»Das soll hei?en, dass das alles hier bis aufs Mark verdorben ist, und dieser Governor-Typ ist der krankhafteste von allen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das in der nachsten Zeit andert.«
»Und …?«
Sie zuckt die Schultern. »Ich wage die Alternativen ab.«
»Und die sind?«
Sie geht wieder auf und ab, wahlt ihre Worte mit Bedacht: »Meine Sachen zu packen und einfach alleine abzuhauen gleicht einem Suizid … Andererseits versuche ich lieber mein Gluck da drau?en, als fur immer und ewig hierzubleiben.«
Martinez wirft Stevens einen Blick zu. Der aber lauscht gebannt, wahrend er seine Brille mit einem Tuch putzt. Die beiden Manner tauschen einen unbehaglichen Blick miteinander aus. Endlich erhebt Stevens das Wort: »Sie haben von Optionen geredet.«
Lilly halt inne und starrt Martinez an. »Diese Typen, mit denen du auf der Barrikade arbeitest … Vertraust du ihnen?«
Martinez nimmt einen weiteren Zug von seinem Stumpen, und der Rauch formt einen Kranz um seinen Kopf. »Mehr oder weniger.«
»Einigen mehr, anderen weniger?«
Er zuckt die Achseln. »Konnte man so sagen, ja.«
»Aber du vertraust diesen Typen mehr als anderen? Sie wurden hinter dir stehen, wenn es hart auf hart kommt?«
Martinez starrt sie an. »Wovon reden wir hier, Lilly?«
Lilly holt tief Luft. Sie hat keine Ahnung, ob sie den Anwesenden hier im Raum trauen kann, aber sie scheinen die einzig vernunftigen Menschen in ganz Woodbury zu sein. Also entscheidet sie sich, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Nach einer langen Pause verkundet sie mit leiser Stimme: »Wir reden hier davon, die Macht zu ubernehmen.«
Martinez und Stevens tauschen eine weitere Reihe von unbehaglichen Blicken aus, und jetzt ist auch Alice mit dabei. Die nervose Stille wird von dem Unwetter drau?en nur noch unterstrichen. Die Winde werden immer heftiger, und Donner schuttelt das Gebaude in immer kurzeren Abstanden.
Endlich meldet sich Doc Stevens zu Wort: »Lilly, Sie wissen doch gar nicht, was Sie …«
»Nein!«, unterbricht sie ihn, schaut zu Boden und spricht in mit gefuhlloser, monotoner Stimme: »Kein Geschichtsunterricht mehr, Doc. Die Zeiten sind vorbei. Es bringt nichts mehr, immer auf Nummer sicher zu setzen. Dieser Typ, dieser Philip Blake muss weg … Und das wei? jeder hier im Raum genauso gut wie ich.«
Unbeeindruckt schaut sie Martinez in die Augen: »Ich kenne Sie so gut wie gar nicht, Martinez, aber Sie scheinen den Kopf richtig herum aufgeschraubt zu haben … Sie scheinen der Mann zu sein, der eine Revolte anfuhren und Woodbury wieder auf Kurs bringen kann.«
Martinez erwidert ihren Blick. »Hey, jetzt mal immer mit der Ruhe, sonst tun Sie sich am Ende selbst noch weh.«
»Was auch immer … Keiner von Ihnen ist dazu verpflichtet, mir zuzuhoren … Ist mir auch vollig egal.« Sie lasst die Augen jetzt von Martinez uber Alice bis hin zu Stevens wandern. »Aber jeder hier wei?, dass ich recht habe. Das wird noch alles viel schlimmer werden in Woodbury, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Und wenn Sie mich jetzt wegen Verrat denunzieren – egal, machen Sie, was Sie nicht lassen konnen. Aber das ist vielleicht unsere letzte Chance, diesen Freak zu beseitigen. Ich habe nicht vor, auf meinem Allerwertesten zu sitzen, wahrend hier eine Bombe nach der anderen hochgeht und immer mehr unschuldige Leute sterben. Jeder hier wei?, dass ich recht habe.« Sie blickt zu Boden. »Der Governor muss weg.«
Eine weitere Donnersalve ruttelt an den Grundfesten des Stadions, wahrend keiner wagt, das Wort zu erheben. Endlich meldet sich Alice zu Wort.
»Sie hat recht, es fuhrt kein Weg daran vorbei.«
Sechzehn
Am nachsten Tag wutet der Sturm uber Georgias Sudosten mit all seiner Macht, und Woodbury erfahrt ein wahres Bombardement von peitschendem Regen und eiskalten Graupelschauern. Telefonmasten geben unter dem Gewicht nach, fallen krachend auf Highways voller verlassener Autowracks. Gullis und Bachlaufe uberfluten, leere Bauernhofe stehen unter Wasser, wahrend die hoheren Gefilde mit einer tuckischen Eisschicht bedeckt sind. Funfzehn Kilometer sudostlich von Woodbury, in einem bewaldeten Talkessel in der Nahe des Highway 36, zieht der Sturm uber den gro?ten Friedhof im Suden der Vereinigten Staaten.
Das Edward Nightingale Memorial Gardens and Columbarium grenzt uber eine Lange von eineinhalb Kilometer an eine Allee an, die sudlich des Sprewell State Park verlauft. Der Friedhof beherbergt Zehntausende historischer Graber. Die gotische Kapelle und das Besucherzentrum befinden sich im Osten der Anlage, ein Katzensprung vom Woodland Medical Center entfernt, das eines der gro?ten Krankenhauser von Georgia ist. Seit den ersten Wochen ist es quasi zur Hochburg dieser grasslichen Reanimationen geworden. Das Personal ist schon vor langer Zeit geturmt. Jetzt wimmelt der gesamte Gebaudekomplex mitsamt der Leichenhalle und dem riesigen Labyrinth von Aufbahrungshallen in den gewaltigen Kellergeschossen von Nightingale von Zombies. Einige warteten auf Autopsien, andere auf ihre Beerdigung. Alle von ihnen sind bis zu diesem Zeitpunkt in ihren Kuhlfachern eingeschlossen.
An jenem Samstag um vier Uhr siebenunddrei?ig Eastern Standard Time tritt der nahe gelegene Flint River uber seine Ufer. Unter Blitzen, die in stroboskopartigen Abstanden die Erde erhellen, stromen die Wassermassen uber die Ufer, machen Bauernhofe dem Erdboden gleich, sturzen Werbetafeln um und spulen zuruckgelassene Autos uber Feldwege wie Spielzeug, das von einem wutenden Kind zur Seite geworfen wird. Die Schlammlawinen beginnen eine Stunde spater. Der gesamte Hang nordlich des Friedhofs bricht zusammen und sturzt auf den Flint River zu. Auf seinem Weg deckt er Graber ab, spult alte Sarge mit sich, die aufrei?en und ihren grasslichen Inhalt in den Ozean von Schlamm, Eisregen und Wind entleeren. Die meisten Skelette brechen einfach auseinander wie Streichholzer, aber viele der nicht so alten Leichen, insbesondere diejenigen, die noch intakt und frisch genug sind, um zu krabbeln oder zu kriechen, arbeiten sich langsam, aber stetig in Richtung Land.
Verzierte Fenster entlang des Nightingale Besucherzentrums zerbersten vom Druck der Schlammlawine, implodieren, und die orkanartigen Winde bewerkstelligen den Rest, blasen Teile gotischer Turmspitzen fort und rei?en ganze Dacher auf. Einen halben Kilometer weiter ostlich treffen die Fluten auf das Krankenhaus und bringen Trummer und Treibgut mit sich, denen die Turen und Fenster nicht standhalten konnen.
Die Untoten, die bis vor Kurzem noch in der Leichenhalle gefangen waren, tauchen jetzt aus allen erdenklichen Offnungen hervor, werden von den Luftstromungen und den Winden erfasst.
Um funf Uhr ist eine Unmenge von Zombies – es sind genug an der Zahl, um eine ganze Totenstadt zu bevolkern – gleich einer gestrandeten Schule von Fischen an Land gespult worden und verteilt sich uber die angrenzenden Tabakfelder und Obstplantagen. Sie stolpern neben- und ubereinander her, hangen in Baumen, andere treiben weiter, Kilometer uber Kilometer unter Wasser, dreschen im dusteren Nass vor unfreiwilligem, instinktivem Urhunger um sich. Tausende sammeln sich in den Moranen, Talern und geschutzten Landstrichen nordlich des Highway. Sie klettern aus dem Schlamm wie Pantomimen von Urmenschen aus einer palaolithischen Suppe.
Noch bevor die Regensturme vorbei sind, sie ziehen weiter gen Osten Richtung Kuste, ubertrifft die noch verstreute Zahl der Toten sogar die Menge der Lebenden, die zu Zeiten vor der Plage in der Stadt Harrington lebten.
Das Nachspiel dieses Jahrhundertsturms endet in beinahe tausend Zombies, die sich langsam zusammenfinden und die gro?te Herde seit Beginn der Plage bilden. In der verregneten Dunkelheit sammeln sie sich muhsam und unbeholfen, bis sie sich in einem riesigen Pulk zwischen dem Crest Highway und der Roland Road gefunden haben. Die Herde ist so dicht, dass ihre verwesenden Kopfe aus der Ferne wie eine dunkle, brackige Flut aussehen, die unaufhaltsam uber das Land stromt.
Aus keinem ersichtlichen Grund, au?er vielleicht der unerklarlichen Verhaltensweise der Toten, rollt die Herde vielleicht aus Instinkt, vielleicht wegen des Geruchs, der Pheromone oder einfach nur aus Zufall nach Nordwesten direkt auf die am dichtesten bevolkerte Stadt der Gegend zu: Woodbury. Sie haben noch funfzehn