verwirrter Major, der nicht verstehen konnte, warum man eine Spionin nicht sofort e-scho?, sondern ihr sogar ein Fahrrad gab, damit sie fliehen konnte. Aber frage einer mal einen General nach dem Sinn seiner Befehle… Genossen, wer wagt das schon?

Au?erdem waren alle viel zu sehr damit beschaftigt, das Hauptquartier der Division in dem kleinen, vertraumten Jagdschlo?chen zu raumen. Die deutsche Artillerie scho? in die zuruckgehenden Rotarmisten hinein, Panzervorsto?e schlugen gro?e Lucken in die Verteidigungsstellungen, selbst Gegenangriffe der gefurchteten sowjetischen Panzer T 34 brachen im Feuer der neuen deutschen Panzerabwehrgeschutze, kurz PAK genannt, zusammen. Die Stukas und schweren Heinkel-Bomber luden ihre todliche Fracht uber den Dorfern und kleinen Stadten ab, uberall loderten Brande, und der Himmel war dunkel vom Rauch der Zerstorung. General Sinowjew hatte von seinem Kunstrettungstrupp nichts mehr gehort. Die Verbindung zu Unterleutnant Wechajew war abgerissen. Er wartete auch gar nicht mehr auf eine Nachricht, die Meldungen von der Front sagten ihm, da? die kleine Kolonne direkt in die Arme der vorpreschenden deutschen Panzer gefahren sein mu?te. Die auf der Karte abgesteckten feindlichen Positionen zeigten ihm, da? Wechajew keine Chance mehr gehabt hatte, den Deutschen auszuweichen oder zu fliehen. Aus Leningrad war au?erdem der Befehl gekommen, sich auf den au?eren Verteidigungsgurtel zuruckzuziehen. Dort gruben noch immer Tausende von Frauen, Pionieren und alten Mannern die Schutzengraben, gossen mit Beton neue Panzersperren, verstarkten die Bunker, stutzten die Unterstande ab, und sogar halbwuchsige Kinder schleppten Sacke und Steine, Balken und Bretter, um einen Wall gegen die Aggressoren zu bauen.

Stalins» Kronprinz «Andrej A. Schdanow, Mitglied des Politburos, war nach Leningrad gekommen und hatte als neuer Leiter der Leningrader Parteiorganisation das Oberkommando der Verteidigung ubernommen. In einem Aufruf verkundete er:»Entweder wird die Arbeiterklasse Leningrads versklavt und ihre schonste Blute vernichtet werden, oder wir graben dem Faschismus vor Leningrad das Grab.«

Die gesamte Bevolkerung sollte deshalb bewaffnet werden. Sie sollten im Handgranatenwerfen und Stra?enkampf ausgebildet werden, Stra?e um Stra?e, Haus um Haus sollten sich in eine Festung verwandeln, an der sich der Feind verbluten wurde. Wenn die Deutschen Leningrad schon eroberten, dann nur unter Stromen von Blut. Auch Marschall Schukow erlie? am 17. September an alle Kommandeure der zur Verteidigung von Leningrad eingesetzten sowjetischen Armeen den Befehl, keinen Meter mehr den Faschisten zu uberlassen.»Jegliche Absetzbewegung betrachte ich ab sofort als Verbrechen gegen das sowjetische Vaterland«, lie? er verkunden.»Diese Ehrlosen werden zum Tode verurteilt.«

Uberall, vor allem im Suden der Stadt, wo von den Deutschen die gro?te Gefahr drohte, nachdem sie Puschkin erobert hatten, entstanden Stacheldrahthindernisse und kleine Betonbunker, die man» Woroschilow- Hotels «nannte. Deutsche Flugzeuge warfen uber der Stadt gefalschte Lebensmittelkar-ten und Rubelscheine ab und Flugblatter, auf denen stand, da? man alle schonen wurde, die ihre Kommandanten toteten und sich ergaben. Polizeistreifen durchkammten die Stra?en, wer mit solch einem Flugblatt gefa?t wurde, konnte auf der Stelle erschossen werden.

1,5 Millionen Menschen waren bereit, Ru?lands schonste Stadt mit ihren Leibern vor den Deutschen zuzumauern.

Jana Petrowna horte am fruhen Morgen des 17. September das Rasseln der Panzerketten. Die Angriffsspitzen der PanzerGruppe 4 unter Generaloberst Hoepner hatten sie erreicht. Der Ring um Leningrad war geschlossen.

Noch zwei Tage blieb Jana Petrowna in ihrem Erdhohlenversteck. Dann wagte sie sich ins Freie, wusch sich grundlich in einem kleinen Bach und burstete den Dreck, so gut es ging, aus ihrer Schwesterntracht. Sie lie? den Militarmantel zusammengeknullt in der Hohle zuruck, zog das Fahrrad aus dem Gebusch und schob es auf die Stra?e. Das war der gefahrlichste Teil ihres Planes, aber sie hatte Gluck. Auf der Stra?e war kein einziges deutsches Fahrzeug, kein einziger deutscher Soldat zu sehen. So friedlich, wie ein schoner Herbsttag sein kann, stand der Wald unter einer noch warmenden Sonne.

Sie schwang sich auf den Sattel, setzte ihre Schwesternhaube auf, hangte eine gro?e Tasche aus braunem Wachstuch an die Lenkstange und fuhr den gleichen Weg, den auch Wechajew gefahren war.

Zuruck nach Puschkin. Zuruck zum Katharinen-Palast. Und wahrend sie kraftig in die Pedale trat, schwirrten viele Gedanken durch ihr Gehirn.

Lebte Vaterchen Michail noch? War das Schlo? zerstort worden? Hatte man die Schatze geplundert? Wer wohnte jetzt in den Prunkraumen? Wurde man ihr die Geschichte, die sie erzahlte, glauben und sie im nachsten Lazarett arbeiten lassen? Was war aus Nikolaj, ihrem Liebsten, geworden? Mit dem letzten Lastwagen voller wertvoller Vasen, Schmuckstucke, Mobel und Teppiche, mit Gemalden aus zwei Jahrhunderten und personlichen Andenken der Zarinnen und Zaren hatte er Zarskoje Selo verlassen und sollte sie in Leningrad in S-cherheit bringen. Hatte er es geschafft? Hatte er Leningrad erreicht, oder war er von deutschen Bomben und Granaten zerfetzt worden? Ob es Vaterchen Michail wu?te… wenn er noch lebte? Gab es noch das Bernsteinzimmer…?

Nach zwei Stunden einsamer Strampelei kamen ihr die ersten deutschen Truppen entgegen. Ein Infanterie- Bataillon, wie auf dem Marsch zu einem Manover. Die Kompaniechefs ritten zu Pferde voraus. Der Kommandeur, ein Major, sa? zusammen mit seinem Adjutanten und einem Stabsarzt in einem Kubelwagen, erst dann folgten die Autokolonnen mit dem Tro?, der Schreibstube, der Feldkuche und dem Material. Kein Spahtrupp war ihnen vorausgefahren, so sicher fuhlten sie sich.

Ein merkwurdiges, das Herz zusammenschnurendes Gefuhl war's, zum ersten Mal deutsche Soldaten zu sehen. Nur fur einen Moment zuckte Angst durch Jana Petrownas Korper beim Anblick der langen, grauen Kolonne, doch dann beugte sie sich uber das Lenkrad und strampelte unbeirrt weiter. In ihren Adern klopfte das Blut. Wurde man sie anhalten? Wurde man fragen, woher sie kam?

Ganz rechts fuhr sie auf der Stra?e, der Kubelwagen des Majors verlangsamte sein Tempo, der Fahrer grinste breit und warf ihr mit gespitzten Lippen ein Ku?chen zu. Verwundert lehnte sich der Stabsarzt aus dem offenen Wagen. Der Major tippte ihm auf den Armel.

«Doktor, nicht wild werden!«Er lachte kurz und musterte die auf sie zuradelnde Jana.»Lassen Sie das Karbolmauschen in Ruhe. Wir haben keine Zeit.«

Der Stabsarzt lehnte sich wieder in den Sitz zuruck und schuttelte den Kopf.

«Wo kommt sie her, Herr Major?«fragte er verblufft.»Ja, verdammt, von wo kommt sie? Vor uns ist kein Lazarett, nur ein vorgeschobener Truppenverbandsplatz!«

«Das wird es sein.«

«Auf gar keinen Fall! Unmittelbar hinter der kampfenden Truppe arbeiten nur Sanitater und Arzte. Rote- Kreuz-Schwestern tauchen erst in der Krankensammelstelle auf, und die ist hinter uns. Und sie sitzt auf einem Fahrrad, als fahre sie frohlich zum nachsten Krankenhaus.«

«Doktor, Sie suchen nur nach einem Grund, mit ihr anzubandeln. Nein, ich lasse nicht halten. «Der Major lachte wieder und winkte Jana zu, als sie an ihr vorbeifuhren.»Verdammt! Wirklich ein hubsches Mauschen…«

Jana Petrowna winkte zuruck, lachte zu ihnen hinuber und trat, so kraftig sie konnte, in die Pedale. Als sie an den Soldaten vorbeikam, empfingen sie schrilles Pfeifen und laute Zurufe.»Schwester, ich habe einen Tripper — «horte sie aus dem Gejohle heraus.»Schwesterchen, wo hast du die Sanierungsspritze? Mich juckt's, mich juckt's… komm her und sieh mal nach…«Und als sie an der Feldkuche vorbeikam, wedelte der Koch, der auf der Protzenbank hockte, mit einem langen holzernen Kochloffel und brullte:»Tausche 'nen Schlag Suppe gegen einmal Hopp-hopp…«

«Haben Sie das gesehen, Herr Major — «sagte der Stabsarzt erregt.»Ihr Kleid ist voller Flecken! So lauft doch eine deutsche Schwester nicht herum! Da stimmt doch was nicht! Wir sollten sie uns naher ansehen…«

«Das konnte Ihnen so passen, Doktor. Leibesvisitation und so. Was ist denn da unterm Rockchen…«Der Major lachte wieder.»Nichts zu machen, mein Lieber — wir alle befinden uns im sexuellen Notstand. Ihr Arzte habt ja immer mehr Moglichkeiten als wir armen Schweine an der Front.«

Endlich hatte Jana Petrowna das deutsche Bataillon passiert und war wieder allein auf der Stra?e nach Puschkin. Aus der Ferne horte sie Gesang, die Landser sangen, um die Mudigkeit zu uberwinden. Die Stahlhelme an das Koppel geschnallt, die Uniformkragen aufgeknopft, verschwitzt und mit Staub uberzogen, marschierten sie als Ersatz zum nun geschlossenen Belagerungsring von Leningrad.

Mit noch einem leichten Zittern in den Gliedern stieg Jana ab und dehnte sich, druckte den Rucken durch und holte tief Atem. Beschwerlich war es, auf der unbefestigten Stra?e zu fahren. Die Stra?endecke war von tiefen Furchen durchzogen, die funf Tage Regen hinterlassen hatten.

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