Philips Herz beginnt zu pochen. Sein Rucksack – der Rucksack, den er vor zwei Wochen dabeihatte, als sie den Chalmers uber den Weg liefen – stand immer an der Wand. Aber jetzt ist er nicht mehr da. Und auch seine Pistole ist verschwunden. Er legte die Ruger samt dem letzten Magazin auf den Nachttisch. Aber auch die Munition ist wie vom Erdboden verschluckt.

Philip springt auf.

Er lasst einen Blick durch das Zimmer schweifen. Das trube Morgenlicht reicht, um den Raum zu erhellen und Schatten des Regens drau?en vor dem Fenster an die Wand zu werfen. Seine Stiefel stehen auch nicht mehr da, wo er sie hingestellt hat. Die waren hundertprozentig unter dem Fenster! Wer zum Teufel sollte ihm seine Stiefel wegnehmen? Er ermahnt sich, Ruhe zu bewahren. Es muss eine einfache Erklarung geben. Uberhaupt gibt es keinen Grund, sich aufzuregen. Doch dass seine Pistole verschwunden ist, macht ihm Sorgen. Er entschlie?t sich, nichts zu ubersturzen und die Sache Schritt fur Schritt anzugehen.

Leise, damit Penny nicht aufwacht, schleicht er durchs Zimmer und schlupft aus der Tur in den Gang.

Die Wohnung ist still. Brian schlaft im Wohnzimmer auf dem ausziehbaren Bett. Philip geht in die Kuche und macht den Campingkocher an, um sich aus dem Regenwasser in einem der Eimer einen Kaffee zu machen. Er wascht sich oberflachlich das Gesicht und versucht, Ruhe zu bewahren und erst einmal tief Luft zu holen.

Mit dem Kaffee in der Hand untersucht er den Rest der Wohnung. Er geht den Gang entlang zu Aprils Schlafzimmer.

Ihre Tur steht offen.

Er spaht hinein und sieht, dass das Zimmer leer ist. Sein Puls schlagt schneller.

»Sie ist nicht da«, sagt jemand hinter ihm.

Er dreht sich um. Tara Chalmers steht direkt vor ihm. Sie hat seine Ruger in der Hand und richtet den Lauf auf Philips Kopf.

Funfzehn

Ah, Schwester … Immer schon locker bleiben.« Philip bewegt sich nicht vom Fleck, sondern steht wie angefroren da – die eine Hand erhoben, in der anderen den Kaffeebecher. Er halt diese Hand so von sich gestreckt, als ob er den Kaffee anbieten wollte. »Was auch immer los ist, ich bin mir sicher, dass wir daruber reden konnen.«

»Ehrlich?« Tara Chalmers blickt ihn mit ihrem geschminkten Gesicht finster an. Ihre Augen funkeln. »Das glaubst du wirklich?«

»Hor zu … Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht, Schwester, aber …«

»Was hier vor sich geht«, unterbricht sie ihn ohne ein Anzeichen von Nervositat oder Angst, »ist Folgendes: Es werden sich ein paar Dinge andern.«

»Tara. Was auch immer du …«

»Lass mich eines klarstellen.« Ihre Stimme klingt ruhig und emotionslos. »Du haltst jetzt deinen Mund und tust genau das, was ich dir sage, oder ich werde dich wegpusten. Und glaub blo? nicht, dass ich bluffe.«

»Das ist …«

»Weg mit dem Becher.«

Philip gehorcht und stellt den Kaffee langsam auf den Boden. »Okay, Schwester. Wie du willst.«

»Hor auf, mich Schwester zu nennen.«

»Ja, Ma’am.«

»Und jetzt holen wir deinen Bruder, deinen Freund und die Kleine.«

Adrenalin schie?t durch Philips Adern. Er glaubt nicht, dass Tara es in sich hat, ihm wirklich wehzutun, und er zieht in Erwagung, sich auf sie zu werfen, um sich seine Waffe zuruckzuholen. Immerhin sind es von ihm bis zum Lauf der Ruger nicht einmal zwei Meter. Aber er widersteht der Versuchung. Es ist besser, erst einmal zu gehorchen und sie zum Reden zu bringen.

»Darf ich etwas sagen?«

»SETZ DEINEN HINTERN IN BEWEGUNG!«

Ihr plotzliches Schreien durchschneidet die Stille und ist laut genug, um nicht nur Penny und Brian aufzuwecken, sondern wahrscheinlich auch Nick, der sowieso ein Fruhaufsteher ist, im oberen Stockwerk aufzuschrecken. Philip macht einen Schritt auf Tara zu. »Wenn du mir nur eine Chance geben wurdest …«

Die Ruger explodiert.

Der Schuss geht daneben – vielleicht absichtlich, vielleicht auch nicht –, und die Kugel schlagt ein Loch in die Wand einen halben Meter uber Philips linker Schulter. Der Knall der Pistole hallt in dem winzigen Flur ohrenbetaubend laut wider. Philips Ohren drohnen. Ein Stuck Putz fliegt ihm mit voller Wucht ins Gesicht und bleibt an seiner Wange kleben.

Er kann Tara durch den dichten Rauch kaum ausmachen. Entweder lachelt sie oder schneidet eine Grimasse – schwer zu sagen.

»Der nachste Schuss landet in deinem Gesicht«, hort er sie sagen. »Willst du jetzt ein guter Junge sein oder was?«

Nick Parsons hort den Schuss, kurz nachdem er die Bibel fur seine Morgenandacht aufgeschlagen hat. Er sitzt im Bett, den Rucken an das Kopfteil gelehnt, und zuckt bei dem Knall zusammen, wodurch er das Buch fallen lasst. Es war an der Stelle der Johannes-Offenbarung, Kapitel eins, Vers neun aufgeschlagen, wo Johannes verkundet: »Ich, Johannes, euer Bruder, teile mit euch die Bedrangnis und die Hoffnung auf Gottes neue Welt und die Standhaftigkeit, die Jesus uns schenkt.«

Nick springt aus dem Bett und eilt zum Schrank, um sich sein Gewehr zu schnappen, das dort eigentlich an der Wand stehen sollte. Tut es aber nicht. Panik kriecht Nicks Ruckgrat empor, und er dreht sich um, lasst den Blick durchs Zimmer schweifen und bemerkt, was alles fehlt. Sein Rucksack – weg. Seine Schachtel mit Munition – weg. Seine Werkzeuge, sein Pickel, seine Stiefel, seine Karten – alles weg.

Zumindest ist seine Jeans noch da, schon sorgfaltig zusammengefaltet und uber die Rucklehne des Stuhls gelegt. Er springt formlich in die Hose und rennt dann aus dem Schlafzimmer durch die kleine Wohnung aus der Tur hinaus den Flur entlang. Die Treppe lasst er in Windeseile hinter sich, ehe er in den Gang im Parterre einbiegt. Er glaubt, ein Schreien zu horen. Irgendjemand scheint sehr wutend, aber ganz sicher ist er sich nicht. Er lauft auf die Wohnung der Chalmers zu. Die Tur ist nicht abgeschlossen, und er tritt ein.

»Was ist los? Was zum Teufel ist hier los?«, fragt Nick, als er im Wohnzimmer abrupt anhalt. Er sieht etwas, was keinen Sinn ergibt. Vor ihm steht Tara Chalmers mit erhobener Waffe – Philips Waffe – und bedroht seinen besten Freund, der eine merkwurdige Grimasse zieht. Daneben ist Brian, der Penny an sich gezogen und seine Arme schutzend um sie gelegt hat. Und was noch merkwurdiger ist: All ihre Sachen sind als gro?er Haufen mitten im Wohnzimmer vor dem Sofa aufgeturmt.

»Los, du auch. Zu den anderen«, befiehlt Tara und weist ihm den Weg mit dem Lauf der Waffe zu Philip, Brian und Penny.

»Was ist passiert?«

»Ruhe. Ihr tut, was ich sage.«

Nick gehorcht zwar, aber er ist verwirrt. Was um Himmels willen geht hier vor sich? Unwillkurlich wirft Nick Philip einen Blick zu und sucht in den Augen des gro?en Mannes nach einer Antwort. Aber zum ersten Mal, seitdem Nick Philip Blake kennt, macht er einen beinahe kleinlauten, belammerten Eindruck. Frustration und Unschlussigkeit stehen ihm im Gesicht geschrieben. Nick schaut Tara an. »Wo ist April? Was ist passiert?«

»Das geht dich nichts an.«

»Was hast du vor? Was soll das, unsere ganze Sachen in einem Haufen auf …«

»Nicky«, meldet sich Philip zu Wort. »Vergiss es. Tara wird uns schon sagen, was sie mit uns vorhat. Und wir werden brav gehorchen, und alles wird sich in Wohlgefallen auflosen.«

Philip hat zwar mit Nick gesprochen, sieht aber die ganze Zeit uber Tara an.

»Hor auf deinen Freund, Nick«, rat diese. Auch sie richtet sich zwar an Nick, starrt aber unentwegt Philip an. Ihre Augen funkeln vor Abscheu, Rache und irgendetwas anderem – etwas, das Nick nicht versteht, etwas das eine beunruhigend intime Qualitat an sich zu haben scheint.

Plotzlich meldet sich Brian zu Wort: »Und was genau hast du mit uns vor?«

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