Tara behalt Philip weiterhin im Auge, als sie befiehlt: »Raus mit euch!«
Zuerst klingt dieser einfache Imperativ fur Nick Parsons wie reine Rhetorik. Er glaubt nicht, dass Tara sie herumkommandiert, sondern es kommt ihm so vor, als ob sie ein Zeichen setzen will. Aber dieser erste Eindruck – oder ist es vielleicht nur eine vage Hoffnung – verschwindet in dem Augenblick, in dem er Taras Gesicht bemerkt.
»Raus!«
Philip starrt sie weiterhin an. »Wo ich herkomme, hei?t so etwas Mord.«
»Nenne es, wie du willst. Schnappt euch eure Sachen und verschwindet.«
»Willst du uns ohne Waffen auf die Stra?e schicken?«
»Ich werde noch viel mehr tun als das«, erwidert sie. »Ich werde mit einem eurer Gewehre auf das Dach steigen und sicherstellen, dass ihr auch wirklich die Kurve kratzt.«
Nach einem langen Augenblick des Schweigens schaut Nick seinen Kumpel fragend an.
Endlich wendet Philip den Blick von der beleibten, vollbusigen Frau mit der Pistole in der Hand ab. »Nimm dein Zeug«, fordert er Nick auf und wendet sich dann an Brian, »Ich habe einen Regenumhang in meinem Rucksack – kannst du ihn Penny umwerfen?«
Sie brauchen kaum Zeit, um zu packen und sich fertigzumachen – vielleicht funf Minuten. Tara Chalmers steht die ganze Zeit uber Wache. Brian kann es nicht so recht fassen, aber er halt den Mund und uberlegt. Was hat das alles ausgelost? Er schnurt seine Stiefel, legt den Regenumhang um Penny und kommt zu dem Schluss, dass alles auf irgendeine kranke Dreiecksbeziehung hinweist. Allein die Tatsache, dass April nicht hier ist, spricht Bande. Genau wie Taras unnachgiebige, selbstgerechte Wut. Aber worin liegt der wahre Grund fur ihr Verhalten? Es kann nichts mit Philip zu tun haben. Nichts mit dem, was er gesagt oder getan hat. Also – was konnte die beiden Frauen so tief verletzen?
Fur einen verruckten Augenblick wird Brian zuruck in die Vergangenheit katapultiert, zuruck zu seiner wahnsinnigen Exfrau. Zwanghaft, explosiv und unzuverlassig, war Jocelyn durchaus imstande, ebenfalls solche Dinge durchzuziehen. Plotzlich war sie fur Wochen verschwunden. Einmal, als Brian auf der Abendschule war, warf sie sein ganzes Hab und Gut auf die Treppe vor ihr Mietshaus, als ob sie einen Schmutzfleck aus ihrem Leben wischen wollte. Aber das hier ist anders. Die Chalmers-Frauen haben bisher nicht den Eindruck gemacht, als ob sie irrational oder verruckt waren.
Was Brian am meisten Sorgen macht, ist das Verhalten seines Bruders. Unter der Oberflache seiner Verargerung, seiner Wut und Frustration wirkt Philip Blake beinahe hoffnungslos. Das ist ein Hinweis, ein wichtiger Hinweis. Nur dumm, dass er nicht genugend Zeit hat, daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
»Los, dann lasst uns gehen«, verkundet Philip, den Rucksack bereits geschultert. Er tragt seine Jeansjacke – der schwarze, schmierige Schmutz und das getrocknete Blut ihrer ersten Begegnungen mit den Zombies sind noch sichtbar – und geht zur Tur.
»Warte!«, halt Brian ihn auf und wendet sich an Tara. »Lass uns zumindest etwas zu essen mitnehmen. Fur Penny.«
Sie wirft ihm einen kalten Blick zu. »Ihr kommt hier lebendig raus. Das reicht.«
»Los, Brian« fordert Philip seinen Bruder unter dem Turrahmen auf. »Es ist vorbei.«
Brian wirft ihm einen Blick zu. Etwas in Philips tief gefurchtem, verwitterten Gesicht ruhrt Brian. Philip gehort zur Familie. Sie haben viel zusammen durchgemacht und zu viel gemeinsam erlebt, um jetzt auf der Stra?e wie ausgesetzte Haustiere zu krepieren. Brian verspurt ein ungewohntes Gefuhl, das sich in ihm zusammenbraut und ihn mit einer fremden Empfindung erfullt, die ihm Kraft verleiht. »Gut«, sagt er schlie?lich. »Wenn es so sein soll …«
Er spricht den Satz nicht zu Ende. Es gibt nichts mehr zu sagen. Er legt einen Arm um Penny und fuhrt sie aus der Wohnung, ihrem Vater hinterher.
Der Regen ist sowohl ein Fluch als auch ein Segen. Er prasselt ihnen ins Gesicht, als sie aus der Tur auf die Stra?e treten. Aber als sie sich unter einem verkummerten Baum in der Parkanlage zusammenkauern, um sich zu orientieren, merken sie, dass der Regen auch die Bei?er von der Stra?e gefegt hat. Die Gullys flie?en uber, die Wassermassen bahnen sich einen Weg uber den Teer, und die grauen Wolken hangen tief herab.
Nick schielt nach Suden in die Ferne. Die Stra?en sind relativ frei. »Da entlang ist der beste Weg! Da sind die meisten Sicherheitszonen.«
»Alles klar, dann gehen wir nach Suden«, erklart Philip und wendet sich an Brian. »Kannst du sie wieder auf die Schultern nehmen? Ich zahle auf dich, Kumpel. Pass auf sie auf.«
Brian wischt sich den Regen aus dem Gesicht und streckt dann den Daumen hoch, um sein Einverstandnis zu signalisieren.
Er dreht sich zu Penny und erklart ihr, dass er sie gleich auf seine Schultern heben wird, als er plotzlich innehalt und sie unglaubig anstarrt. Auch sie streckt einen Daumen in die Luft. Brian wirft seinem Bruder einen Blick zu. Die beiden bedurfen keiner Worte, um einander zu verstehen.
Penny Blake steht da und wartet. Trotzig streckt sie ihr Kinn in die Hohe. Ihre sanften Augen blinzeln, um den Regen zu vertreiben, und ihr Gesichtsausdruck erinnert an den ihrer Mutter, wenn sie wieder einmal den Unsinn der Manner uber sich ergehen lassen musste. Endlich sagt das Madchen: »Ich bin kein Baby mehr … Konnen wir jetzt gehen?«
Sie arbeiten sich zur nachsten Ecke vor, wobei sie stets geduckt bleiben. Auf dem glitschigen Burgersteig rutschen sie immer wieder aus. Der Regen verlangsamt ihr Vorankommen ungemein. Die Tropfen klatschen ihnen ins Gesicht, durchdringen ihre Kleidung und kriechen in ihre Gelenke. Es ist ein eisiger Herbstregen, der keine Anzeichen macht, besser zu werden.
Vor ihnen hat sich eine kleine Horde Zombies an einer Bushaltestelle versammelt. Die klebrigen Haare hangen ihnen wie verfilztes Moos in die verwesten Gesichter. Sie sehen aus, als wurden sie auf einen Bus warten, der nie kommen wird.
Philip fuhrt seine Gruppe uber eine Kreuzung und sucht unter einem Vordach Schutz. Nick zeigt in Richtung der ersten Sicherheitszone: Der Bus wartet einen halben Hauserblock sudlich hinter der Fu?gangerbrucke auf sie. Eine rasche Geste von Philip, und die vier Gestalten eilen – an Schaufensterfronten gedruckt – auf den Bus zu.
»Ich bin dafur, dass wir zuruckgehen«, murrt Nick Parsons, als er sich auf den Boden des Busses kauert und seinen Rucksack durchwuhlt. Der Regen prasselt wie gedampfte Maschinengewehrsalven auf das Blech. Nick holt ein T-Shirt heraus und wischt sich damit den Regen aus dem Gesicht. »Das ist nur eine einzige Frau, mit der wir es zu tun haben. Wir konnen die Wohnung von ihr zuruckerobern. Ich schlage vor, dass wir zuruckschleichen und sie verdammt noch mal hinauswerfen.«
»Du glaubst, dass wir ihr die Wohnung einfach so abnehmen konnen?« Philip steht neben dem Fahrersitz und durchsucht die Ablagefacher in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden. »Hast du deine kugelsichere Weste dabei?«
Der Bus – ein neun Meter langes Gefahrt mit Plastiksitzen, die seitlich aufgereiht sind und nach innen blicken – riecht nach den gespenstischen Ausdunstungen seiner ehemaligen Passagiere. Der Geruch erinnert an einen nassen Hund. Hinten im Bus, auf dem vorletzten Sitz, hat Penny es sich bequem gemacht. Brian sitzt neben ihr und zittert in seinen durchnasster Jeans und dem Sweatshirt. Er hat ein schlechtes Gefuhl, und es hat nichts mit dem Sturm oder der urbanen Wildnis Atlantas zu tun.
Seine Befurchtungen des bevorstehenden Untergangs stehen viel mehr mit den Geschehnissen der letzten Nacht in Zusammenhang. Er kann nicht anders als daruber nachzugrubeln. Was ist zwischen siebzehn Uhr, als sich Philip und April auf den Weg machten, und funf Uhr am nachsten Morgen geschehen, als alles schon passiert war? Der rauen Anspannung in der Stimme seines Bruders und der kalten Entschlossenheit in seinem Gesicht nach zu schlie?en, wird es nicht einfach sein, das Ratsel zu losen. Ihre erste Aufgabe lautet sowieso erst mal zu uberleben. Aber die Sache will Brian nicht aus dem Kopf. Das Geheimnis spricht ihn auf einer tieferen Ebene an – einer Ebene, die er nicht mit Worten fassen kann.
Drau?en blitzt es. Fur einen Augenblick wird alles grell erhellt.
»Uns ist es dort gut gegangen«, fahrt Nick mit jammernder Stimme fort. Er steht auf und findet an einer herunterhangenden Handschlaufe Halt. »Mann, das sind unsere Waffen. Soll die ganze Arbeit, die wir da reingesteckt haben, fur die Katz gewesen sein? Die Wohnung gehort uns genauso wie den Chalmers!«
»Runter mit dir«, befiehlt Philip tonlos. »Ich will nicht, dass uns so ein Ekelbrocken da drau?en sieht.«
Nick duckt sich.
Philip hat auf dem Fahrersitz Platz genommen. Die Federn quietschen unter seinem Gewicht. Er betrachtet