Philip versteht, dass er vor vier zusammengebundenen Schubkarren steht, denen die Rader fehlen. In jeder Wanne liegt eine etwa funfzehn Zentimeter dicke Schicht Erde, aus der bereits einige Triebe ragen. »Das ist ja prima«, lobt er Penny und druckt ihre Hand. Dann wendet er sich an April. »Das ist wirklich prima.«

»War Pennys Idee«, erwidert April, und der Stolz spiegelt sich in ihren Augen wider. Sie deutet auf eine Reihe Eimer. »Au?erdem sammeln wir jetzt Regenwasser.«

Philip saugt April Chalmers hubsches, etwas zerschrammtes Gesicht, ihre meerblauen Augen und die aschblonden Haare, die offen uber die Schultern ihres mitgenommenen Wollpullovers mit Zopfmuster hangen, formlich in sich auf. Er kann sich nicht von ihr abwenden. Selbst als Penny anfangt zu erzahlen, was sie alles anbauen mochte – unter anderem Zuckerwattepflanzen und Kaugummibusche –, kann Philip nur an eines denken: So wie April sich zu Penny gekniet und ihr konzentriert zugehort, wie sie die Hand auf Pennys Rucken gelegt hat, der liebevolle Gesichtsausdruck, die lockere Art und Weise, wie die beiden miteinander umgehen, das Gefuhl der Zusammengehorigkeit – all das signalisiert etwas Tieferes als lediglich den gemeinsamen Wunsch zu uberleben.

Philip traut sich kaum, das Wort zu formulieren, und trotzdem uberwaltigt es ihn auf dem windgepeitschten Dach: Familie.

»Oh! Entschuldigung!«

Die schroffe Stimme kommt von der Feuertur hinter ihnen auf der anderen Seite des Dachs. Philip dreht sich um und entdeckt Tara in einem ihrer schmuddeligen hawaiianischen Fummel. Finster blickend steht sie da und halt einen Eimer in der Hand. Ihr Gesicht mit den riesigen Wangen und den geschminkten Augen sieht noch dusterer und verdrie?licher als gewohnlich aus. »Ware es zu viel verlangt, wenn sich jemand beizeiten dazu herablassen konnte, mir zu helfen?«

April steht auf und dreht sich um. »Ich habe doch gesagt, dass ich gleich da bin.«

Offensichtlich hat Tara Wasser aus den Toiletten geholt. Philip uberlegt, ob er sich einmischen soll, entscheidet sich aber dagegen.

»Das war vor einer halben Stunde«, knurrt Tara. »In der Zwischenzeit habe ich einen Eimer nach dem anderen durch die Gegend geschleppt, wahrend ihr euch hier oben vergnugt und Sesamstra?e spielt.«

»Tara, bitte … Reg dich ab«, stohnt April. »Warte noch einen Augenblick, und ich bin sofort bei dir.«

»Wunderbar! Wie auch immer!« Eingeschnappt macht Tara eine Kehrtwende und verschwindet genervt im Haus.

April senkt den Blick. »Es tut mir leid, aber sie ist noch nicht so weit. Sie muss noch immer daran denken … Du wei?t schon …«

Aprils Miene lasst keinen Zweifel daran aufkommen, dass es viel zu lange dauern wurde, all die Dinge aufzulisten, die ihrer Schwester gerade auf die Nerven gehen. Philip ist nicht auf den Kopf gefallen. Er wei?, dass es kompliziert ist und Eifersucht und Rivalitat zwischen den beiden ebenfalls mit im Spiel sind. Vielleicht wird das Ganze ja noch verschlimmert, da sich April wahrend ihrer Trauer um ihren Vater nicht ausschlie?lich um Tara kummert.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, meint Philip. »Aber da gibt es etwas, das ich dir sagen mochte.«

»Ja?«

»Ich wollte dich eigentlich nur wissen lassen, dass ich unheimlich dankbar bin, wie du dich um meine Tochter kummerst.«

April lachelt. »Sie ist einfach gro?artig.«

»Ja … Das ist sie … Und du bist auch nicht so schlecht.«

»Oh, vielen Dank!« Sie lehnt sich zu ihm und gibt ihm einen fluchtigen Kuss auf die Wange, der seine Wirkung nicht verfehlt. »Und jetzt muss ich wirklich hinunter, sonst erschie?t mich meine Schwester noch.«

April verlasst die beiden, wahrend Philip wie vom Donner geruhrt zuruckbleibt.

Als Kuss war es nichts Besonderes. Philips verstorbene Frau Sarah war eine ausgezeichnete Kusserin. Verdammt – seit Sarahs Tod hat Philip die Dienste von Prostituierten in Anspruch genommen, die sich mehr ins Zeug legten. Auch diese Frauen haben Gefuhle, und Philip fragte fur gewohnlich immer zu Anfang, ob es ihnen etwas ausmache, wenn er sie ab und zu kussen wurde – wenn auch nur, um so zu tun, als ob Liebe mit im Spiel ware. Aber dieses Kusschen von April war eher wie ein Hors d’?uvre, ein Hinweis darauf, was noch alles geschehen konnte. Philip versteht den Kuss nicht als ein Spiel – genauso wenig, wie er platonisch gemeint war. Nein, dieser Kuss befindet sich in jenem unwiderstehlichen Zwischenstadium zwischen zwei Polen. So wie Philip es sieht, war es ein Anklopfen. Sie hat an die Tur geklopft, um zu sehen, ob jemand zu Hause ist.

Nachmittags wartet Philip vergebens auf den Regen, er will einfach nicht kommen. Es ist bereits Mitte Oktober – Philip hat keine Ahnung, welcher Tag –, und jeder erwartet die ublichen Regengusse, die Zentral-Georgia normalerweise um diese Zeit heimsuchen. Aber irgendetwas halt sie zuruck. Die Temperaturen fallen, und die Luftfeuchtigkeit steigt, aber der Regen bleibt noch immer fern. Vielleicht hat die Durre ja etwas mit der Plage zu tun. Aus welchem Grund auch immer – Tatsache ist, dass der unruhige Himmel mit seinen dunklen Gewitterwolken die merkwurdig unerklarliche Anspannung widerspiegelt, die sich langsam immer starker in Philip aufbaut.

Am spaten Nachmittag fragt er April, ob sie ihn nach unten auf die Stra?e begleiten will.

Sie zu uberreden stellt sich als ein hartes Stuck Arbeit heraus, obwohl die Anzahl der Zombies seit dem letzten Mal, als sie sich hinaustrauten, drastisch zuruckgegangen ist. Er gibt vor, sie fur einen Aufklarungseinsatz zu brauchen, um Baumarkte wie Home Depot oder Lowe’s nach Generatoren zu durchforsten. Es wird immer kalter, insbesondere nachts, und es wird nicht mehr lange dauern, bis Elektrizitat uberlebenswichtig fur sie wird. Schlie?lich uberredet er sie, indem er ihr sagt, dass er jemand Ortskundigen brauche.

Er will ihr zudem die Sicherheitszonen zeigen, die Nick ausgemacht und markiert hat. Nick bietet sich an, ebenfalls mitzukommen, aber Philip lehnt ab. Er versichert ihm, dass er besser hier aufgehoben sei, wo er sich zusammen mit Brian um die anderen kummern konne.

April lasst sich schlie?lich uberreden. Ihr wird aber bei dem Anblick der wackelnden Brucke Marke Eigenbau etwas mulmig. Was ist, wenn es tatsachlich zu regnen anfangt und sie rutschig wird? Philip erklart ihr, dass es ganz einfach sei, insbesondere fur jemand so Leichten, wie sie es sei.

Sie ziehen sich also Mantel und feste Schuhe an und bewaffnen sich. April nimmt eins der Marlins. Schlie?lich sind die beiden bereit, die Sicherheit der Wohnung zu verlassen. Tara ist sauer und emport uber ihre »damliche, gefahrliche, kindische und grenzdebile Zeitverschwendung«. Philip und April ignorieren ihre Schimpftirade hoflich.

»Nicht hinunterschauen!«

Philip ist schon zur Halfte uber die Laufplanke gekrochen. April folgt ihm in einem Abstand von drei Metern und halt sich so fest, wie sie nur kann. Philip wirft einen raschen Blick uber die Schulter und lachelt. Das Madchen hat echt Mumm in den Knochen!

»Kein Problem«, ruft sie zuruck und arbeitet sich mit zusammengebissenen Zahnen und angespannten Muskeln weiter vor. Der Wind weht ihr durch die Haare. Zehn Meter unter ihr starren zwei Untote dumpf durch die Gegend und suchen nach dem Ursprung der Stimmen.

»Gleich haben wir es«, ermutigt Philip sie. Er erreicht die andere Seite.

Sie hat noch sechs Meter vor sich, ehe er ihr hilft, auf den Vorsprung der Feuerleiter zu steigen. Das gusseiserne Gerust achzt unter dem Gewicht.

Dann sind sie bei dem offenen Fenster und klettern in das Gebaude der ehemaligen Steuerberater Stevenson & Sons. Die Korridore sind dunkler und kalter als beim letzten Mal, als Philip hier war. Es ist, als ob der drohende Sturm samtliches Licht verschluckt hatte.

Sie eilen die leeren Flure entlang. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigt Philip April, als sie uber Mull und zerknitterte Steuererklarungen steigen. »Hier sind wir sicher. Zumindest so sicher, wie man es heutzutage uberhaupt noch sein kann.«

»Das ist nicht besonders beruhigend«, gibt sie zuruck, die Waffe gezuckt und den Zeigefinger am Hahn.

Sie tragt ein zerfetztes Fleecehemd und Jeans und hat wie immer Armel und Hosenbeine mit Klebeband zugeschnurt. Sie ist die Einzige, die sich diese Muhe macht. Philip fragte sie einmal, was sie damit eigentlich bezwecke. Sie erklarte ihm, dass sie einmal ein TV-Programm gesehen habe, in dem ein Trapper – immerhin ein gutes Vorbild – dieses Verkleben als gute Vorsichtsma?nahme gegen Verletzungen bezeichnet hatte.

Sie durchqueren die Empfangshalle und gelangen zur Treppe und den Verkaufsautomaten.

»Schau dir das an«, sagt Philip und steigt die Treppe zur unmarkierten Metalltur empor. Er halt inne, ehe er

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