«Das Zimmer kommt nach Linz?«fragte Wachter. Seine Stimme hatte jeden Klang verloren.

«Nach dem Endsieg. Es wird also nicht mehr lange dauern — «»Und wo liegt Linz?«

Dr. Wollters sah Wachter an, als habe ein Affe einen Grunzlaut von sich gegeben. Ja, war das denn die Moglichkeit? Der Kerl kannte Linz nicht? Gab's denn so was? Eine Art Analphabet bewachte einen der gro?ten Kunstschatze der Welt?! So etwas war auch nur bei den Bolschewiken moglich.

«Linz liegt an der Donau«, sagte Dr. Wollters widerwillig.»Im fruheren Osterreich. Jetzt gehort es zum Gro?deutschen

Reich. Haben Sie nicht mitgekriegt, da? der Fuhrer seine Heimat eingegliedert hat? Haben Sie 1938 verschlafen? Linz wird einmal die Kunstmetropole dieser Welt sein. Der Fuhrer plant Gigantisches. Aber warum erzahle ich Ihnen das… Sie begreifen es ja doch nicht.«

«Nein, ich begreife es nicht. «Wachter faltete die Hande im Scho?. Wie ein Stein legte sich die Sorge auf sein Herz.»Ich begreife vieles nicht.«

«Es scheint so. «Dr. Wollters drehte sich zu dem jungen Ordonnanzoffizier um, der an der offenen Tur wartete. In seinem Blick war zu lesen, da? er diesen Kunstexperten widerlich fand. Das Bernsteinzimmer interessierte Leutnant Viebig uberhaupt nicht — es war die Art und Weise, wie Wollters sprach, die ihn abstie?. Eine durch und durch arrogante Sau, dachte er. Denkt, er sei etwas Besonderes, weil er vom AA kommt. Nicht zu hoch die Nase, Herr Rittmeister, es konnte hineinregnen.

«Gehen wir!«sagte Wollters zackig.»Die anderen Sale und die Keller. Meine Leute mussen eine Bestandsaufnahme machen. Erstaunlich, was die Russen hier zuruckgelassen haben. «Er lachte abgehackt.»Wir waren ihnen zu schnell. Gott sei Dank, mu? man da sagen — «

Wachter wartete noch zehn Minuten, als Dr. Wollters gegangen war. Nachdem er sich vergewissert hatte, da? der Kunstexperte nicht mehr in der Nahe war, verlie? er schnell das Bernsteinzimmer. Er rannte hinuber zum Gesindeflugel, warf in seiner Wohnung die Tur hinter sich zu und verriegelte sie. Schwer atmend lehnte er sich gegen den Rahmen.

Jana Petrowna sah ihn betroffen an. Wachters verzerrtes Gesicht verhie? nichts Gutes. Sie war gerade damit beschaftigt, den Bezug eines Gobelinsessels mit einer milden Seifenlauge von Flecken zu reinigen. Etwas anderes als Seife gab es nicht.»Hor auf damit!«schrie Wachter und lie? sich auf sein Sofa fallen.»Hor auf! Zerschneid lieber alles, zerrei? es…«

«Was… was ist denn passiert, Vaterchen?«fragte sie arschrocken.

Wachter atmete ein paarmal tief durch, wurde ruhiger und wischte sich mit beiden Handen uber die Augen.»Es ist soweit. Sie werden es ausbauen«, sagte er dann dumpf.»Wollen es nach Linz bringen. In ein Museum. Linz an der Donau, Tochterchen. Weit weg von hier. Hitler will das Bernsteinzimmer unbedingt haben. Ich wei? es jetzt sozusagen amtlich. O Gott, la? das nicht zu, tu ein Wunder…«

«Wann wollen sie das Zimmer ausbauen?«

«Ich wei? es nicht, Janaschka. Bald, hat er gesagt, bald. Und keiner kann das verhindern.«

«Du wirst mit dem Bernsteinzimmer mitgehen, Vaterchen.«»Wegjagen werden sie mich! Sie kriegen es sogar fertig, mich zu erschie?en. Du hast nicht seine Augen gesehen… diese kalten Augen, dieses steinerne Gesicht.«

«Sie werden dich nicht toten, Vaterchen. Nur zurucklassen werden sie dich.«

«Genugt das nicht?«Wachter starrte Jana Petrowna wie ein Sterbender an.»Auch das ist Tod — «

«Ich werde dann an deiner Stelle bei dem Zimmer bleiben, wie wir es ausgemacht haben«, sagte sie und versuchte, ihn durch ein Lacheln zu besanftigen.»Verla? dich auf mich, Vaterchen. Nicht aus den Augen werde ich es lassen.«

«Auch dich werden sie wegjagen, Jana.«

«Nein. Eine Schwesterntracht trage ich, ein Rotes Kreuz… unangreifbar bin ich fur einen Deutschen. Im ersten Transportwagen werde ich sitzen und mitfahren, wohin auch immer das Bernsteinzimmer kommt. Und keiner wird lange fragen, warum ich mitfahre.«

Wachter schuttelte den Kopf. Ein Wahnsinn war das, dachte er. Auch wenn sie recht haben sollte, da? die Schwesterntracht sie schutzt… es blieb ein Wahnsinn. Er sah Jana Petrowna aus traurigen Augen an und erschrak uber ihre Entschlossenheit.

«Viel zu gefahrlich, Jana.«

«Ich habe keine Angst.«

Zwei Tage spater — Dr. Wollters und sein Sonderkommando AA waren wieder abgezogen mit dem Versprechen, bald wieder zuruckzukommen — fuhren die Experten des» Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg«, militarisch abgekurzt ERR, vor dem Katharinen-Palast vor. Ihr Leiter, ein Kunstexperte und Kunsthistoriker im Range eines Majors, meldete sich bei General von Kortte. Der diensthabende Wachoffizier benachrichtigte uber Telefon den General, wahrend ein Feldwebel die Herren zum Chinesischen Zimmer fuhrte.

Von Kortte tat es wohl, gleich bei ihrem Eintritt zu sagen:»Meine Herren, den Weg hatten Sie sich sparen konnen. Das Auswartige Amt war schneller. Sie kommen zwei Tage zu spat. Alle Kunstschatze sind bereits katalogisiert. Mochten Sie einen Kognak zur Beruhigung?«

Der Major, er stellte sich als Heinrich Muller-Gie?en vor, verbarg nicht seine Enttauschung. Er machte vor von Kortte eine knappe Verbeugung.»Verbindlichsten Dank, Herr General«, sagte er.»Uns war unbekannt, da? die Kameraden vom AA schon hier waren.«

«Aha! Es schwirren also noch mehr Trupps herum, um Kunstwerke sicherzustellen? Man sollte eine Koordination versuchen und nicht Hase und Igel spielen.«

Major Muller-Gie?en uberhorte den Spott, nahm sich aber vor, solche Bemerkungen in seinem nachsten Bericht an Rosenberg zu erwahnen. Schlie?lich war Rosenberg der neue Reichsminister fur die besetzten Ostgebiete und sein» Sonderstab Bildende Kunst «als erster damit beauftragt worden, das gigantische Kunstprojekt Linz des Fuhrers mit au?ergewohnlichen Kunstschatzen zu fullen. Zudem lag ein Vorschlag Rosenbergs bei Hitler vor, seinem Einsatzstab das alleinige Recht der Sammlung zu ubertragen und alle bisher von anderen Organisationen sichergestellten Kunstgegenstande in seine Verwaltung zu geben.

«Wir mochten trotzdem das Schlo? besichtigen, Herr General«, sagte Muller-Gie?en unbeeindruckt.»Wir haben einen Auftrag von hochster Stelle, den wir erfullen mussen.«

«Bitte, ich hindere Sie nicht. «General von Kortte machte, wie bei Dr. Wollters, eine allesumfassende Handbewegung.»Registrieren Sie, zahlen Sie, bewerten Sie… wie hei?t's so schon? Doppelt genaht, halt besser.«

Dieses Mal sa? nicht Wachter auf seinem Schemel im Bernsteinzimmer, Jana Petrowna stand im Saal, als Muller-Gie?en und die anderen Sachverstandigen eintraten. Mit hochgezogenen Brauen betrachtete sie die graugrunen Uniformen.

«Ah, ein kunstliebendes Schwesterchen!«sagte MullerGie?en, plotzlich wieder gut gelaunt. Wie fur die meisten Soldaten war auch fur ihn eine Rote-Kreuz-Schwester zuerst ein Objekt mannlichen Interesses.»Nicht wahr, das ganze Palais ist ein Wunderwerk der Kunst. Aber hier, das Bernsteinzimmer, ist einsame Klasse. Nur sehen Sie leider jetzt nicht viel. Die ganze Pracht werden wir Ihnen dann nach dem Sieg in Linz zeigen. Es wird sich lohnen, nach Linz zu kommen.«»Bestimmt werde ich nach Linz kommen, bestimmt… wenn das Bernsteinzimmer dort sein wird. «Janas Lacheln bezauberte Muller-Gie?en in Sekundenschnelle. Er war Professor fur Kunstgeschichte, schon Anfang Funfzig, und zu Hause in Wurzburg wartete eine etwas dickliche Frau auf ihn und eine Tochter, die Lehrerin war.

Mit funfzig Jahren kann einen das Lacheln einer hubschen Krankenschwester bis ins Herz treffen. Muller- Gie?en versuchte einen uralten Trick. Er sagte charmant:

«Die Kunst nimmt Sie gefangen, Schwesterchen? Darf ich den Gefangenenwarter spielen? Ich erklare Ihnen gern die Schatze des Katharinen-Palastes. Staunen werden Sie, wo Sie hier sind. Wie war's mit heute abend?«

«Da habe ich Dienst. «Janas Lacheln verstarkte sich. Instinktiv spurte sie, da? dieser Mann in der Offiziersuniform ein wichtiger Mann war.

«Dann morgen?«

«Wie lange bleiben Sie in Puschkin?«

«In Puschkin? Bestimmt funf Tage. Wir haben auch noch die anderen Palaste zu besuchen und aufzulisten. «Muller-Gie?en spurte ein Jucken unter den Haarwurzeln und geno? dieses Gefuhl. Es war wie damals am 29. August 1940, als er in Frankreich die Kathedrale von Chartres besichtigte und dabei Lucienne Dambrous

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