sich vorstellen, dass er, in Wut gebracht, zuschlug. Und die Erregung nach der Tat, der kurze Atem, seine hastige, fast argerliche Zartlichkeit ihr gegenuber und spater dann die Bemerkung: »Ich mache mich besser aus dem Staub.« Ja, es passte alles zusammen.
»Was ist dir, Lynn? Fuhlst du dich nicht wohl?«
Wie aus weiter Ferne drang Rowleys Stimme an ihr Ohr.
»Was soll mit mir sein? Nichts.«
»Dann mach kein so bedrucktes Gesicht. Stell dir vor, jetzt konnen wir wenigstens ein paar Maschinen anschaffen, die uns eine Menge Arbeit ersparen. Es wird ein ganz anderer Zug in den Betrieb kommen. Du sollst es schon haben, Lynn…«
Er sprach von ihrem zukunftigen Heim, von dem Haus, in dem sie mit ihm leben wurde…
Und an einem Morgen zu fruher Stunde wurde David Hunter am Galgen…
21
Mit blassem Gesicht, au?erste Wachsamkeit in den Augen, hielt David seine Schwester bei den Schultern gepackt.
»Es wird alles gut gehen, Rosaleen, du musst mir glauben. Du darfst nur nicht den Kopf verlieren und musst genau das sagen, was ich mit dir besprochen habe.«
»Aber was mache ich, wenn sie dich von mir wegholen? Du hast selbst gesagt, das konnte geschehen. Was mache ich dann?«
»Es ist eine Moglichkeit, die ich erwahnt habe, aber selbst wenn es geschieht, wird es nicht fur lange Zeit sein. Nicht, wenn du meine Instruktionen befolgst.«
»Ich werde alles so machen, wie du es sagst, David.«
»Das ist vernunftig. Du brauchst nichts weiter zu tun, Rosaleen, als bei deiner Aussage zu bleiben, dass der Tote nicht Robert Underhay ist.«
»Sie werden mir Dinge in den Mund legen, die ich gar nicht gesagt oder nicht gemeint habe.«
»Nein, das tut niemand. Hab keine Angst.«
»Ach, wir sind selbst schuld, David. Es war nicht recht, das Geld zu nehmen. Es stand uns nicht zu. Ich liege Nachte hindurch wach und gruble daruber nach. Man darf nichts nehmen, was einem nicht zukommt. Gott straft uns fur unsere Sunden.«
Sie war am Ende ihrer Kraft. David musterte seine Schwester prufend. Ihr Gewissen hatte sie nie ganz zur Ruhe kommen lassen. Und nun drohte sie vollig zusammenzubrechen. Es gab nur eine einzige Moglichkeit, sie vor einer Dummheit zu bewahren.
»Rosaleen«, sagte er mit ernster Stimme, »Willst du mich am Galgen hangen sehen?«
»Um Himmels willen, David…« Ihre Augen wurden gro? vor Entsetzen. »Das konnen sie nicht tun…«
»Nicht, wenn du vernunftig bist. Du bist der einzige Mensch, der mich an den Galgen bringen kann. Vergiss das nie. Wenn du auch nur ein einziges Mal durch einen Blick, eine Bewegung oder eine Antwort zugibst, dass der Tote vielleicht Robert Underhay sein konnte, legst du die Schlinge um meinen Hals. Begreifst du das?«
Sie hatte es begriffen. Mit vor Angst erstickter Stimme flusterte sie:
»Aber ich bin so dumm, David.«
»Du bist nicht dumm, Rosaleen. Du brauchst nur ruhig zu bleiben und zu schworen, dass der Tote nicht Robert Underhay ist. Wirst du das konnen?«
Sie nickte.
»Sicher, David, sicher kann ich das.«
»So ist’s recht. Und wenn alles vorbei ist, fahren wir weg. Nach Sudfrankreich oder nach Amerika. Bis es so weit ist, achte auf deine Gesundheit. Lieg nicht wach in der Nacht und zermartere dich nicht mit Vorwurfen und dummen Gedanken. Nimm die Pulver, die Dr. Cloade dir verordnet hat. Nimm jeden Abend vor dem Zubettgehen eines. Dann wirst du schlafen konnen. Und denke immer daran, dass uns eine wunderbare Zeit bevorsteht.«
Er sah sich in dem prachtvollen Raum um. Schonheit, Bequemlichkeit, Reichtum… Er hatte es genossen. Ein herrliches Haus, dieses Furrowbank. Wer wei?, vielleicht war dies sein Abschied vom guten Leben…
Er hatte sich selbst hineingeritten. Es war nicht mehr zu andern, und er bedauerte es nicht einmal. Man musste das Leben nehmen, wie es war, und die Gelegenheiten, die sich einem boten, beim Schopfe packen. Wie hie? es bei Shakespeare? »Wir mussen das Gefall des Stromes nutzen, wo nicht, verlieren wir des Zufalls Gunst.« Er wurde des Zufalls Gunst auch in Zukunft stets nutzen.
Er schaute zu Rosaleen hinuber. Ihre Augen hingen in banger, stummer Frage an ihm. Er wusste, was ihr am Herzen lag. »Ich habe ihn nicht ermordet, Rosaleen«, sagte er weich. »Ich schwore es dir bei allen Heiligen in deinem Kalender.«
22
Das offizielle Verhor der Voruntersuchung hatte begonnen. Der Coroner, Mr Pebmarsh, blinzelte hinter seinen Brillenglasern und war offensichtlich von der Wichtigkeit seiner Person zutiefst uberzeugt.
Neben ihm sa? breit und behabig Inspektor Spence. Etwas abseits sa? ein untersetzter, dunkelhaariger, fremdlandisch anmutender Herr mit gepflegtem schwarzem Schnurrbart. Weiter waren die Cloades zugegen. Jeremy Cloade mit Frau, Lionel Cloade mit Frau, Rowley Cloade, Mrs Marchmont, Lynn – sie sa?en alle beieinander. Etwas entfernt hatte sich Major Porter niedergelassen. Er machte den Eindruck eines Menschen, dem nicht ganz wohl ist in seiner Haut. David und Rosaleen betraten den Raum als Letzte. Sie suchten ihre Platze abseits von den anderen.
Mr Pebmarsh rausperte sich Achtung gebietend und musterte ernst die neun Geschworenen, alles ehrenwerte Burger der Gegend. Dann begannen die Verhore.
Dr. Lionel Cloade wurde als erster aufgerufen.
»Sie befanden sich in Ausubung Ihrer beruflichen Tatigkeit im ›Hirschen‹, als Gladys Aitkin sich an Sie wendete. Was sagte sie?«
»Sie sagte, dass der Herr aus Nummer 5 tot am Boden lage.«
»Worauf Sie sich in Zimmer Nummer 5 hinaufbegaben?«
»Jawohl.«
»Beschreiben Sie, was Sie dort vorfanden.«
Dr. Cloade kam der Aufforderung nach. Leiche eines Mannes auf dem Boden… Verletzungen am Kopf… Schadeldecke eingeschlagen… Feuerzange…
»Und Sie waren der Meinung, dass die Verletzungen von Schlagen mit der Feuerzange stammten?«
»Einige ruhrten ohne Zweifel von der Feuerzange her.«
»Der Mann war tot?«
»Daran konnte kein Zweifel bestehen.«
»Was konnen Sie uber den Zeitpunkt seines Todes sagen?«
»Ich mochte mich nicht auf einen allzu genauen Zeitpunkt festlegen. Es waren mindestens elf Stunden, moglicherweise aber auch dreizehn oder vierzehn Stunden seither vergangen. Der Tod muss zwischen halb acht und halb elf des vorangegangenen Abends eingetreten sein.«
Als Nachster wurde der Gerichtsmediziner um seine Meinung befragt. Der Mord sei mit brutaler Wildheit ausgefuhrt worden, erklarte er, doch sei nicht unbedingt gro?e Korperkraft dazu notig gewesen, da als Schlaginstrument die Feuerzange gedient habe. Der schwere eiserne Knauf mache die Feuerzange, mit beiden Handen an der Zangenseite gepackt, zu einer gefahrlichen Waffe. Selbst eine Person von mittlerer Korperkraft konne, angetrieben von einem plotzlichen Wutausbruch, wuchtige Schlage damit austeilen.