In der Nacht schlief sie in einem zur Halfte ausgebrannten Bauernhaus. Zwischen den verkohlten Balken, eng an die Mauer des ehemaligen Wohnzimmers gedruckt, im Schutze des zersprungenen Ofens aus Lehm und Feldsteinen, lag sie auf zusammengerafftem Stroh, atmete den scharfen Brandgeruch ein und einen su?lichen Geruch, den sie nicht kannte. Erst am Morgen entdeckte sie, da? neben ihr, nur durch die zerborstene Mauer getrennt, drei Tote lagen, zwei Frauen und ein alter Mann, schwarz im Gesicht von dem Feuer, dem sie nicht entkommen waren. Der Verwesungsgeruch drehte ihr den Magen um, sie stutzte sich an die ru?ige Mauer und erbrach sich, hetzte dann zu ihrem Rad und fuhr zuruck auf die aufgerissene Stra?e.

Erst spater war sie fahig, etwas zu essen und zu trinken. Sie sa? neben der Stra?e unter einem Baum, die braune Wachstuchtasche im Scho?, und knabberte Sonnenblumenkerne, zerteilte eine dicke Zwiebel und kaute zwei Scheiben ausgetrocknetes Brot und ein Stuckchen Dauerwurst. Es schmeckte schon etwas ranzig, aber sie a? die Wurst mit gro?em Hunger und trank aus einer Bierflasche das Wasser, das sie nach dem Waschen aus dem Bach im Wald geschopft hatte. Sie schuttete den Rest in die Hand, wusch sich damit das Gesicht, nahm einen Kamm aus der Tasche, ordnete ihr Haar und betrachtete sich in einem kleinen, von braunem Kunstleder umrahmten Spiegel.

Zufrieden war sie mit sich. Das Gesicht mit der Schwesternhaube, die hohen Backenknochen, die klaren Augen, die vollen Lippen… schon war sie, das konnte sie selbst von sich sagen.

Am Abend des zweiten Tages ihrer Radreise erreichte sie endlich Puschkin, die Schlosser von Zarskoje Selo.

Die Deutschen, denen sie jetzt uberall in Massen begegnete, beachteten sie kaum bis auf die typischen Bemerkungen, Zurufe oder Zeichen, wenn Manner ein so hubsches Madchen in der Tracht einer Rote-Kreuz- Schwester sahen. Ihre Gegenwart nahm niemand mit Erstaunen oder Mi?trauen wahr. Gerade vor einem Tag war ein Feldlazarett nach Puschkin verlegt worden und hatte sich hier in einer der Schulen eingerichtet. Neun Arzte und vierzehn Sanitater versorgten die Verwundeten und Kranken, die mit Sanitatskraftwagen, kurz Sanka genannt, von der Front herangeschafft wurden. In den Hauptverbandsplatzen nur notdurftig versorgt, lagen sie jetzt hier mit durchgebluteten Verbanden, um den Hals den» Sanitatslaufzettel «gehangt, auf dem gedruckt war:

Begleitzettel fur Verwundete und andere chirurgisch zu Behandelnde.

Nichttransportfahig: zwei rote Streifen.

Transportfahig: ein roter Streifen.

Marschfahig: kein roter Streifen.

Darunter standen Name, Dienstgrad, Truppenteil und Art der Verletzung.

Fur viele war das ein Dokument des Sterbens, ein Transportschein in die Ewigkeit.

Und auf allen Zetteln stand gro?, unubersehbar, mit einem Stempel aufgedruckt: Entlaust.

Mit dem Feldlazarett waren auch drei Schwestern nach Puschkin gekommen. Warum sollte eine von ihnen nicht mit einem Fahrrad zum Katharinen-Palast fahren? Bei den vielen Kommandanturen und Staben, die das Schlo? besetzt hatten, war immer etwas zu tun. Das war mehr Gluck, als sich Jana Petrowna erhofft hatte. Unbehindert fuhr sie uber die altvertrauten Wege, durchquerte den Park und die zauberhaften Garten und stellte dann das Rad an die Hausmauer. Aus einem offenstehenden Fenster horte sie das Klappern von Schreibmaschinen, ein Gewirr von Stimmen und roch den Qualm vieler Zigaretten.

Ohne Hast, vollig unauffallig, ging sie zu Fu? weiter, betrat durch den Nebeneingang des Schlosses den Flugel, in dem fruher die Angestellten wohnten und auch Michael Wachter seine Zimmer hatte. Offiziere, die ihr begegneten, grinsten sie an, einige musterten sie mit unverschamten Blicken, ein Hauptmann hielt sie auf und fa?te sie am Arm.

«Wohin, meine Su?e?«fragte er.»Sicherlich suchen Sie mich.«

«Bestimmt nicht. Ich suche den General.«

Sie sagte einfach General, das genugte. Ein General war sicherlich im Palast, sein Name war unwichtig. Niemand wurde es wagen, sie dann noch festzuhalten. Auch der forsche Hauptmann lie? sofort Janas Arm los und hob die Schultern.»Zum General… dagegen komme ich naturlich nicht an«, sagte er anzuglich.»Zimmer 17, aber nicht hier. Dort, im Hauptgebaude. Wunsche ein gutes Hupferchen.«

Vor der Tur zu Wachters Wohnung, an der jetzt das Pappschild Verwaltung genagelt war, blieb sie stehen und klopfte. Vaterchen Michail antwortete nicht, noch dreimal klopfte sie, dann druckte sie die Klinke. Die Tur war nicht Verschlossen, mit einem leisen Quietschen schwang sie auf. Nach links und rechts sah sich Jana Petrowna um, allein war sie auf dem Flur, und sie schlupfte schnell in die Wohnung.

Das erste, was sie wahrnahm, war der strenge Geruch von Karbol. Sie blieb in der kleinen Diele stehen, pre?te die flache Hand gegen ihre Brust, ein unbeschreibliches Gefuhl der Angst durchflutete und lahmte sie, und dann schrie sie mit hellerer Stimme als sonst:

«Vaterchen, wo bist du? Vaterchen… bist du hier? Vaterchen…«

Sie merkte nicht, da? sie es auf russisch schrie, und es war wiederum ihr Gluck, da? niemand in der Wohnung war und sie horte.

Verwirrt, mit einem dumpfen Schmerz unter der Hirnschale, stellte Michael Wachter fest, da? er noch lebte. Er roch den beizenden Karbolgestank, spurte den Druck in seinem Kopf, horte vor seinem Fenster Stimmen und Motorenlarm und behielt die Augen geschlossen, voll Verwunderung, da? er in einem Bett lag, und es mu?te das Bett in seinem Schlafzimmer sein, denn alle Gerausche kamen von links. Links, wo das Fenster hinaus auf einen breiten Gartenweg ging.

Trage — ihm kam es vor, als konne er sich nicht bewegen — kehrte die Erinnerung zuruck: das Bernsteinzimmer, der Soldat, der mit seinem Seitengewehr die Verkleidung abhebelte und es dann in das Mosaik stie?, wie ein Morder, dessen Messer in eine Brust dringt. Auf ihn hatte er sich gesturzt, hatte ihm das Messer aus der Hand geschlagen… ja, so war's gewesen. Das Gesicht des Soldaten sah er noch, fassungslos, von einem hilflosen Grinsen verzogen, dann hatte ein Drohnen in seinem Kopf begonnen, das alles in ihm ausloschte.

Das Bernsteinzimmer!

Er ri? die Augen auf und zuckte zusammen, als ein heller Aufschrei in seine Ohren drang.»Vaterchen!«rief eine Frauenstimme.»Vaterchen! Du bist wieder da… du lebst… du wirst nicht sterben!«Und dann weinte jemand, und alle weiteren Worte gingen im Schluchzen unter. Ein Kopf erschien vor seinen Augen, ein tranenuberstromtes Gesicht, von schwarzen Haaren umrahmt, und dieser Kopf trug ein Haubchen, wie es Krankenschwestern tragen, beugte sich nun uber ihn und ku?te seine Stirn, die Augen und die Lippen.»Vaterchen, lieg ganz still, bewege dich nicht, hast du Schmerzen, willst du etwas trinken…«

«Sprich deutsch«, sagte er mit noch schwerer Zunge.»Ja-naschka, du bist eine deutsche Krankenschwester. Vergi? das nie! Nie! In Ostpreu?en bist du geboren… in Ostpreu?en… bei den Masurischen Seen.«

«Ja, Vaterchen«, antwortete sie und weinte weiter.

«Jana!«

«Ich wei?. «Jetzt sprach sie deutsch mit einem harten Akzent.»Sie mussen ganz ruhig liegen bleiben, Herr Wachter.«

«Ich mu? zum Bernsteinzimmer, Schwester. «Er versuchte, sich aufzurichten, aber ihm war, als gluhte sein Kopf, als loderten Flammen aus ihm. Er fiel auf das Kissen zuruck und schlo? wieder die Augen.»Mein Bernsteinzimmer…«

Sie zog die Decke wieder hoch bis unter sein Kinn und hielt ihn fest, damit er still lag.

«Sie leben… das ist jetzt das Wichtigste.«

Obwohl sie allein in der Wohnung waren, niemand sie sah und horte, spielten sie weiter, was sie verabredet hatten: Sie war eine unbekannte deutsche Krankenschwester und er ein ihr fremder Angestellter der Schlo?verwaltung von Zarskoje Selo. Sie hatten sich vorher nie gesehen… nur ein einziges Du, ein einziges russisches Wort konnte ihr Verderben sein und ihren Plan zunichte machen.

Die Unruhe in Wachter wuchs. Er hielt Janas Hand fest, als sie sein Kopfkissen zurechtrucken wollte, und sie wunderte sich uber die Kraft, die in diesem Griff lag.»Ich mu? es sehen«, sagte er.»Verstehst du das nicht? Ich mu? wissen, was sie mit dem Zimmer gemacht haben, nachdem sie mich niedergeschlagen haben. 225 Jahre lang hat keiner die Wande beruhrt, weil die Wachters aufpa?ten, weil immer jemand von uns da war… und jetzt brechen sie die Mosaiken heraus… fur Erna zur >Erinnerung< an Puschkin. Jana, la? mich aufstehen. Bitte…«

«Du bleibst liegen, Vaterchen.«

«Jana.«

«Sie bleiben liegen, Herr Wachter«, verbesserte sie sich sofort. »Ich werde

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