Das grobe Schrot, das in Philips Rucken dringt, schie?t erst durch das Fleisch seines Schulterblatts, ehe er die Bander seines Genicks zerrei?t. Das Schrot hat auch den Kopf der Frau erwischt und sie im Handumdrehen getotet. Die beiden wirbeln in einem purpurnen Nebel durch die Luft.
Sie landen Seite an Seite auf der Lichtung, alle viere von sich gestreckt. Die junge Frau ist bereits tot und bewegt sich nicht mehr, wahrend Philip die letzten qualenden Sekunden von den Zuckungen eines heftigen Todeskampfes heimgesucht wird. Auf seinem Gesicht ist die vollige Uberraschung zu sehen, die er empfindet. Er versucht zu atmen, doch sein Gehirn ist bereits dabei, samtliche Korperfunktionen abzuschalten.
Der Schock uber das, was soeben passiert ist, zwingt Nick Parsons in die Knie. Sein Finger ist noch am Abzug, und die Schrotflinte in seiner Hand qualmt von der Hitze der Explosion.
Er kann nichts anderes mehr sehen als das, was er den beiden Menschen vor sich angetan hat. Besturzt lasst er die Schrotflinte zu Boden fallen, und obwohl sich sein Mund unentwegt bewegt, kommt kein Ton heraus. Was hat er getan? Er spurt, wie sich sein Inneres zusammenzieht – wie eine Samenschote, kalt und verlassen. Das Armageddon-Drohnen hallt in seinen Ohren wider, die hei?en Tranen der Scham flie?en jetzt in Stromen uber sein Gesicht. Was hat er getan? Was hat er verbrochen? Welche Schuld hat er nur auf sich geladen?
Brian Blake wird zu Eis. Seine Pupillen weiten sich. Der Anblick seines Bruders, der in einem blutigen Haufen auf dem Waldboden neben dem toten Madchen liegt, brennt sich fur immer in sein Gehirn ein und verdrangt alle anderen Gedanken.
Nur Nicks Wehklagen durchdringt die Benommenheit, die von Brian Besitz genommen hat.
Nicks lautes Heulen wird ab und zu von Schluchzern unterbrochen. Er ist noch immer auf den Knien. Jegliche Vernunft hat Nick Parsons verlassen, und bei dem Anblick des Gemetzels vor seinen Augen jammert und winselt er immer wieder laut auf. Er schwatzt irgendeinen Unsinn, wahrend ihm der Rotz aus der Nase lauft – teils Sto?gebet, teils Flehen. Sein Atem wird in der kalten Luft der Abenddammerung zu Dampf, und er richtet den Blick flehend zum Himmel hinauf.
Ohne nachzudenken hebt Brian seine Waffe und druckt, angetrieben von einem unbandigen Zorn, ab. Ein einziger Schuss aus nachster Nahe in Nick Parsons’ Schlafe.
Ein Strahl roter Flussigkeit schie?t mit der Wucht eines Rammbocks durch die Luft. Die Kugel zerfetzt Nicks Gehirn und tritt an der anderen Seite wieder aus, ehe sie sich in einer Baumwurzel vergrabt. Nick sackt in sich zusammen. Seine Augen rollen nach hinten in ihre Hohlen.
Er landet zusammengerollt wie ein schlafendes Kind auf dem Waldboden.
Die Zeit verliert ihre Bedeutung. Brian bemerkt die dunklen Silhouetten nicht, die sich ihm, angezogen von dem Tumult, durch den finsteren Wald nahern. Auch nimmt er die Gestalten nicht wahr, die sich uber die Rodung auf die verstummelten Leichen zubewegen. Irgendwie, ohne dass er sich es selbst erklaren kann, endet Brian Blake auf dem Boden neben Philip und halt die blutigen Uberreste seines jungeren Bruders in seinem Scho?.
Er starrt auf Philips markantes, blutbespritztes Gesicht, das jetzt so wei? wie Alabaster ist.
Ein Lebensflimmer schimmert noch in seinen Augen, als sich die Blicke der Bruder treffen, und fur einen Moment zuckt Brian angesichts der Trauer, die ihn durchschneidet, zusammen. Die Verbindung der beiden, das Blut, das sie teilen, ist dick und reicht tief bis ins Innerste. Jetzt zerrei?t die Pein Brians Seele. Das Gewicht ihrer gemeinsamen Geschichte – die endlose Langeweile in der Schule, die willkommenen Sommerferien, das spatabendliche Gefluster von einem Bett zum anderen, die ersten gemeinsamen Biere auf dem ungluckseligen Campingausflug in den Appalachen, ihre geteilten Geheimnisse, ihre Kampfe, ihre kleinstadtischen Traume, die das Leben so grausam zerschlug – all das zerschneidet in diesem Augenblick sein Herz.
Er weint – so hell und durchdringend wie ein gefangenes Tier –, und sein Schluchzen steigt in den dunkler werdenden Himmel auf, bis es sich mit dem weit entfernten Heulen der Rennwagenmotoren vereint. Er heult so inbrunstig, dass er nicht merkt, wie Philip aus seiner Welt scheidet.
Als Brian wieder seinen Bruder ansieht, hat sich dessen Gesicht bereits in eine wei?e marmorne Skulptur verwandelt.
In etwa funf Metern Entfernung erzittert das Laub. Mindestens ein Dutzend Bei?er jeglicher Couleur, Gro?e und Form stolpert durch das Unterholz.
Der Erste, ein erwachsener Mann in zerfetzten Arbeitskleidern, dringt durch das Gestrupp, die Arme ins Nichts ausgestreckt. Seine dicht beieinanderliegenden Augen suchen die Lichtung ab, bis sie auf das ihm am nachsten liegende Mahl treffen: Philips abkuhlender Leichnam.
Brian Blake rafft sich auf und wendet sich ab. Er kann nicht zusehen. Er wei?, dass das die beste Art ist – seine Art. Sollen die Zombies das Chaos auf ihre Weise aufraumen.
Er steckt die Waffe wieder in seinen Gurtel und verschwindet in Richtung Baustelle.
Auf der Fahrerkabine eines Trucks findet er einen sicheren Platz, von wo aus er den Futterrausch in Ruhe abwarten kann.
Sein Gehirn ahnelt einem Fernseher, der zig Stationen abspielt. Er zieht die Achtunddrei?iger aus dem Gurtel und halt sich daran fest, als ob es das Einzige in der Welt ware, das ihm jetzt noch Halt und Geborgenheit bringen konnte.
Stimmengewirr und die Fragmente halb geformter Bilder rasen unkontrolliert durch Brians Kopf. Die Abenddammerung hat der Dunkelheit Platz gemacht. Die nachste Lichtquelle – die Stadionscheinwerfer – ist mehrere hundert Meter entfernt. Brian nimmt seine Umwelt in der Bildhelligkeit eines Negativs wahr, seine Sinne sind so scharf wie die Klinge eines japanischen Messers. Er ist jetzt allein … So allein wie noch nie zuvor … Und das macht ihm mehr zu schaffen als all die Zombies um ihn herum.
Die Gerausche des Futterrauschs, feucht, saugend und gurgelnd, sind kaum noch uber dem konstanten Heulen der Motoren der Rennwagen zu horen. In einer hinteren Ecke seines Gehirns wei? Brian, dass der Larm des Rennens den Tumult auf der Lichtung ubertont, was wahrscheinlich von Philip mit eingeplant war, damit seine Entfuhrung nicht bemerkt werden wurde.
Brian kann die Umrisse der dunklen Figuren auf der Rodung nur schwer erkennen. Er sieht, wie sich die Monster an den menschlichen Uberresten laben …
Brian schlie?t die Augen.
Einen Moment lang ist er unentschlossen, ob er beten soll oder nicht. Oder ware eine stille Grabrede fur seinen Bruder besser? Und fur Nick und die verstorbene Unbekannte? Fur Bobby Marsh, fur David Chalmers, fur alle Toten, selbst fur die noch Lebenden und diese ganze gottverdammte, kaputte Welt. Aber er tut es nicht, sondern sitzt einfach nur da, wahrend sich die Zombies an den Uberresten seines Freundes, seines Bruders und der unbekannten Frau satt fressen.
Brian hat keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen ist, als sich die Zombies wieder verziehen und die zerlegten, abgenagten Reste auf der ganzen Lichtung verstreut zurucklassen.
Dann gleitet er vom Dach der Fahrerkabine und schleicht durch die Dunkelheit nach Hause.
Brian sitzt die ganze Nacht uber in der leeren Wohnung im Wohnzimmer – vor dem leeren, schabigen Aquarium. Sein Kopf ist leer, da strahlt kein Sender mehr aus. Die Nationalhymne ist bereits gespielt, das Testbild ist verschwunden, und jetzt flimmert nur noch wei?es Rauschen uber seinen inneren Bildschirm.
Er steckt noch immer in der schmutzigen Jacke und starrt auf das Glas des Aquariums, das von grunem Schleim bedeckt ist und an dem hier und da etwas Fischfutter klebt. Der Anblick erinnert an ein monotones Stillleben, das direkt aus der Holle zu stammen scheint. Brian sitzt da und glotzt in den von Glas umrahmten Raum, in dem einmal Fische schwammen. Aus Minuten werden Stunden. Sein Schadel gleicht einer Braun’schen Rohre. Er bemerkt kaum die aufgehende Sonne, die Morgenrote. Er hort weder den Tumult au?erhalb der Wohnung noch die aufgeregten Stimmen oder die Motorengerausche.
Der Tag nimmt seinen Lauf – Zeit hat fur Brian keinerlei Bedeutung mehr –, bis der Abend hereinbricht und seinen Schleier der Dunkelheit uber die Wohnung legt. Brian bleibt in der Finsternis sitzen und starrt weiterhin auf die bildlose Ubertragung in dem leeren Aquarium. Der nachste Morgen kommt, dann der Mittag.
Irgendwann am folgenden Tag fallt bei Brian ein Groschen. Der Schimmer einer Nachricht huscht uber den leeren Bildschirm seines Gehirns. Zuerst scheint alles weit entfernt und wirr zu sein, wie ein schlecht empfangener Sender, aber mit jeder Sekunde wird es klarer und die Nachricht lauter. AUF NIMMERWIEDERSEHEN.
Wie eine Wasserbombe in der Tiefe seiner Seele implodieren die beiden Worte in einem gluhend hei?en Fieberkrampf und rei?en ihn endlich aus seiner Benommenheit. Er schnellt auf und offnet die Augen.
AUF NIMMERWIEDERSEHEN –
Er ist dehydriert, und seine Knochen sind steif. Sein Magen ist leer, und seine Hose trieft vor Urin. Beinahe sechsunddrei?ig Stunden sa? er einfach nur auf dem Stuhl wie bewusstlos, still wie ein Betonklotz, und es fallt ihm