Bernsteinzimmer doch nie!

Der alte Wachter war es dann, der ihm neuen Mut gab.»Es ist noch da!«sagte er voll fester Uberzeugung.»Es ist nicht vernichtet worden. Irgendwo ist es versteckt, und da es das Zimmer noch gibt, hort nie die Hoffnung auf, die richtige Spur zu ihm zu finden. Man mu? nur immer von ihm sprechen, nicht lockerlassen, die Menschen anregen, die Augen offenzuhalten und genau zu beobachten… ja, meine Lieben, die Menschen, nicht die Behorden. Von den staatlichen Stellen haben wir nichts zu erwarten, da sind wir nur die unbequemen, bohrenden, frechen, kommunistischen Russen, denen man jede h-formation verwehrt, jede Einsicht in Archive, jede Aufzeichnung der Vergangenheit. Allein stehen wir, ganz a-lein… hoffen konnen wir nur auf einen Zufall, auf einen Wink aus der Bevolkerung, der uns den richtigen Weg weist. Und darum durfen wir nie Ruhe geben, mussen immer in die Lande rufen: Was wi?t ihr uber das Bernsteinzimmer? Was habt ihr 1945 oder heute gesehen? Was habt ihr flustern horen? Sagt es uns. Jeder Hinweis ist wichtig.«

Es wurde Weihnachten. Wassilissa Iwanowna und die Wachters feierten in ihrer Wohnung mit einem geschmuckten Baumchen, mit Gansebraten, Rotwein, Platzchen, Stollen und Lebkuchen. Fur die Jablonskaja war es das erste deutsche Weihnachten. Sie war als gute Kommunistin erzogen worden, und in ihrem Elternhaus hatte es kein Weihnachten gegeben: Bei den Komsomolzen lachte man sogar uber den christlichen

Feiertag und sagte, die Geburt Lenins sei wichtiger als die Geburt dieses Jesus. Was hatte er schon geleistet? Nur Unruhe unter die Volker hatte er getragen, nur Glaubenskriege, wahnsinnige Inquisitionen und einen unnachahmbaren Kapitalismus. Lenin aber hatte einen Staat geschaffen, ein neues Ru?land, ein Land der Sowjets, eine vollig neue Gesellschaft, einen Fels des Sozialismus in einer kapitalistisch verseuchten Welt.

Nun sa? die Jablonskaja vor dem Baumchen, an dem die Kerzen flackerten, horte im Radio die deutschen Weihnachtslieder und spurte etwas von der Ergriffenheit, die alle befallt, wenn die Stille und Besinnlichkeit des Heiligen Abends ins Zimmer tritt. Nikolaj hatte einen langen Brief nach Puschkin zu Jana und den Kindern geschickt und fur Peter einen gro?en ferngesteuerten Kran und fur Janina eine sprechende Puppe mit Schlafaugen gekauft. Ob die Geschenke angekommen waren, konnte man nur hoffen. Ein Paket von Frankfurt bis Leningrad geht durch viele Hande -

Am zweiten Weihnachtstag verlie?en Wassilissa, Nikolaj und Michael Wachter ihre Wohnung. Sie wollten sich einmal verwohnen lassen in einem feinen Lokal, wo der Oberkellner noch einen Frack trug und jeden Gast mit einer Verbeugung begru?te. Es war kalt an diesem Abend, das Schneewasser auf den Stra?en war zu Eis gefroren, vorsichtig mu?te man gehen, am besten, man hielt sich gegenseitig fest und tastete sich Schritt fur Schritt langsam vorwarts.

«Wenn ich das Essen nicht schon in der Nase hatte«, sagte Wachter frohlich,»bliebe ich im warmen Sessel hocken! Aber ich rieche schon den Duft! Meine Lieben, fassen wir uns unter… kann Eis uns erschrecken? Denkt an die Winter in Puschkin. Aufgewachsen sind wir mit — «

Weiter kam er nicht mit seinen Worten. Irgendwoher, aus der Dunkelheit vor oder neben ihnen, aus einem Eingang oder einem Fenster oder von einer Stra?enecke aus bellte ein Schu? auf. Durch Zufall rutschte Nikolaj ein wenig aus, aber diese Bewegung rettete ihm das Leben. Die Kugel zischte an seinem Kopf vorbei, schlug an die Hauswand und irrte dann als Querschlager an dem alten Wachter vorbei die Stra?e hinunter.

Es war auch der Alte, der sofort und richtig reagierte. Er lie? sich fallen, und da sie sich untergehakt hatten, fielen die anderen mit ihm auf die Stra?e, streckten sich und lagen flach, als der zweite Schu? in halber Hohe uber sie hinwegzischte. Stehend hatte er einen von ihnen in den Bauch getroffen.

Eine ganze lange Minute blieben sie auf der vereisten Stra?e liegen. Dann hob der alte Wachter der Kopf, sicherte wie ein gejagter Wolf nach allen Seiten, schob sich auf die Knie und legte links und rechts seine Hand auf den Rucken von Nikolaj und Wassilissa.

«Am richtigen Platz sind wir!«sagte er auf russisch.»Vor uns liegt die richtige Spur. Wie nahe sind wir dem Bernsteinzimmer, wenn man versucht, uns zu toten. «Er stand auf, lehnte sich gegen die Hauswand und wartete, bis die Jablonskaja und sein Sohn auch wieder auf den Fu?en waren.»Welch ein wundervolles Weihnachten, meine Lieben! Man schenkt uns das Bernsteinzimmer… nur abholen am richtigen Ort mussen wir es. Auch ihn werden wir finden mit Ausdauer, Mut und Gottes Hilfe..«

Die zwanzig Kisten auf der Lukretia waren zusammen mit den Landmaschinen wohlbehalten angekommen. Der griechische Kapitan hatte zunachst einen kleinen, unwichtigen Hafen angesteuert — Agiaba hie? er, lag im Golf von Kalifornien und war ein Nest, hinter dem ein Sumpfgebiet mit einem See lag, das von Moskitos und Parasiten nur so wimmelte. Joe Williams hatte keinerlei Muhe, den Alkalden des Dorfes mit funftausend Dollar zu bewegen, zwei flache Boote zu der vor der Kuste ankernden Lukretia zu schicken und zwanzig gro?e Kisten abzuholen und an Land zu bringen. Seit drei Wochen hielt sich Joe in Mexiko-City auf, war dann nach Chihuahua geflogen und von dort nach Navojoa gefahren, wo ihn das Funktelegramm der Lukretia erreichte. Mit dem zweiten Boot landete auch der griechische Kapitan in Agiaba und hielt die Hand auf. Ohne Zogern zahlte ihm Williams die restliche Summe aus.

«Sie sind ein Gentleman, Mister«, sagte der Kapitan.»Sie hatten auch sagen konnen: Hau ab! Verdufte dich, ehe ich deinen Gestank wegwedele.«

«Und was hatten Sie dann getan?«

«Die nachste Polizeistation angerufen.«

«Sehen Sie, mein Freund, und deshalb bekommen Sie Ihr Geld. «Joes Stimme wurde plotzlich hart und kalt.»Auch wenn ich Sie nicht bezahlt hatte, wurden Sie mich nicht verraten haben. «Er zeigte auf den sandigen Boden.»Dann lagen Sie dort mit einem Loch im Korper.«

«Ich sagte es ja, Sie sind ein Gentleman. «Der Kapitan steckte die Dollarscheine ein und gru?te mit der Hand an der Mutze.»Leben Sie wohl, Mister. Hoffentlich sehe ich Sie nie wieder.«»Damit konnen Sie rechnen, Kapitan. Gute Fahrt.«

«Werden Sie glucklich mit Ihren Kisten! Was ist denn wirklich drin?«

«Eingefangene Sonnenstrahlen…«

«Aha!«Der Kapitan grinste, tippte sich an die Stirn und lie? sich zuruck zu seiner Lukretia bringen. Ein verruckter Amerikaner mehr, dachte er. Das Geld mu? denen tatsachlich das Gehirn aufweichen.

Er griff an seine Uniformjacke, fuhlte das Bundel Dollarscheine in der Tasche und war voll Freude, da? gerade er solch einem Verruckten begegnet war. Joe Williams hatte eins gelernt, was sonst einem Amerikaner nicht gegeben ist: Er hatte Zeit. Ihn steckte keine Hektik an, er jagte nicht nach Geschaften, er lie? sich auf keinen Wettlauf ein, um die Konkurrenz zu uberholen… er hatte das alles nicht notig. Die zwanzig Kisten lie? er von Agiaba nach Ciudad Juarez, direkt an die Grenze zu New Mexico bringen, gleich gegenuber von El Paso. Hier mietete er einen Lagerraum, stellte die alten Kisten unter, schlo? das Tor ab und fuhr hinuber nach El Paso, um gut zu essen, sich ein Hotel zu nehmen, ein Madchen mit langen, schwarzen Locken zu mieten und somit heimlich seinen Triumph zu feiern. Das Bernsteinzimmer war in Amerika. Niemand wurde es mehr finden. Es gab keine Spuren mehr. Auch ein Captain Silverman mu?te bei Alsfeld stehenbleiben, bei dem Uberfall des deutschen» Werwolfs«, der drei GIs getotet hatte, von denen man dann nur einen, den armen Noah Rawlings, fand. Und au?erdem… das war nun uber elf Jahre her. Wer wei?, was aus Captain Silverman geworden war.

Von El Paso rief er nochmals seinen Vater in Whitesands an.»Daddy…«, sagte er,»… ich wei?, da? ich fur dich tot bin. Gut, ich akzeptiere es. Hat ja auch keinen Sinn, in Whitesands aufzutauchen und das Ehrenmal umzusturzen. Sie sollen ihren Helden haben, und du auch. Aber eine Frage: Wer erbt deinen ganzen Gangsterschatz?«

«Ich habe eine Stiftung fur Krebskranke gegrundet. Da hinein kommt alles. Alles!«

«Sehr edel, Dad. Sie werden dich nie vergessen, vielleicht bekommst du sogar ein Denkmal. Aus Whitesands wird vielleicht Williamsburgh! Du tust wirklich viel fur die Unsterblichkeit. Anders als Al Capone. Der ging in die Geschichte als gro?ter Gangster ein… du wirst es als gro?er Wohltater schaffen. Das ist genial, Dad — sie haben dich nie geschnappt!«»Was willst du?«fragte der alte Williams. Es klang, als wollte er nach einer Ratte treten.

«Fur mein Alter zehn Millionen Dollar auf ein Konto.«

«Arbeite«, sagte der Alte.

«Auf deine Art? Dad, das kann doch nicht dein Ernst sein. «Joe lachte laut.»Was sind zehn Millionen Dollar fur dich? Ich habe mal in einer stillen Stunde ausgerechnet, wieviel du in vierzig Jahren Madchenhandel verdient hast. Allein nur damit… die anderen Geschafte gar nicht mitgerechnet. Dad, dieses Weiberfleisch hat dir nicht nur

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