«Der Fuhrer wird's schon machen.«»Ein… ein Gluck, da? wir ihn haben…«Es war einer der schwersten Satze, die Jana je gesprochen hatte. Sie nahm wieder ihre Wachstuchtasche von den Dielen auf und ging hinuber in das Buro. An der Wand standen zwei Liegen, auf denen zwei erschopfte Schwestern schliefen. Sie wurden von Janas Eintritt nicht wach. Zehn Stunden Dienst, da schlaft man wie betaubt.

Sie setzte sich auf einen Stuhl neben einen der mit Papieren uberfullten Schreibtische, stutzte den Kopf in beide Hande und dachte daruber nach, wie es nun weitergehen solle. Zwei Moglichkeiten gab es: Irgendwo untertauchen und in der Illegalitat leben, voll Vertrauen auf den Schutz ihrer Schwesterntracht, oder sich im Krankenhaus melden und offiziell als Schwester tatig sein. Nur zweihundert Mark habe ich bei mir, sagte sie sich. Das halt nicht lange. Wovon soll ich ein Zimmer bezahlen, wovon soll ich leben? Ich kann nicht immer nur als reisende Schwester von Schwesternheim zu Schwesternheim ziehen… dieses Versteckspiel ist schnell erschopft. Und dann? Ihr Blick fiel uber die Papierstapel. Am linken Schreibtischrand lag ein Block mit Vordrucken, und Jana las zunachst die fettgedruckte Uberschrift.

Einsatzbescheinigung.

Es durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag. Sie warf einen schnellen Blick hinuber zu den zwei schlafenden Schwestern, zog den Block an sich und sah, da? das Formular blanko ausgestellt war. Unterschrift, Stempel…nur den Namen und das Datum mu?te man noch einsetzen.

Hastig las sie den Text durch. Es war genau das, was sie brauchte. Name, Geburtsdatum, Heimatanschrift, Ausweisnummer und Bezeichnung der Dienststelle. Das Vorzeigen dieser Bescheinigung machte alle Fragen uberflussig. Sie war ein Pa? der Sicherheit.

Hastig ri? Jana Petrowna ein Blatt von dem Formularblock, warf wieder einen Blick auf die schlafenden Schwestern, raschelte bewu?t mit einigen Papieren, aber sie erwachten davon nicht. Sie nahm einen Fullfederhalter, der in einer Buchse stak, und fullte das Formular mit Druckbuchstaben aus… die vor ihr stehende Schreibmaschine wagte sie nicht zu benutzen, das Klappern hatte die Schlafenden wecken konnen. Dann faltete sie die ausgefullte Bescheinigung zusammen und steckte sie in die Wachstuchtasche. Aufatmend lehnte sie sich in ihrem Stuhl zuruck und schlo? fur einen Moment die Augen. So, den Kopf zuruckgelehnt und mit geschlossenen Augen, fand die Leiterin der Bahnhofsmission sie vor, als sie kurz ins Buro hineinsah.

«Mude?«fragte sie.»Wie lange bist du schon unterwegs?«»Von Puschkin bis Konigsberg zwei Tage und anderthalb Nachte.«

«Da hinten stehen ein Elektrokocher, ein Topf mit Wasser und eine Tute Kaffee. Echter Bohnenkaffee. Mach dir einen starken Kaffee. Bei uns gibt's keinen Muckefuck.«

«Danke.«

Was ist Muckefuck, dachte Jana Petrowna. Auch so ein Wort, da? ich noch nie gehort habe. Die Stationsleiterin ging wieder zuruck in den Aufenthaltssaal und schlug die Tur zu. Die beiden Schwestern auf den Liegen schliefen weiter. Sie bruhte sich keinen Kaffee auf, sondern wartete, bis zwei andere Schwestern in das Buro kamen, ihr die Hand gaben und dann einen Topf voll duftenden Kaffees aufgossen. Mit gro?em Genu?, fast gierig, trank Jana zwei Tassen.

«Ha, das ist was anderes als Muckefuck!«sagte sie dabei und kam sich sehr listig vor. Die eine Schwester nickte und schlurfte das hei?e Getrank vorsichtig vom Tassenrand.

«Korn — «sagte sie, — »ist furs Mehl da, nicht fur den Kaffee. Aber das Geld dafur ist notiger in der Rustung. Nach dem Krieg konnen wir in Kaffee baden.«

«Genau!«Jana Petrowna nickte. Muckefuck ist also Ersatzkaffee, dachte sie. Aus gebranntem Getreide. So etwas mu? man wissen, wenn man jetzt eine Deutsche ist.»Und wo bekommt ihr den Kaffee her?«

«Beziehungen…«Die junge Schwester lachte und schlurfte wieder an ihrem Kaffee.»Beziehungen sind alles. Man mu? organisieren konnen.«

Jana lachte und tat so, als verstande sie das. Schon wieder etwas gelernt, dachte sie. Organisieren hei?t also, hintenherum etwas zu besorgen, was man normal nicht mehr bekommt. Und Muckefuck ist Ersatzkaffee, und das Dunnbier nennen sie Urinol oder Pissolin. Das steht in keinem deutschen Worterbuch. Aber wissen mu? man's, sonst fallt man auf. Gibt es noch viele solcher Worter, die ich lernen mu??

Die Wartezeit ging schnell herum… trotz des starken Kaffees war Jana, auf dem Stuhl sitzend, eingenickt und hatte geschlafen. Erst ein Rutteln an der Schulter lie? sie auffahren, ihr auf die Brust gesunkener Kopf schnellte hoch. Die leitende braune Schwester stand vor ihr.

«Mu? dich leider von deinen Traumen befreien«, lachte sie.»Die erste Stra?enbahn kommt gleich. Wenn du die noch haben willst… los, lauf los… Die Haltestelle ist genau gegenuber dem Haupteingang.«

«Danke!«Sie sprang auf und ri? die Wachstuchtasche an sich.»An euren Kaffee werde ich noch lange denken. «Sie zogerte, hauchte dann der Schwester einen Ku? auf die Backe und lief hinaus.

Die Stra?enbahn war fast leer. Nur vorn im Waggon sa? ein Trupp Arbeiter, sie rauchten, diskutierten uber den Wehrmachtsbericht vom Vortage, schlossen Wetten ab, wann Leningrad und Moskau erobert werden wurden. Einer von ihnen sagte» Nie!«und wurde von den anderen niedergebuht. Haltestelle Stadtische Krankenanstalten.

Jana Petrowna stieg aus, blieb neben dem Halteschild stehen und blickte lange hinuber zu den Mauern und Fensterreihen des Krankenhauses. Auf dieses Abenteuer hatte sie sich grundlich vorbereitet. Aus einem» Handbuch fur Lernschwestern«, das Michael Wachter ihr einmal mitgebracht hatte — es war in russischer Sprache abgefa?t —, hatte sie einige Grundbegriffe auswendig gelernt und dann ins Deutsche ubersetzt. Sie beherrschte, theoretisch, eine kleine Instrumentenkunde, hatte an Wachter, der einen Schwerkranken spielte, geubt, wie man Bettlagerige aufrichtete, ihnen die Pfanne unterschob, einen Verband wechselte, die Kranken wusch, den Puls fuhlte und hatte an ihrer alten Kinderpuppe gelernt, wie man eine intramuskulare Injektion setzt.

«Das mu? genugen«, hatte spater Wachter gesagt.»An mehr kommst du sowieso nicht ran. Nicht gleich als OP-Schwester werden sie dich einsetzen. Pillen wirst du verteilen, Bettwasche wechseln, mal eine Spritze geben, in den Muskel nur, in die Vene, das machen die Arzte oder die Stationsschwester mit Erlaubnis der Arzte, stutzen wirst du sie, wenn sie ihre ersten Gehversuche machen, Essen austeilen, Schwerkranke futtern, Fieber messen… das alles ist kein Problem fur dich. Und sprich so wenig wie moglich, Janaschka… mit Worten verrat sich mancher mehr als durch Taten. Und halt die Augen offen… lernen mu?t du, lernen, uberall lernen… und plotzlich kannst du so viel wie eine richtige Schwester.«

Sie gab sich einen Ruck, uberquerte die Stra?e und ging auf die Zufahrt zu, an der die Krankenwagen hielten. Jetzt war die Doppeltur der Einlieferung nur von zwei armseligen, truben Lampen beleuchtet. Tiefe Stille lag uber dem ganzen Gebaudekomplex.

Die Tur war abgeschlossen, in der linken Seitenwand war ein gro?er Klingelknopf in die Mauer eingelassen. Sie druckte ihn hinunter, horte nichts und druckte noch dreimal. In der gro?en Aufnahmehalle flammte Licht auf, ein verschlafener Sanitater kam breit gahnend zur Tur.

«Was ist denn los?«rief er.»Ich bin ja schon da! Habt ihr den Koch im Sanka?«Dann erst erkannte er, da? da drau?en ganz allein eine Rote-Kreuz-Schwester stand, ein hubsches Puppchen, so ein richtiges knackiges Ding fur die Arzte.

Sanka, dachte Jana Petrowna sofort. Was ist denn das nun wieder?

«Ich bin kein Sanka!«sagte sie forsch.

«Nee, wirklich nicht. «Der Sanitater grinste, trat zur Seite und lie? Jana eintreten.»War schade, wennste wie'n Krankenwagen aussiehst.«

Sanka ist also ein Krankenwagen. Ein neues Wort, das wichtig war. Die Abkurzung von Sanitatskraftwagen. Jana wartete, bis der Sanitater wieder abgeschlossen hatte und sah sich um. Kahle Wande, ein blanker Linoleumfu?boden, ein Geruch von

Desinfektionsmitteln, eine Reihe Turen, Rolltragen an einer Seite der Wande, zwei Untersuchungszimmer fur Notfalle und Unfalle, zwei fahrbare Krankenstuhle.

Der Sanitater kam von der Eingangstur zuruck und grinste Jana an.

«Na, uber den Zapfen gewichst, und jetzt heimlich hinein durch die Hintertur. War's schon?«Er lachte, als er Janas verstandnisloses Gesicht sah und legte den Arm um sie. Sie wu?te nicht, ob sie es dulden oder ihn abschutteln sollte.»Machst Augen wie ein Engelchen, sooo unschuldig. Nun wetz schon in dein Bett, ehe dich die Nachtwache erwischt.«

«Ich mu? mich bei der Oberschwester melden«, sagte Jana Petrowna, so wie sie es geubt hatte.

«Jetzt? Um halb sechs?«Er sah Jana genauer an und bemerkte ihre gro?e Wachstuchtasche.»Ach Gott, du bist neu hier? Sollst dich melden?«

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