22

Mrs Upjohn sa? am Stra?enrand und blickte in eine tiefe Schlucht. Sie unterhielt sich auf Franzosisch – und mithilfe vieler Gesten – mit einer dicken Turkin, die ihr in allen Einzelheiten, soweit dies die sprachlichen Schwierigkeiten zulie?en, ihre letzte Fehlgeburt schilderte. Sie erzahlte, sie habe im Ganzen neun Kinder, acht Jungen und ein Madchen, und dies war bereits ihre funfte Fehlgeburt.

»Und Sie?« Sie stie? Mrs Upjohn freundschaftlich in die Rippen.

»Combien? Garcons? Filles? Combien?«

»Une fille«, erwiderte Mrs Upjohn.

»Et garcons?«

Um in der Achtung der Turkin nicht zu sinken und in einer Anwandlung von Nationalstolz entschloss sich Mrs Upjohn zu einer Luge. Sie hielt alle funf Finger ihrer rechten Hand hoch.

»Cinq«, sagte sie.

»Cinq garcons? Tres bien!«

Die Turkin nickte anerkennend. Sie fugte hinzu, dass sie sich noch viel besser verstehen konnten, wenn ihre Kusine hier ware, die flie?end Franzosisch sprach. Dann fuhr sie fort, ihre Fehlgeburt zu schildern.

Die anderen Fahrgaste sa?en in der Nahe; die meisten hatten Esskorbe bei sich, aus denen sie sich bedienten. Der staubige, verbeulte Autobus stand unter einem uberhangenden Felsen, und der Fahrer machte sich mit einem anderen Mann am Motor zu schaffen. Mrs Upjohn lebte in einer zeitlosen Welt. Da zwei Landstra?en unter Wasser standen, mussten viele Umwege gemacht werden. Einmal hatten sie sieben Stunden gewartet, bis sie einen Fluss uberqueren konnten. Sie wusste nur eins, dass sie Ankara in absehbarer Zeit erreichen wurden.

Ihre Gedanken wurden plotzlich von einer Stimme unterbrochen, die in scharfem Gegensatz zu ihrer Umgebung stand.

»Sind Sie Mrs Upjohn?«, fragte die Stimme.

Mrs Upjohn blickte auf. In einiger Entfernung hielt ein Auto, aus dem der Herr, der ihr gegenuberstand, zweifellos gestiegen war. Sein Gesicht war so unverkennbar englisch wie seine Stimme. Er trug einen gut sitzenden grauen Flanellanzug.

»Mein Name ist Atkinson, vom Konsulat in Ankara«, sagte der liebenswurdige Fremde. »Wir versuchen seit Tagen, uns mit Ihnen in Verbindung zu setzen, aber die Stra?en waren gesperrt.«

»Sie wollten sich mit mir in Verbindung setzen? Warum?« Mrs Upjohn sprang erregt auf. Die unternehmungslustige, vergnugte Reisende hatte sich mit einem Schlag in eine besorgte Mutter verwandelt.

»Julia? Ist meiner Julia etwas zugesto?en?«

»Nein, nein, es handelt sich nicht um Julia, der geht es gut«, beruhigte sie Mr Atkinson. »Merkwurdige Dinge haben sich in Meadowbank ereignet, und wir mochten, dass Sie so bald wie moglich nachhause kommen. Ich bringe Sie in meinem Wagen nach Ankara, und in einer Stunde werden Sie im Flugzeug nach London sitzen.«

»Wurden Sie so freundlich sein, mir meinen Koffer vom Verdeck herunterzuholen?«, bat sie. »Es ist der dunkelblaue Handkoffer.« Sie wandte sich zu ihrer turkischen Reisegefahrtin, schuttelte ihr die Hand und sagte: »Leider muss ich sofort nachhause fahren.« Sie winkte den anderen Reisenden freundlich zu, sagte ein paar turkische Abschiedsworte und folgte Mr Atkinson, ohne ihm irgendwelche Fragen zu stellen. Wie schon viele andere vor ihm stellte auch er fest, dass Mrs Upjohn eine sehr vernunftige Frau war.

23

Miss Bulstrode hatte alle Lehrerinnen in einem der kleineren Klassenzimmer um sich versammelt: Miss Chadwick, Miss Johnson, Miss Rich und die beiden jungen Lehrerinnen. Ann Shapland hatte ihren Stenoblock parat, um notigenfalls mitzuschreiben. Neben Miss Bulstrode sa? Kommissar Kelsey und neben diesem Hercule Poirot. Adam Goodman sa? in einer Ecke. Miss Bulstrode erhob sich.

»Es ist meine Pflicht«, sagte sie mit ruhiger, sicherer Stimme, »Ihnen allen mitzuteilen, was wir bisher erfahren haben. Kommissar Kelsey hat mich auf dem Laufenden gehalten. Monsieur Hercule Poirot, der internationale Verbindungen besitzt, ist es gelungen, wichtige Informationen aus der Schweiz zu bekommen. Er selbst wird Ihnen spater daruber berichten. Leider sind unsere Nachforschungen noch nicht beendet, aber gewisse Dinge haben sich inzwischen aufgeklart. Ich glaube, es wird allen eine Beruhigung sein zu erfahren, wie die Sache im Augenblick steht.«

Miss Bulstrode sah Kommissar Kelsey an, und dieser stand auf.

»Offiziell bin ich nicht befugt, Ihnen alles mitzuteilen, was ich wei?. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass wir Fortschritte machen und zu wissen glauben, wer fur die drei Verbrechen verantwortlich ist. Mehr mochte ich jetzt nicht sagen. Mein Freund, Hercule Poirot, der nicht zum Schweigen verpflichtet ist, wird Ihnen nun gewisse Informationen geben, die er selbst uns verschafft hat. Ich wei?, dass Miss Bulstrode sich auf Sie und Ihre Diskretion verlassen kann. Sie werden begreifen, dass Klatsch und Gerede unbedingt vermieden werden mussen. Ist das klar?«

»Selbstverstandlich, wir sind alle bereit, Meadowbank die Treue zu halten«, sagte Miss Chadwick emphatisch.

»Selbstverstandlich«, versicherten Miss Johnson und die beiden jungen Lehrerinnen.

»Das versteht sich von selbst«, erklarte Eileen Rich.

»Darf ich bitten, Monsieur Poirot?«

Hercule Poirot stand auf, lachelte liebenswurdig und zwirbelte seinen Schnurrbart. Die beiden jungen Lehrerinnen konnten ein Kichern nur mit Muhe unterdrucken.

»Ich wei?, dass Sie alle viel durchgemacht haben und dass Miss Bulstrode selbstverstandlich am schwersten betroffen ist. Sie haben drei Ihrer Kolleginnen verloren, von denen eine seit Langem in Meadowbank tatig war, namlich Miss Vansittart. Obwohl Miss Springer und Mademoiselle Blanche erst kurze Zeit hier waren, muss auch ihr Tod ein schwerer Schock fur Sie gewesen sein. Sie selbst hatten zweifellos das Gefuhl, in Gefahr zu sein, denn es schien, dass eine Art Vendetta gegen die Lehrerinnen dieser Schule im Gange war. Kommissar Kelsey und ich konnen Ihnen jedoch versichern, dass das nicht der Fall ist. Durch eine Serie unglucklicher Zufalle wurde Meadowbank zum Zentrum zweifelhafter Umtriebe. Es gab da, so konnte man sagen – eine Katze im Taubenschlag. Drei Morde und eine Entfuhrung haben stattgefunden. Ich werde mich zuerst mit der Entfuhrung beschaftigen, denn obwohl es sich auch hier um ein Verbrechen handelt, durfen wir uns dadurch nicht ablenken lassen. Wir durfen nicht vergessen, dass sich in unserer Mitte ein Morder befindet, der vor nichts zuruckschreckt.«

Er nahm eine Fotografie aus der Tasche.

»Zuerst mochte ich Ihnen diese Fotografie zeigen.«

Kelsey nahm sie ihm ab und gab sie Miss Bulstrode, die sie an die Lehrerinnen weiterreichte. Nachdem Poirot das Foto wieder an sich genommen hatte, betrachtete er aufmerksam alle Gesichter. Sie waren alle ausdruckslos.

»Erkennt jemand von Ihnen das Madchen auf diesem Bild?«

Alle schuttelten die Kopfe.

»Sie sollten sie aber erkennen«, sagte Poirot. »Ich habe diese Fotografie aus Genf bekommen. Es ist ein Bild von Prinzessin Shanda.«

»Aber das ist doch nicht Shanda!«, rief Miss Chadwick erregt.

»Doch«, erwiderte Poirot. »Ich werde das Ratsel losen. Die ganze Verwicklung hat ihren Ursprung in Ramat, wo, wie Sie wissen, vor drei Monaten ein Staatsstreich stattgefunden hat. Es gelang dem Herrscher, Prinz Ali Yusuf, mit seinem Privatpiloten zu entkommen. Jedoch sturzte das Flugzeug in den Bergen nordlich von Ramat ab und wurde erst spater aufgefunden. Ein gewisser Wertgegenstand, den Prinz Ali immer bei sich trug, war

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