Dachstein, Hollengebirge… aber in elf Jahren war viel Gras uber das Land und die Erinnerung gewachsen.

«Suchen wir in Thuringen«, sagte Wachter, nachdem er alle Karten, Aussagen, Berichte und Mutma?ungen durchgelesen hatte.»Merkers… da mu? es gewesen sein. Im Bergwerk Kaiseroda II/III. Wenn man nur wu?te, wo dieser Captain Silverman lebt! Er hat's gesehen, sagt er. Er hat den Transport nach Frankfurt zusammengestellt. Und auf diesem Transport sind drei Lastwagen mit zwanzig Kisten angeblich vom deutschen >Werwolf< uberfallen und geraubt worden. Zwanzig Kisten… das konnte genau das Bernsteinzimmer sein! Silverman behauptet das auch… Meine Lieben, wir mussen in Merkers anfangen mit der Suche. Noch einmal! Wozu nach Osterreich fahren? Nach Grasleben? Das alles sind nur falsche Spuren. «Mit dem Zug fuhren sie von Berlin nach Weimar, und hier zeigte sich die Macht des Ausweises von Wassilissa Iwanowna. Sofort bekam sie vom sowjetischen Militarkommandanten e-nen Wagen, keinen mit Armeenummer und braungrau gestrichen, sondern einen unauffalligen Privatwagen, dessen wahre Identitat nur die Tankwarte kennenlernten, denn Benzin bekamen die Wachters und die Jablonskaja kostenlos gegen Vorlage der sowjetischen Bescheinigungen.

In Merkers hatte sich wenig verandert. Das Salzbergwerk arbeitete nur mit halber Kapazitat, Grubendirektor Eberhard Mo-schik war vor zwei Jahren gestorben, und Grubeninspektor Johannes Platow, der 1945 Eisenhower, Patton und Bradley in die riesige Salzhalle gefuhrt und ihnen die Schatze gezeigt hatte, konnte sich an nichts mehr erinnern. Vor ebenfalls zwei Jahren war er abends nach seinem Stammtisch im» Grunen Baum «von einem unbekannten Auto angefahren und durch die Luft geschleudert worden. Er hatte uberlebt, aber der Schadelbruch, den er erlitten hatte, machte ihn zum Invaliden, der sich an nichts mehr erinnern konnte.

Die neue Grubendirektion zeigte sich sehr hilfsbereit. Mit e-nem Obersteiger fuhr man die» Kommission«, wie die Jablonskaja sie vorstellte, 450 Meter tief in den Berg hinunter und zeigte ihnen die Hallen, in denen 1945 die wertvollsten Schatze der Berliner Museen, fast das gesamte Reichsvermogen in Gold — und das Bernsteinzimmer — versteckt gewesen waren. Eine bedruckende Leere dehnte sich vor ihnen aus, geblieben war nur das Gleis der Schmalspurbahn, das die riesige Haupthalle durchzog.

«Hier also war es…«, sagte Wachter leise, genau wie damals Eisenhower, der ergriffen vor den Kunstschatzen gestanden hatte.

«Man nimmt es an. «Der Obersteiger zuckte mit den Schultern.»Ich war damals funfzehn Jahre alt, mein Vater hat mir erzahlt, da? Wehrmacht und SS waggonweise Kisten, Kartons und Sacke in den Schacht gebracht hatten. Aber keiner von uns, das schwore ich, hat gewu?t, was es ist. Die meisten wu?ten uberhaupt nichts. Sie wu?ten nicht mal, da? hier in der Nahe das neue Hauptquartier von Hitler gebaut wurde und da? bei Saalfeld der Gauleiter Koch unterkriechen wollte. Da? unter der Erde viel gebaut wurde, das haben wir gesehen… aber wozu, danach hat keiner gefragt. Wir hatten ja auch keine Antwort bekommen.«

«Konnte es sein, da? in den unterirdischen Bunkern und Gangen des geplanten Hitler-Hauptquartiers auch zwanzig Kisten versteckt worden sind?«

«Warum nicht? Platz war genug da. Eine ganze Bunkerstadt unter der Erde.«

«Ich habe die Plane hier. «Die Jablonskaja klopfte auf ihre lederne Umhangetasche.»Ich wollte sowieso in diese Unterwelt steigen.«

Sie sprach russisch, Nikolaj ubersetzte es, aber der junge Obersteiger schuttelte den Kopf.»Das konnen Sie sich sparen«, sagte er.»Da unten ist alles leer. Wenn was drin gewesen war, dann hat das der Amerikaner mitgenommen. «Er machte eine weite Handbewegung durch die Salzhalle.»Sie haben ja auch hier alles mitgenommen. Zuruckgelassen haben sie aufgerissene Kisten, Koffer, Kartons, Schatullen und Sacke.«

«Es ist und bleibt die einzige wichtige Spur«, sagte Wachter, als sie wieder uber Tage waren und mit dem Grubendirektor und dem Obersteiger in der Kantine zusammensa?en und ein Pilsener Bier tranken.»Von hier gingen die zwanzig Kisten aus Konigsberg mit einem US-Konvoi nach Westen. Und die drei Lastwagen mit den zwanzig Kisten verschwanden spurlos und wurden erst spater leer wiedergefunden.«

«Mit einem toten Fahrer. Einem Neger«, fugte der Grubendirektor hinzu.»Wenn ich mich daran erinnere, mein Gott, war das damals ein Rummel! Ein Fahrer tot, zwei Fahrer vermi?t, die Ladung gestohlen… die Amis mussen eine halbe Armee auf Suche geschickt haben. Es wimmelte nur so von Panzern, Infanterie, Hubschraubern und Geschutzen. «Er sah zu Wachter hinuber, der stumm in sein Bierglas starrte.»Glauben Sie, in den zwanzig Kisten konnte das Bernsteinzimmer gewesen sein?«

«Es war in den Kisten!«Wachter umklammerte sein Bierglas.»Wie kommen wir nur an diesen ehemaligen Captain Silverman heran? Er mu? doch zu finden sein.«

«Nicht in Amerika. «Die Jablonskaja blatterte in ihren Unterlagen.»Wir haben in Moskau alles versucht… ohne Ergebnis. Die US-Botschaft kann uberhaupt nichts feststellen, da alle Anfragen in Washington mit No beantwortet werden. Briefe an den Geheimdienst OSS sind vollig sinnlos, man wei? nicht, ob sie ankommen, man erfahrt keine Reaktion, man setzt uns vielleicht sogar auf die Liste der Personen, die besonders uberwacht werden mussen. Man umgibt diesen Silverman mit einer Mauer des Schweigens.«

«Ein Beweis, da? er mehr wei? als alle anderen. «Nikolaj blickte hinuber zu seinem Vater.»Wir sollten eine Anzeige aufgeben. In der New York Times — das ist Amerikas gro?te Zeitung.«

«Und wenn er in Kalifornien oder Alaska lebt… da liest er vielleicht nicht diese Zeitung. Das mu?te schon ein Zufall sein.«»Der General Zufall hat schon manche Schlacht gewonnen«, sagte die Jablonskaja.»Nikolajs Rat ist gut. Eine Suchanzeige in der New York Times — versuchen sollten wir's.«

«Und welche Adresse geben wir an?«Wachter trank sein Glas Pils leer.

«Puschkin? Da wird nie ein Brief ankommen. Berlin-Ost? Ein ungutes Gefuhl habe ich. Nennen wir eine westdeutsche Adresse.«

«Vielleicht in Frankfurt. «Nikolaj sah, wie sein Vater nachdenklich nickte.»Silverman war in Frankfurt als OSS-Offizier. Liest er die Anzeige mit der Frankfurter Adresse, kann er ahnen, wer ihn sucht.«

Bevor sie aber diese Anzeige an die New York Times schickten, fuhren sie nach Wassilissas Planen alle Orte ab, wo man das Bernsteinzimmer, genauer, wo man gro?e Kisten gesehen hatte, transportiert von Wehrmacht, SS und sogar der Luftwaffe.

Sie besuchten funfunddrei?ig Schlosser und Burgen, unterirdische Stollen und Kloster, Bergwerke und Hohlen, krochen durch Kellergewolbe und Felsengange, sprachen mit Burgermeistern, Verwaltern, Abten, Pfarrern und Schlo?angestellten… uberall wollte man die gro?en Kisten gesehen haben, die dann Mitte April wieder weggebracht worden waren. Von deutschen Fahrzeugen mit unbekanntem Ziel.

«Die Daten stimmen«, sagte die Jablonskaja, wahrend sie erneut vor ihrem Aktenstapel sa?. Sie hatten in Frankfurt eine Wohnung gemietet und hatten von hier aus auch Grasleben und die Fundorte im Raum Gottingen besucht. Im Gegensatz zu Thuringen und Sachsen zeigten sich die westdeutschen Behorden au?erst abweisend, ja sogar aggressiv, vor allem, wenn Wassilissa Iwanowna ihre sowjetischen Vollmachten vorlegte.

«Das haben wir gern«, wurde ihr von einer Stadtratssitzung erzahlt.»Kommen die Russen und wollen schnuffeln! Nach gestohlenen Kunstwerken! Eine Frechheit! Und was haben die geklaut! Halb Ostpreu?en! Konigsberg hei?t jetzt Kaliningrad! Man sollte ihnen sagen, da? sie uns kreuzweise… Ritze rauf und Ritze runter!«

Uber ein halbes Jahr war jetzt vergangen. Hunderte von Spuren gab es, aber keine war die richtige.»Wenn man das alles zusammennimmt, die Daten und die Beobachtungen«, sagte die Jablonskaja,»dann war das Bernsteinzimmer zu gleicher Zeit an vierzehn verschiedenen Orten. Wo aber war's wirklich?«

«Das kann nur Silverman wissen. «Michael Wachter schob die vor ihm liegenden Listen von sich.»Die Anzeige in der New York Times ist wirklich die einzige Moglichkeit, ihn zu finden. «Kurz vor Weihnachten erschien in Amerikas meistgelesener Tageszeitung die Anzeige:

Wir bitten Mr. Fred Silverman, ehemaliger Captain der US-Army in Deutschland, 1945 im Raume Merkers stationiert, um ein Lebenszeichen. Es ware schon, uns wiederzusehen. Fred, melden Sie sich und schreiben Sie an folgende Adresse…

Sie gaben keinen Namen an, nur die Stra?e, die Hausnummer und das Stockwerk. Eine teure Anzeige war's, aber die Rechnung bezahlte die sowjetische Botschaft in Rolandseck am Rhein, gegenuber dem Drachenfels und Bad Honnef.

«Jetzt konnen wir nur warten«, sagte Nikolaj. Weihnachten war nicht weit. Schweren Herzens dachte e daran, da? er dieses Jahr nicht mit den Kindern unter einem nach deutscher Art geschmuckten Weihnachtsbaum sitzen und deutsche Weihnachtslieder singen wurde und auch das sowjetische Fest von Vaterchen Frost versaumte. Traurig dachte er an Jana Petrowna, die er in diesem halben Jahr nur zweimal telefonisch hatte sprechen konnen und deren Briefe, die sie nach Frankfurt schickte, so frohlich klangen und doch voller versteckter Sehnsucht waren. Immer wieder fragte er sich deshalb in Sorge: Wozu das alles? Wir finden das

Вы читаете Das Bernsteinzimmer
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×