wohl den Wunsch hatte, sich ebenfalls ins Privatleben zuruckzuziehen – wahrscheinlich nicht. Die Schule war ihr Zuhause, und sie wurde auch Miss Bulstrodes Nachfolgerin treu und zuverlassig zur Seite stehen.

Miss Bulstrode war fest entschlossen, eine Nachfolgerin zu finden, mit der sie die Schule zunachst gemeinsam leiten konnte. Sobald sich die andere eingearbeitet hatte, wurde sie sich zur Ruhe setzen. Es war wichtig im Leben, den richtigen Zeitpunkt zum Abtreten zu erkennen. Man musste gehen, bevor die Krafte erlahmten.

Nachdem Miss Bulstrode alle Aufsatze durchgesehen hatte, stellte sie fest, dass die kleine Upjohn begabt und originell war. Jennifer Sutcliffe war vollig fantasielos, zeigte aber gesunden Menschenverstand. Mary Vyse, die Klassenerste, besa? ein ausgezeichnetes Gedachtnis – aber was fur ein langweiliges Madchen! Langweilig – da war das Wort schon wieder. Vergessen wir’s, dachte Miss Bulstrode und klingelte ihrer Sekretarin. Sie begann Briefe zu diktieren:

»Sehr geehrte Lady Valence,

Jane hatte eine leichte Ohrenentzundung. Ich lege den ausfuhrlichen Bericht des Arztes bei…«

usw.

»Sehr geehrter Baron von Eisinger,

selbstverstandlich werden wir Hedwig gestatten, in die Oper zu gehen, um die Hellstern als Isolde zu horen…«

usw.

Eine Stunde verging im Handumdrehen. Miss Bulstrode machte kaum eine Pause. Ann Shaplands Bleistift flog nur so uber den Stenogrammblock.

Eine ausgezeichnete Sekretarin, dachte Miss Bulstrode, besser als ihre Vorgangerin, Vera Lorrimer, die ihren Posten von einem Tag auf den anderen aufgegeben hatte. Angeblich wegen eines Nervenzusammenbruchs, aber in Wirklichkeit handelte es sich naturlich um einen Mann…

»So, das war’s«, sagte Miss Bulstrode, nachdem sie den letzten Satz diktiert hatte. Sie atmete erleichtert auf. »Nichts ist langweiliger, als an Eltern zu schreiben.« Sie warf Ann einen wohlwollenden Blick zu. »Warum sind Sie eigentlich Sekretarin geworden?«

»Schwer zu sagen. Vielleicht, weil ich keine ausgesprochene Begabung fur irgendetwas habe.«

»Finden Sie die Arbeit nicht ziemlich monoton?«

»Ich habe bisher immer das Gluck gehabt, interessante Stellungen zu finden. Ich war ein Jahr bei Sir Mervyn Todhunter, dem Archaologen, und danach bei Sir Andrew Peters, dem Direktor von Shell. Dann war ich eine Zeit lang die Sekretarin der Schauspielerin Monica Lord, und das war eine au?erst hektische Zeit.« Sie lachelte.

»Unbestandig, wie die meisten jungen Menschen heutzutage«, stellte Miss Bulstrode kopfschuttelnd fest.

»Ich kann schon deshalb nie lange in einer Stellung bleiben, weil meine Mutter leidend ist. Oft verschlimmert sich ihr Zustand plotzlich, und dann muss ich zu ihr und den Haushalt machen. Allerdings muss ich gestehen, dass ich auch sonst wenig Ausdauer habe. Wenn ich zu lange den gleichen Posten innehabe, beginne ich mich zu langweilen.«

»Langweilen…«, murmelte Miss Bulstrode, »man kommt von diesem Wort nicht los.«

Ann blickte erstaunt auf.

»Es ist nichts, gar nichts, nur dass ein bestimmtes Wort immer wieder auftaucht… Waren Sie gern Lehrerin geworden?«

»Um keinen Preis«, erwiderte Ann ehrlich.

»Warum?«

»Weil ich es furchtbar langweilig finde – ach, entschuldigen Sie – « Sie unterbrach sich verwirrt.

»Lehren ist durchaus nicht langweilig«, erklarte Miss Bulstrode lebhaft. »Es gibt nichts Anregenderes, als Lehrerin zu sein. Ich werde meinen Beruf sehr vermissen, wenn ich mich zur Ruhe setze.«

Ann sah sie erstaunt an.

»Sie denken doch nicht daran, sich ins Privatleben zuruckzuziehen?«, fragte sie.

»Noch nicht, aber bestimmt in ein bis zwei Jahren.«

»Aber warum?«

»Ich habe die besten Jahre meines Lebens der Schule gewidmet, aber man kann nicht unbegrenzt sein Bestes geben.«

»Wird die Schule weiterbestehen?«

»Selbstverstandlich. Ich habe eine ausgezeichnete Nachfolgerin.«

»Miss Vansittart?«

»Sie kommen also automatisch zu diesem Schluss? Interessant…«

»Nein, ich selbst habe uber dieses Problem nicht nachgedacht, ich habe nur verschiedene Unterhaltungen mitgehort. Aber ich nehme an, dass sie die Schule in Ihrem Sinn weiterfuhren wird. Sie sieht gut aus und besitzt Autoritat; beides ist wichtig, nicht wahr?«

»Allerdings. Ja, ich bin uberzeugt, dass Eleanor Vansittart die richtige Person ist.«

Ann nahm ihre Schreibsachen und verlie? das Zimmer.

Will ich das wirklich? fragte sich Miss Bulstrode. Will ich, dass die Schule in meinem Sinn weitergefuhrt wird? Denn das wurde Eleanor bestimmt tun. Keine neuen Ideen, keine Experimente. Aber ich selbst habe anders angefangen. Frisch gewagt ist halb gewonnen – das war mein Prinzip. Selbst wenn es verschiedenen Leuten gegen den Strich ging, weigerte ich mich, die Regeln anderer Schulen einfach zu ubernehmen. Und erwarte ich nicht ebendiese Einstellung von meiner Nachfolgerin? Suche ich nicht einen Menschen, der neues Leben in die Schule bringt, eine dynamische Personlichkeit, jemanden wie… wie Eileen Rich?

Aber Eileen war zu jung und unerfahren, obwohl sie eine ausgezeichnete Lehrerin mit modernen Ideen war. Sie wurde niemals langweilig sein – lacherlich –, schon wieder dieses Wort. Au?erdem war Eleanor Vansittart nicht langweilig…

Als Miss Chadwick ins Zimmer kam, blickte sie auf.

»O Chaddy! Wie ich mich freue, dich zu sehen.«

»Warum? Was ist geschehen?«, fragte Miss Chadwick erstaunt.

»Nichts ist geschehen, ich wei? nur nicht, was ich tun soll.«

»Das kommt nicht oft vor bei dir, Honoria.«

»Nein, aber – sprechen wir von etwas anderem. Geht in der Schule alles seinen gewohnten Gang?«

»Im Gro?en und Ganzen – ja«, erwiderte Miss Chadwick zogernd.

»Das klang nicht sehr uberzeugend, Chaddy. Bitte, versuch nicht, mir etwas zu verbergen. Was ist los?«

»Wirklich nichts weiter, Honoria…« Miss Chadwick runzelte besorgt die Stirn; sie sah aus wie ein verstorter Spaniel. »Ich habe nur so ein Gefuhl… es ist nichts Greifbares. Die neuen Schulerinnen machen einen guten Eindruck, aber Mademoiselle Blanche kann ich nicht leiden, sie ist verschlagen. Aber Genevieve Depuy mochte ich ebenso wenig.«

Miss Bulstrode ma? dieser Kritik keine Bedeutung bei. Chaddy behauptete immer, dass die franzosischen Lehrerinnen verschlagen seien.

»Eine gute Lehrerin ist sie nicht. Seltsamerweise, denn sie hat glanzende Zeugnisse«, sagte Miss Bulstrode.

»Franzosen sind meistens schlechte Lehrer. Sie wissen die Disziplin nicht aufrechtzuerhalten«, erklarte Miss Chadwick kategorisch. »Auch von Miss Springer bin ich nicht begeistert. Sie neigt zu Ubertreibungen.«

»Sie versteht ihren Beruf.«

»Das gebe ich zu.«

»Es dauert immer einige Zeit, bis man sich an die neuen Krafte gewohnt hat«, meinte Miss Bulstrode.

»Das ist nur zu wahr«, stimmte Miss Chadwick sofort zu. »Wahrscheinlich ist das alles… Der neue Gartner ist ubrigens sehr jung, ganz erstaunlich jung. Man ist heutzutage nur noch an alte Gartner gewohnt. Ein Jammer, dass er so gut aussieht. Wir mussen unsere Augen offen halten.«

Beide Damen nickten zustimmend. Sie wussten nur zu gut, welches Unheil ein gut aussehender junger Mann im Herzen eines heranwachsenden Madchens anrichten kann.

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