»Was? Der drollige kleine Kerl, der Julia zuruckgebracht hat?«
»Ja, er ist ein beruhmter Privatdetektiv.«
»Was er im Schilde fuhrt, wei? ich allerdings nicht«, fuhr Adam fort. »Er hat sogar einen seiner Freunde veranlasst, meine Mutter aufzusuchen.«
»Ihre Mutter? Warum?«, fragte Ann.
»Keinen Schimmer. Er scheint ein krankhaftes Interesse fur Mutter zu haben. Er hat auch Jennifers Mutter aufgesucht.«
»War er auch bei der Mutter von Miss Rich und bei der Mutter von Chaddy?«
»Miss Rich hat keine Mutter mehr, sonst ware er bestimmt auch zu ihr gegangen«, sagte Adam.
»Miss Chadwick erzahlte mir, dass ihre Mutter in Cheltenham lebt. Sie ist uber achtzig. Die arme Chaddy sieht selbst nicht viel junger aus… Dort kommt sie ubrigens.«
Adam blickte auf. »Ja, sie ist in den letzten Wochen sehr gealtert.«
»Weil sie die Schule wirklich liebt, sie ist ihr ganzes Leben«, erklarte Ann. »Der Gedanke an den Verfall von Meadowbank ist ihr unertraglich.«
Miss Chadwick sah tatsachlich zehn Jahre alter aus als am Tag des Schuljahrbeginns. Ihr Gesicht trug nicht mehr den Ausdruck zufriedener Geschaftigkeit, wahrend sie sich mit muden, langsamen Schritten naherte.
»Miss Bulstrode wunscht Ihnen verschiedene Anweisungen wegen des Gartens zu geben«, sagte sie zu Adam. »Bitte kommen Sie mit.«
»Erst muss ich mal etwas Ordnung machen«, brummte Adam und verschwand in Richtung Gerateschuppen.
Ann und Miss Chadwick gingen gemeinsam zum Haus.
»Wie still und ode es geworden ist«, sagte Ann und sah sich nachdenklich um. »Wie im Zuschauerraum eines halb leeren Theaters.«
»Grauenhaft – einfach grauenhaft, dass es in Meadowbank
»Es kann alles wieder werden«, trostete Ann. »Die meisten Menschen haben glucklicherweise kein gutes Gedachtnis.«
»Ein ganz so schlechtes haben sie leider nicht«, seufzte Miss Chadwick unglucklich.
Ann antwortete nicht. Im Grunde ihres Herzens gab sie Miss Chadwick Recht.
Mademoiselle Blanche verlie? das Klassenzimmer, in dem sie eine Franzosischstunde gegeben hatte.
Sie sah auf ihre Armbanduhr. Ja, sie hatte reichlich Zeit. Jetzt, da nur noch so wenige Schulerinnen in Meadowbank waren, mangelte es niemals an Zeit.
Sie ging in ihr Zimmer und setzte sich einen Hut auf. Sie ging nie ohne Hut aus. Dann betrachtete sie sich missbilligend im Spiegel. Keine sehr bemerkenswerte Personlichkeit! Aber das konnte auch seine Vorteile haben. Sie lachelte. Diese Tatsache hatte es ihr ermoglicht, die hervorragenden Zeugnisse ihrer verstorbenen Schwester Angele und deren Passbild zu benutzen. Angele war eine begeisterte Lehrerin gewesen, aber sie selbst fand diesen Beruf unertraglich langweilig, obwohl sie mehr verdiente als je zuvor. Auch alles andere war uber Erwarten gut gegangen, und die Zukunft sah rosig aus. Vieles wurde sich andern, niemand wurde die unscheinbare Mademoiselle Blanche wiedererkennen… Sie sah sich im Geist schon an der Riviera, gepflegt, elegant und umschwarmt. Man brauchte nur Geld zu haben, um das Leben in vollen Zugen genie?en zu konnen. Ja, es hatte sich gelohnt, in diese unsympathische englische Schule zu kommen.
Sie nahm ihre Handtasche und verlie? das Zimmer. Im Korridor kniete eine Frau neben einem Eimer. Eine neue Putzfrau – in Wirklichkeit naturlich ein Polizeispitzel. Glaubten die wirklich, man sei so einfaltig, dieses Manover nicht zu durchschauen?
Sie lachelte noch immer verachtlich, wahrend sie durch das Parktor zu der gegenuberliegenden Autobushaltestelle ging. Sie wartete, der Bus musste gleich kommen.
Auf der ruhigen Landstra?e waren nicht viele Leute zu sehen. Ein Mann beugte sich uber den geoffneten Kuhler seines Wagens. Ein Fahrrad war an die Hecke gelehnt. Der Besitzer stand daneben. Ein Mann wartete an der Haltestelle.
Einer der drei Manner wurde ihr zweifellos folgen… geschickt und unauffallig, das verstand sich von selbst. Aber das storte sie nicht im Geringsten. Wohin sie ging und was sie tat, durfte jeder sehen.
Der Autobus kam, und sie stieg ein. Eine Viertelstunde spater stieg sie am Hauptplatz der Stadt aus. Ohne sich umzusehen, ging sie uber die Stra?e, um die Auslagen im Schaufenster des Warenhauses zu betrachten. Die ausgestellten Kleider gefielen ihr nicht. Unelegant und provinziell, dachte sie verachtlich. Trotzdem blieb sie eine Zeit lang vor dem Schaufenster stehen, als bewunderte sie die Modelle.
Dann ging sie hinein, kaufte zwei Kleinigkeiten, stieg die Treppe zum ersten Stock empor und betrat den Aufenthaltsraum fur Damen. Hier gab es ein paar bequeme Stuhle, einen Schreibtisch und eine Telefonzelle.
Sie ging in die Telefonzelle, warf die notwendigen Munzen in den Schlitz, wahlte eine Nummer und wartete darauf, die gewunschte Stimme zu horen. Sie nickte zufrieden, druckte auf den entsprechenden Knopf und begann zu sprechen.
»Hier Maison Blanche, haben Sie richtig verstanden?
Sie nannte die geforderte Summe.
»Wenn das Geld nicht eingezahlt wird, muss ich mich mit den entsprechenden Stellen in Verbindung setzen, um mitzuteilen, was ich in der Nacht zum Zwolften beobachtet habe. Es handelt sich um den Fall Springer. Sie haben etwas uber vierundzwanzig Stunden Zeit.«
Sie legte den Horer auf und betrat wieder den Aufenthaltsraum, in den eben eine andere Dame gekommen war – vielleicht eine Kundin, vielleicht auch nicht. Wie dem auch sei, sie konnte nichts mitgehort haben.
Mademoiselle Blanche wusch sich in dem danebenliegenden Raum die Hande. Danach ging sie in die Blusenabteilung, probierte zwei Blusen an, kaufte aber keine von beiden. Sie verlie? das Warenhaus, schlenderte uber die Stra?e, ging in eine Buchhandlung und fuhr mit dem nachsten Autobus zuruck nach Meadowbank.
Wahrend sie die Einfahrt hinaufging, lachelte sie zufrieden. Alles war glanzend arrangiert. Die geforderte Summe war nicht zu gro?… es war nicht unmoglich, sich das Geld binnen vierundzwanzig Stunden zu verschaffen. Zunachst einmal brauchte sie nicht mehr… Selbstverstandlich wurde sie spater weitere Forderungen stellen…
Sie hatte keine Gewissensbisse, da sie es nicht fur ihre Pflicht hielt, der Polizei das, was sie wusste, mitzuteilen. Diese Springer war eine grassliche Person gewesen, unhoflich und
Mademoiselle Blanche verweilte eine Zeit lang beim Schwimmbassin. Sie beobachtete Eileen Rich und Ann Shapland beim Springen. Beide waren ausgezeichnete Schwimmerinnen. Aus dem Wasser klang frohliches Madchengelachter.
Dann lautete es, und Mademoiselle Blanche hatte eine weitere Franzosischstunde zu geben. Die Schulerinnen waren geschwatzig und unaufmerksam, aber das fiel Mademoiselle Blanche kaum auf. Bald wurde sie den verhassten Beruf der Lehrerin endgultig aufgeben konnen.
Sie ging hinauf in ihr Zimmer, um sich vor dem Abendessen etwas zurechtzumachen. Sie bemerkte zerstreut, dass sie ihren Regenmantel, entgegen ihrer Gewohnheit, uber einen Stuhl in der Ecke geworfen hatte, anstatt ihn in den Schrank zu hangen.
Sie beugte sich vor, um ihr Gesicht im Spiegel besser sehen zu konnen. Sie puderte sich und schminkte sich die Lippen…
Die Bewegung war so schnell, so gerauschlos, so geschickt, dass sie sie zu spat bemerkte. Der Mantel auf dem Stuhl schien plotzlich Falten zu werfen und auf den Boden zu fallen. Im Bruchteil einer Sekunde erhob sich hinter Mademoiselle Blanches Rucken eine Hand mit einem Sandsack, der im gleichen Augenblick auf ihren Nacken herabsauste, als sie den Mund zum Schreien offnete.