wohnung befand. Uber sie selbst habe ich mir nie den Kopf zerbrochen. Sie war so ein unbedeutendes Personchen, wirkte fast ein wenig beschrankt, aber darin liegt wahrscheinlich die Erklarung.«

Poirot verhielt sich still. Der Inspektor fuhr fort:

»Sie muss Arden in einem Anfall hysterischer Wut erschlagen haben. Er vermutete keine Gefahr bei ihrem Besuch. Wie sollte er auch! Aber etwas will mir nicht in den Kopf. Wer hat Major Porter bestochen, eine falsche Aussage zu machen?«

»Ich hatte es wissen mussen. Major Porter selbst hat es mir gesagt«, entgegnete Hercule Poirot.

»Er selbst hat es Ihnen gesagt?«

»Nicht direkt naturlich. Eine Bemerkung von ihm verriet es. Er war sich dessen gar nicht bewusst.«

»Und wer war es?«, fragte Spence ungeduldig.

Poirot neigte seinen Kopf etwas zur Seite und sah schrag zu dem Inspektor auf.

»Darf ich Ihnen zwei Fragen stellen, bevor ich Ihnen die gewunschte Antwort gebe?«

»Fragen Sie, was Sie wollen.«

»Diese, die wir auf dem Nachttisch neben Rosaleen Cloades Bett fanden; was war es?«

»Die Schlafpulver? Ganz harmloses Zeug. Ein Brompraparat. Sie nahm jede Nacht ein Beutelchen. Es beruhigt die Nerven.«

»Wer hat sie ihr verschrieben?«

»Dr. Cloade, schon vor einiger Zeit.«

»Und hat man den Befund uber die Todesursache bereits?«

»Morphium«, erwiderte Spence.

»Und nun kommt meine zweite Frage«, fuhr Hercule Poirot fort. »Sie haben die Telefongesprache nachgepruft, nicht wahr? Aus dem Appartementhaus, in dem Hunter und seine Schwester in London lebten, wurde

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