Endlich kommen sie an den Waldrand. Brian rei?t jetzt so heftig an Nicks Jacke, dass dieser beinahe der Lange nach hinfallt. »Was hast du vor?«
Nick dreht sich um und starrt Brian an. »Ich habe gesehen, wie er ein Madchen hierhergezerrt hat.« Nick kann die Tranen kaum zuruckhalten.
»Wer? Philip?«
»Das kann nicht so weitergehen, Brian …«
»Welches Madchen?«
»Eins aus der Stadt. Freiwillig ist sie wohl kaum mitgekommen. Was auch immer er im Schilde fuhrt, es muss ein Ende haben.«
Brian schaut Nick an. Sein Kinn bebt, und seine Augen fullen sich mit Tranen. Brian holt tief Luft. »Okay, jetzt beruhige dich erst mal – nur fur eine Sekunde.«
»Die Dunkelheit hat Besitz von ihm ergriffen, Brian. Lass mich los. Ich muss ihn aufhalten.«
»Du hast gesehen, wie er sich ein Madchen geschnappt hat, aber nicht …«
»Lass mich los, Brian.«
Einen Augenblick lang steht Brian ratlos da und halt noch immer Nicks Jacke fest, ehe er auf einmal eine Gansehaut bekommt und es ihm kalt wird. Er will es nicht akzeptieren. Es muss einen Weg geben, alles wieder in geregelte Bahnen zu bringen, alles wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Nach einer scheinbar unendlich langen Zeit sieht Brian Nick an und sagt: »Zeig es mir.«
Nick fuhrt ihn einen schmalen, uberwachsenen Fu?weg entlang, der sich durch das Waldchen aus Pekannussbaumen schlangelt. Schierlingsbecher und Wolfsmilch uberwuchern den beinahe unsichtbaren Pfad. Es wird nicht mehr lange dauern, ehe die Sonne untergeht und die Temperaturen fallen.
Brombeerranken und Dornenstraucher rei?en an ihren Jacken, als sie auf eine Lichtung zueilen.
Zu ihrer Rechten konnen sie durch einen Vorhang von Laub die sudliche Seite der Baustelle sehen, wo der neue holzerne Abschnitt der Barrikade errichtet wird. Das Bauholz wartet bereits in ordentlichen Stapeln darauf, verbaut zu werden. Ein Bulldozer steht in der zunehmenden Dunkelheit regungslos da, als Nick auf die Lichtung vor ihnen deutet.
»Da ist er«, flustert er, als sie direkt vor der Rodung zum Stehen kommen. Er versteckt sich hinter einem Haufen Baumstamme und gleicht dabei beinahe einem hysterischen Jungen, der Cowboy und Indianer spielt. Brian folgt seinem Beispiel. Er kauert sich ebenfalls hinter die Stamme und spaht uber das Holz hinweg auf die Lichtung.
Keine zwanzig Meter von ihnen entfernt, in einer naturlichen moosbewachsenen Senke, die von einem Baldachin alter Eichen uberdacht ist, steht Philip Blake. Auf dem Boden liegt ein Teppich vermoderter Tannennadeln, Pilze und Unkraut. Knapp daruber scheint eine Schicht Methan in einem unheimlichen Magenta zu leuchten. Die Atmosphare hat beinahe etwas Mystisches an sich. Nick hebt seine Waffe. »Gutiger Herr«, murmelt er leise. »bitte erlose uns von dem Bosen …«
»Nick, hor auf damit«, flustert Brian.
»Ich entsage allen meinen Sunden«, fahrt Nick fort und starrt auf die entsetzliche Szene, die sich vor ihren Augen abspielt. »Denn sie vergramen dich, o Herr …«
»Halt’s Maul, halt endlich dein Maul!« Brian versucht etwas zu erkennen. Er kann kaum sehen, was sich da abspielt. Zuerst glaubt er, dass sich Philip mitten auf der Lichtung hingekniet hat und einem Schwein die Laufe festbindet. Seine Jeansjacke ist vorn schwei?nass und voller Kletten, und er bindet den Strick um die Gelenke einer sich unter ihm windenden Gestalt.
Dann durchfahrt es Brian eiskalt. Jetzt sieht er, dass es sich wirklich um eine junge Frau handelt. Ihre Bluse ist aufgerissen, in ihrem Mund steckt ein Knebel. »Um Gottes willen. Was zum Teufel macht er …«
Nick betet noch immer leise vor sich hin. »Vergib mir, o Herr, fur das, was ich tue. Mit der Hilfe Deiner Gnade werde ich Deinen Willen vollstrecken …«
»Halt endlich die Schnauze!«, schnauft Brian von Panik ergriffen, schier au?er sich vor boser Vorahnung. Philip will das arme Ding entweder vergewaltigen oder toten, um es Penny zum Fra? vorzuwerfen. Sie mussen etwas tun – und zwar schnell. Nick hat recht. Er hat die ganze Zeit uber recht gehabt. Es muss einen Weg geben, dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Es muss eine Losung gefunden werden, ehe …
Plotzlich bewegt sich etwas neben Brian.
Nick sturzt sich uber die Baumstamme und rennt geradeaus auf die Lichtung zu.
»Nick! Warte!«, brullt Brian und schafft es bis zu den Dornenstrauchern, als er die Szene, die sich in der schattigen Lichtung vor ihm abspielt, wie ein Buhnenstuck surrealer Figuren wahrnimmt. Es scheint alles in Zeitlupe vor seinen Augen zu passieren.
Nick stolpert uber die Rodung, das Gewehr auf Philip gerichtet. Dieser, von Nicks plotzlichem Auftauchen und Brians Warnruf uberrascht, rappelt sich hoch. Unbewaffnet blinzelt er nervos von der auf dem Boden liegenden Frau zu der Tasche neben den Fliegenpilzen zu ihrer Linken. Philip hebt die Hande. »Runter mit der Waffe, Nicky.«
Nick aber hebt sie weiter, bis der Lauf auf Philips Gesicht gerichtet ist. »Der Satan steckt in dir, Philip. Du hast gegen Gott gesundigt … Seinen Namen geschandet und entweiht. Jetzt ist es in den Handen Gottes, dich zu richten.«
Brian taumelt auf die Lichtung und fummelt nach der Pistole in seinem Gurtel. Er bekommt vor Adrenalin, das durch seine Adern schie?t, kaum noch Luft. »Nick, nein! NICK, TU ES NICHT!« Brians Gedanken rasen, als er drei Meter hinter Nick zum Stehen kommt.
Mittlerweile hat es die junge Frau auf dem Boden geschafft, sich umzudrehen – sie ist noch immer gefesselt und geknebelt. Ihre Tranen rinnen in den feuchten Boden, als ob sie sich danach sehnen wurde, dass er sich auftun und sie verschlingen und toten wurde, wahrend Nick und Philip keine zwei Meter voneinander entfernt stehen und sich anstarren.
»Was soll das werden? Bist du jetzt der Racheengel oder was?«, fragt Philip seinen langjahrigen Freund.
»Vielleicht, Philip, vielleicht.«
»Das hier geht dich nichts an, Nicky.«
Nick zittert vor Emotionen. Er muss wiederholt blinzeln, damit ihm die Tranen nicht die Wangen herunterlaufen. »Es gibt einen besseren Ort fur dich und deine Tochter, Philly.«
Philip steht wie versteinert da, und sein eingefallenes Gesicht sieht in dem schwacher werdenden Licht geradezu grotesk aus. »Darf ich annehmen, dass du es sein wirst, der Penny und mich erlost?«
»Irgendjemand muss diesem Wahnsinn Einhalt gebieten, Philly. Warum nicht ich?« Nick hebt den Lauf weiter, bis Kimme und Korn auf Philip zielen. »Herr, bitte vergib mir …«
»Nick, warte! Bitte, bitte! Hor mir zu!« Brian umkreist Nick und halt dabei seine Achtunddrei?iger in die Luft. Er kommt wenige Zentimeter vor Nick zum Stehen, der den Lauf noch immer auf Philips Gesicht gerichtet hat. Brian redet weiter. »Die ganzen Jahre, die ihr in Waynesboro wart, die vielen Male, die ihr zusammen gelacht habt, die ganzen Meilen, die wir gemeinsam hinter uns gebracht haben – zahlt das alles nichts mehr? Philip hat uns das Leben gerettet! Die Sache hier ist aus dem Ruder gelaufen, klar. Aber das kriegen wir schon wieder ins Lot. Runter mit der Waffe, Nick. Komm schon, ich flehe dich an.«
Nick beginnt zu zittern, halt die Waffe aber immer noch auf Philip gerichtet. Schwei?tropfen treten auf seine Stirn.
Philip tritt einen Schritt auf ihn zu. »Mach dir nichts draus, Brian. Unser Nick hier ist schon immer etwas geschwatzig gewesen. Der hat es einfach nicht in sich, auf jemanden zu schie?en, der noch am Leben ist.«
Nick zittert jetzt wie Espenlaub.
Brian sieht den beiden Freunden zu und ist vor Unentschlossenheit wie gelahmt.
Philip greift in aller Ruhe nach der Frau, packt sie am Genick, zieht sie vom Boden hoch wie ein Gepackstuck, dreht sich um und zerrt das sich windende Geschopf bis an den Rand der Lichtung.
Nicks Stimme ist jetzt tiefer als zuvor. »Herr, sei uns gnadig.«
Plotzlich ladt er die Waffe durch.
Und druckt ab.
Eine Schrotflinte mit einer 12-mm-Bohrung ist ein kompromissloses Instrument. Die todlichen Schrotkugelchen Kaliber dreiunddrei?ig konnen sich uber eine kurze Distanz uber mehr als drei?ig Zentimeter ausbreiten und treffen ihr Ziel mit genugend Wucht, um einen Porenbetonstein in seine Bestandteile explodieren zu lassen.