»Unsinn«, wies die alte Dame ihn zurecht. »Dafur haben wir schlie?lich den Krieg gefuhrt. Dafur haben wir gekampft, dass jeder wieder dahin zuruckgeht, wohin er gehort, und dort bleibt.«
Poirot verzichtete auf eine Diskussion uber dieses hei? umstrittene Thema. Er hatte langst festgestellt, dass jeder eine andere Auffassung daruber hatte, »wofur der Krieg ausgefochten« worden war.
Ein Weilchen herrschte ziemlich feindselig anmutendes Schweigen.
»Ich wei? nicht, wozu das alles noch fuhren soll«, nahm nach einiger Zeit die alte Dame das Gesprach wieder auf. »Ich komme jedes Jahr fur einen Monat her. Mein Mann starb hier vor sechzehn Jahren. Er liegt hier begraben. Und sooft ich komme, ist es schlimmer bestellt um dieses Hotel. Das Essen ist bald ungenie?bar. Wiener Schnitzel! Dass ich nicht lache. Schnitzel! Das hat es fruher nicht gegeben, solchen Firlefanz. Rumpsteak oder Filetsteak, aber nicht gehacktes Pferdefleisch!«
Poirot nickte in betrubtem Einverstandnis.
Die alte Dame hustelte und uberlie? sich dann mit ungezugelter Energie ihrem Arger, froh, in Poirot einen Zuhorer gefunden zu haben.
»Und wie die Frauen heutzutage rumlaufen! In Hosen! Du lieber Himmel, sie wurden darauf verzichten, konnten sie sich von hinten sehen. Und wie sie sich gebarden, es ist eine Schande. Laufen jedem Mannsbild nach, das sie nur von weitem sehen. Keine Rocke mehr, wie sich’s gehort, kein ordentliches Benehmen mehr. Und was tragen sie auf dem Kopf? Keinen Hut, Gott bewahre, nein, irgendein buntes Stuck Tuch wickeln sie sich um ihr gefarbtes Haar. Dazu schmieren sie sich Schminke ins Gesicht und lackieren sich nicht nur die Fingernagel, sondern auch noch die Fu?nagel. Pfui Teufel! Als ich jung war, fuhrte man sich anders auf.«
Poirot musterte die erzurnte, grauhaarige alte Dame verstohlen. Es schien ihm unvorstellbar, dass sie einmal jung gewesen sein sollte.
»Steckte doch neulich eines von diesen frechen Dingern den Kopf da zur Tur herein. Einen orangenen Schal um den Kopf geschlungen, Hosen an und das Gesicht ein einziger Farbfleck von Rouge und Puder. Ich hab ihr einen Blick zugeworfen! Nur einen Blick! Aber sie hat sofort verstanden und ist verschwunden.«
Ein Schnauben der Entrustung wurde eingeschaltet. Dann ging es weiter.
»Sie gehorte nicht zu den Gasten des Hotels. Diese Sorte wohnt zum Gluck noch nicht hier. Was hatte sie dann im Zimmer eines Mannes zu suchen, frage ich Sie? Widerlich ist das, jawohl. Ich habe mich bei der Lippincott beschwert, aber die ist nicht viel besser als der Rest. Die lauft eine Meile weit, wenn es um ein Mannsbild geht.«
Ein Anflug von Interesse erwachte in Poirot.
»Sie kam aus dem Zimmer eines Mannes?«, erkundigte er sich.
Die alte Dame spann nur zu gern ihr Lieblingsthema weiter.
»Aus dem Zimmer eines Mannes, jawohl. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Aus Nummer 5.«
»Wann war das, Madame? Ich meine, an welchem Tag?«
»Am Tag, bevor die Geschichte mit dem Mord hier das Unterste zuoberst kehrte. Ich begreife nicht, wie so etwas in einem anstandigen Hotel geschehen kann.«
»Und um welche Tageszeit war es?«, forschte Poirot behutsam weiter.
»Tageszeit? Abend war es. Spat am Abend obendrein. Nach zehn Uhr. Ich bin meiner Sache ganz sicher, denn ich gehe jeden Abend um Viertel nach zehn zu Bett. Und an jenem Abend, gerade wie ich die Treppe hinaufgehe, kommt dieses Frauenzimmer aus Nummer 5 heraus, ohne sich im geringsten zu schamen. Starrt mich an, dreht sich dann um und unterhalt sich mit dem Mann bei offener Tur.«
»Sie haben ihn gesehen oder sprechen gehort?«
»Gesehen nicht, aber gehort. ›Mach, dass du wegkommst, ich hab genug von dir.‹ Das hat er gesagt. Eine schone Art, mit Frauen umzugehen, ist das, aber diese Sorte will ja nichts anderes.«
»Und Sie haben diese Beobachtung nicht der Polizei mitgeteilt?«, fragte Poirot mit leisem Vorwurf.
Achzend erhob sich die alte Dame. Poirot mit einem stahlernen Blick abgrundtiefer Verachtung bedenkend, sagte sie:
»Ich habe noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt. Ich und die Polizei!«
Zitternd vor Emporung, das Haupt stolz erhoben, verlie? sie den Salon.
Poirot uberlie? sich ein Weilchen seinen Gedanken, bevor er sich aufmachte, um Beatrice Lippincott zu suchen.
»Sie meinen die alte Mrs Leadbetter«, antwortete sie auf seine Frage nach der alten Dame. »Sie kommt jedes Jahr her. Ganz unter uns: Sie ist eine Plage. Sie sto?t die anderen Gaste manchmal schrecklich vor den Kopf mit ihrer rucksichtslosen Kritik. Und sie will einfach nicht einsehen, dass sich die Zeiten, und damit die Moden, geandert haben. Sie ist an die achtzig, da kann man naturlich auch nicht mehr viel Einsicht verlangen.«
»Aber sie ist noch bei klarem Verstand?«
»Klarer als einem manchmal lieb ist«, erwiderte Beatrice lachend.
»Wissen Sie, wer die junge Dame gewesen sein konnte, die den Ermordeten am Dienstagabend besucht hat?«
Beatrice sah ihn verstandnislos an.
»Ich hatte keine Ahnung, dass Mr Arden uberhaupt Besuch von einer Dame bekommen hat. Wie sah sie aus?«
»Sie hatte einen orangefarbenen Turban um den Kopf geschlungen, trug Hosen und war ziemlich stark geschminkt, wenn ich recht unterrichtet bin. Sie muss am Dienstagabend um Viertel nach zehn bei Arden im Zimmer gewesen sein.«
»Ich habe wirklich keine Ahnung, Mr Poirot.«
Hercule Poirot machte sich auf den Weg zu Inspektor Spence, den er von der neuen Entdeckung unterrichtete.
Er holte den Lippenstift hervor, der in Zimmer Nummer 5 gefunden worden war.
»Es sieht also doch so aus, als ob ein Au?enseiter mit der Sache zu tun hat«, meinte er. »Dieser abendliche Besuch einer Frau schaltet David Hunter als Tater aus.«
»Wieso?«, erkundigte sich Poirot.
»Der junge Mann hat sich endlich bequemt, uber seinen Aufenthalt am fraglichen Tag Rechenschaft abzulegen«, erwiderte Spence. »Hier ist sein Bericht.«
Er reichte Poirot ein Blatt Papier.
Er sei noch mal hergekommen, um ein paar Sachen, die er in Furrowbank vergessen hatte, zu holen, warf der Inspektor erklarend ein. »Ein paar Briefe, sein Scheckbuch und etwas Wasche.«
»Welche Richtung schlug er bei seinem Spaziergang ein?«, fragte Poirot.
Der Inspektor zog seine Notizen zu Rate und beschrieb dann die von David Hunter angegebene Route.
»Als er oben am Hugelkamm entlangspazierte, kam ihm zu Bewusstsein, dass er sich nun beeilen musse, wollte er den spaten Zug nicht auch noch verfehlen. Er rannte zum Bahnhof, erwischte den Zug gerade noch und kam um 10 Uhr 45 in London an. Um elf Uhr war er in seiner Londoner Wohnung, was von Mrs Cloade bestatigt wird.«
»Und welche Bestatigung haben Sie fur den Rest seiner Angaben?«
»Herzlich wenig. Rowley Cloade und einige andere sahen ihn in Warmsley Heath ankommen. Das Personal von Furrowbank hatte Ausgang. Er hatte naturlich seinen eigenen Schlussel. Es sah ihn dort niemand, aber die Madchen entdeckten spater anscheinend einen Zigarettenstummel in der Bibliothek und fanden auch im Wascheschrank eine unerklarliche Unordnung vor. Einer der Gartner arbeitete noch spat im Garten und sah ihn von weitem. Und oben beim Waldchen traf ihn Miss Marchmont, als er zum Bahnhof hinunterrannte.«
»Hat jemand ihn beim Einsteigen in den Zug gesehen?«
»Nein, aber er rief kurz nach seiner Ankunft in London von dort aus Miss Marchmont an. Um funf Minuten nach elf.«
»Sie haben den Anruf kontrolliert?«