»Ich mochte mit Ihnen sprechen, Eileen«, sagte Miss Bulstrode.
Eileen Rich folgte Miss Bulstrode in deren Wohnzimmer. Meadowbank war unheimlich ruhig. Nur funfundzwanzig Schulerinnen, deren Eltern sie nicht zuhause haben konnten oder wollten, waren noch da.
Keine der Lehrerinnen hatte die Schule verlassen, obwohl sie offiziell geschlossen war. Miss Johnson war unglucklich, weil sie nicht genug zu tun hatte. Miss Chadwick sah alt und elend aus; sie wanderte verloren und traurig umher. Sie schien sich die Tragodien viel mehr zu Herzen genommen zu haben als Miss Bulstrode, die au?erlich vollig unverandert war, ohne irgendwelche Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs. Die beiden jungen Lehrerinnen genossen ihre Freizeit von Herzen. Sie gingen spazieren, sie schwammen, und sie lie?en sich Reiseprospekte kommen, die sie grundlich studierten. Auch Ann Shapland schien sich nicht zu langweilen. Sie verbrachte einen gro?en Teil ihrer freien Zeit im Garten, und sie stellte sich bei der Gartenarbeit erstaunlich geschickt an. Es war gewiss nicht unnaturlich, dass sie sich dabei lieber bei Adam Rat holte als beim alten Briggs…
»Ich wollte schon seit einiger Zeit mit Ihnen sprechen, Eileen«, sagte Miss Bulstrode. »Ich wei? nicht, ob diese Schule fortbestehen wird oder nicht. Es ist schwierig, die Einstellung der Menschen zu beurteilen, denn jeder fuhlt etwas anderes. Am Ende werden sich alle nach demjenigen richten, der seiner Sache am sichersten ist. Meadowbank ist entweder erledigt…«
»Nein, es ist nicht erledigt«, unterbrach Eileen Rich. Sie stampfte mit dem Fu? auf, und ihr Haarknoten begann sich prompt aufzulosen. »Das durfen Sie auf keinen Fall zulassen. Es ware eine Sunde – ein Verbrechen!«
»Sie scheinen sehr erregt zu sein«, sagte Miss Bulstrode.
»Ich
»Sie sind eine Kampfernatur, und das gefallt mir«, lobte Miss Bulstrode. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich nicht klein beigeben werde. In gewisser Weise freue ich mich sogar auf den Kampf. Wenn alles wie am Schnurchen lauft, wird man leicht allzu selbstzufrieden, vielleicht sogar gelangweilt… Aber jetzt bin ich nicht gelangweilt. Ich werde mit aller Kraft und mit meinem letzten Penny um das Weiterbestehen der Schule kampfen. Im Zusammenhang damit mochte ich Sie fragen: Hatten Sie Lust, meine Partnerin zu werden, falls ich den Kampf gewinne?«
»Ich?« Eileen sah sie unglaubig an. »Ich?«
»Ja, Eileen, Sie!«
»Unmoglich«, stammelte Eileen. »Ich bin zu jung, ich wei? nicht genug, ich habe zu wenig Erfahrung.«
»Die Entscheidung daruber mussen Sie schon mir uberlassen«, erwiderte Miss Bulstrode. »Im Augenblick ist es kein sehr gutes Angebot. Vielleicht konnten Sie woanders etwas Besseres finden. Aber eins mussen Sie mir glauben – ich hatte schon vor dem Tod der armen Miss Vansittart den Entschluss gefasst, Sie zu meiner Nachfolgerin zu ernennen.«
»Wirklich? Und wir alle glaubten, dass Miss Vansittart…«
»Ich habe niemals mit Miss Vansittart daruber gesprochen«, erklarte Miss Bulstrode. »Ich gebe zu, dass ich wahrend der letzten beiden Jahre oft daran gedacht habe, aber im letzten Augenblick hat mich immer irgendetwas davon zuruckgehalten, ihr anzubieten, meine Partnerin und spater meine Nachfolgerin zu werden. Ich glaube gern, dass man allgemein der Ansicht war, dass sie die kunftige Schulleiterin sein wurde – wahrscheinlich hat sie selbst es geglaubt. Und doch wurde ich mir schlie?lich daruber klar, dass sie keinesfalls die Richtige war.«
»Das ist mir unbegreiflich«, sagte Eileen Rich. »Sie hatte die Schule in Ihrem Sinn weitergefuhrt – in Ihrer Tradition.«
»Ja, und eben das ware falsch gewesen«, entgegnete Miss Bulstrode. »Man darf sich nicht an die Vergangenheit klammern. Gegen die Aufrechterhaltung von Traditionen ist nichts einzuwenden, wenn sie Hand in Hand geht mit modernen Erziehungsmethoden. Man kann die Madchen heute nicht genauso behandeln wie die Schulerinnen vor drei?ig oder gar vor funfzig Jahren. Ich habe Meadowbank gegrundet und meine eigenen Ideen in die Tat umgesetzt. Es war immer mein Bestreben, Vergangenheit und Zukunft im Auge zu behalten. Aber wirklich wichtig ist nur die Gegenwart, die zeitgema?e Einstellung. Und so soll es auch bleiben. Die Schule muss von einem Menschen mit neuen, originellen Ideen geleitet werden, der gleichzeitig die Tradition aufrechterhalt. Als ich die Schule grundete, war ich ungefahr im gleichen Alter wie Sie. Aber Sie haben etwas, was ich nicht mehr erwarten kann. Sie finden es in der Bibel: ›
»Es ware herrlich gewesen, ganz herrlich«, seufzte Eileen Rich.
Miss Bulstrode war verletzt, aber sie zeigte es nicht.
»Ja, es
»Nein, nein, durchaus nicht«, sagte Eileen schnell. »Ich – ich kann Ihnen die Einzelheiten nicht erklaren. Ich kann Ihnen nur versichern, dass ich das gleiche Angebot noch vor zwei Wochen ganz bestimmt abgelehnt hatte… es ware ganz unmoglich gewesen. Jetzt sieht es nur deshalb etwas anders fur mich aus, weil ich eine gro?e Verantwortung ubernehmen und kampfen musste… Darf ich es mir uberlegen, Miss Bulstrode?«
»Selbstverstandlich«, sagte Miss Bulstrode. Sie war noch immer erstaunt. Wie wenig man doch von seinen Mitmenschen wei?, dachte sie.
Ann Shapland stand uber ein Blumenbeet gebeugt. Als Miss Rich voruberging, richtete sie sich auf.
»Der Knoten von Miss Rich hat sich wieder mal aufgelost«, stellte sie fest. »Warum lasst sie sich das Haar nicht abschneiden? Sie hat eine ganz gute Kopfform. Es wurde ihr besser stehen und lie?e sich leichter in Ordnung halten.«
»Warum sagen Sie ihr das nicht selbst?«, fragte Adam.
»Weil ich sie nur fluchtig kenne«, erwiderte Ann Shapland. Dann fuhr sie fort: »Glauben Sie, dass sich diese Schule halten wird?«
»Schwer zu sagen… und woher soll ich das wissen«, entgegnete Adam.
»Ich halte es jedenfalls fur durchaus moglich«, sagte Ann Shapland. »Die alte Bully – so wird Miss Bulstrode von den Schulerinnen genannt – ist eine starke Personlichkeit mit einer fast hypnotischen Wirkung auf die Eltern… Wann hat das Schuljahr angefangen? Vor einem Monat? Es erscheint mir wie eine Ewigkeit. Ich werde heilfroh sein, wenn es zu Ende ist.«
»Kommen Sie zuruck, falls die Schule weiter bestehen bleibt?«
»Auf gar keinen Fall. Ich habe mehr als genug vom Internatsleben«, erklarte Ann emphatisch. »Ich eigne mich nicht dazu, ausschlie?lich in der Gesellschaft von Weibern zu leben. Au?erdem mache ich mir nichts aus Morden; ich lese fur mein Leben gern gute Kriminalromane, aber in der Wirklichkeit kann ich auf diese Dinge verzichten.« Sie fugte nachdenklich hinzu: »Ich glaube, ich werde Dennis heiraten und eine brave Hausfrau werden.«
»Dennis? Ach ja, Sie haben mir neulich von ihm erzahlt«, sagte Adam. »Das ist doch der, der immer unterwegs ist, nicht wahr? In Burma, Malaysia, Singapur, Japan… Ein sehr ruhiges Leben ware das nicht. Ich glaube, Sie konnten einen Besseren finden.«
»War das ein Antrag?«, fragte Ann.
»Bestimmt nicht«, erwiderte Adam. »Sie sind eine ehrgeizige Frau. Sie wurden doch keinen Hilfsgartner heiraten.«
»Nein, aber vielleicht einen von der Polizei.«
»Ich bin nicht bei der Polizei«, protestierte Adam.
»Naturlich nicht«, erwiderte Ann ironisch. »Wahren wir die Form! Sie sind nicht bei der Polizei. Shanda ist entfuhrt worden, alles ist in bester Ordnung… Trotzdem begreife ich nicht, wieso Shanda plotzlich in Genf aufgetaucht ist. Ich verstehe auch nicht, dass Ihre Leute sie nicht daran hindern konnten, das Land zu verlassen. Wie war das moglich?«
»Meine Lippen sind versiegelt«, gab Adam zur Antwort.
»Weil Sie keine Ahnung haben«, sagte Ann.
»Ich gebe zu, dass es Monsieur Hercule Poirot war, der uns auf einen guten Gedanken gebracht hat«, bemerkte Adam.