«Ohne Frieda lauft hier nichts. Sie sieht, hort und riecht alles. Wenn sie sagt, Sie sind eingestellt, dann sind Sie's auch! Ich werde mich huten, anders zu entscheiden wegen Ihrer fehlenden Papiere. «Er verzog sein Gesicht und fugte dann sehr ironisch hinzu:»Viel Freude an der Arbeit, Schwester. Eine Woche im Schutzenloch ist gemutlich gegen ein Tag mit Frieda. Aber der Laden lauft mustergultig — das ist die andere Seite.«

Eine halbe Stunde spater klopfte Jana wieder am Zimmer der Oberschwester an. Ein knurrendes» Ja «hie?»Eintreten«. Frieda Wilhelmi hob den Kopf und deutete auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Als Jana sa?, kam sie sich vor wie ein armer Sunder vor dem Hohen Gericht.

«Mein Kind — «Wieder diese warme, gar nicht zu dem Fleischturm passende Stimme, und dann noch» mein Kind«, eine fast mutterliche Vertraulichkeit, die Jana Petrowna sogar korperlich spurte.»Bevor wir zu Stabsarzt Dr. Pankratz gehen, noch ein notiges, ernstes Wort: Ich mag keine Liebschaften in meinem Haus.«

Sie sagte» mein Haus«, und sie lie? damit erkennen, da? ihr nichts verborgen blieb. Jana nickte gehorsam.

«Das kommt bei mir nicht vor, Oberschwester.«

«Ach Gott, das sagen sie alle. Ich bin verlobt, ich will kein fluchtiges Abenteuer, dafur bin ich mir zu schade und tausend andere Beteuerungen. Und dann fallen Sie Dr. Phillip in die Hande, und alles ist vergessen.«

«Sie warnen mich vor Dr. Phillip?«

«Auch. Der ist nur ein Beispiel. Alle Manner sind verruckt, wenn sie so ein Madchen wie Sie sehen.«

«Bitte, Oberschwester, sagen Sie du zu mir.«

Das war ein geschickter Schachzug. Frieda warf einen wohlwollenden Blick in Janas Augen und lachelte sogar.»Leben deine Eltern noch?«fragte sie.

«Nein. Mutter starb 1938 an Krebs, und mein Vater…«Jana gelang es, ihr Gesicht zucken zu lassen. «Vater… ist in Frankreich vermi?t. Aber ich fuhle, da? er nicht wiederkommt. Ich spure es.«

«Kannst du Schreibmaschine schreiben?«

«Sehr schlecht, Oberschwester.«

«Das kann man lernen. Alles kann man lernen, wenn man will und etwas Grips im Kopf hat. Du wirst Schreibmaschine lernen.«

«Jawohl, Oberschwester.«

«Ab sofort. Hier bei mir. «Frieda zeigte auf eine machtige Adler-Schreibmaschine mit einem breiten Wagen, in den man auch Listen einspannen konnte.»Ubung ist alles. Ubung!«Der Turm warf wieder einen wirklich mutterlich zu nennenden Blick auf Jana Perrowna und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Schreibmaschine.»Setz dich dorthin, mein Kind, und fang an.«

«Aber… Oberschwester…«Jana erhob sich, setzte sich auf den Stuhl hinter die Maschine und starrte hilflos auf die Tastatur.»Ich habe nur zweimal… mit zwei Fingern… nur aus Spa? bei meinem Vater…«»Papperlapapp! Jeder kann Maschine schreiben! Heute zwei Finger, morgen vier Finger, in einem Monat alle zehn… Uben… Uben…«Frieda Wilhelmi nickte Jana aufmunternd zu. Und dann sagte sie etwas, was die gesamte Situation veranderte, was schicksalhaft fur Jana werden sollte:»Ich schicke dich nicht auf Station, ich hab's mir anders uberlegt, die Chirurgie hat genug Pfleger und Schwestern. Du bleibst bei mir und erledigst den ganzen schriftlichen Kram. Bisher hat das ein Madchen aus dem Sekretariat getan. Sie wird dir noch so lange helfen, bis du allein arbeiten kannst. Einverstanden, mein Kind?«

«Selbstverstandlich, Oberschwester.«

«Spann ein Blatt Papier ein und schreib-«Frieda wartete, bis das Papier eingezogen war, und diktierte dann ganz langsam:»Aktennotiz. An die Apotheke im Hause. Ich habe festgestellt, da? die Stationen zwei, sechs und sieben nicht genugend Spritzen und Kanulen haben. Wenn sterilisiert wird, stehen kaum noch Spritzen zur Verfugung. Trotz Bitten der Stationen erfolgte bisher nichts! Ich verlange sofortige Zuweisung neuer Spritzen oder mache Meldung, da? die notige Versorgung der Patienten nicht mehr gewahrleistet ist. Frieda Wilhelmi, Oberschwester.«

Nur muhsam kam Jana voran, bei jedem dritten Wort vertippte sie sich, suchte nervos Buchstabe nach Buchstabe zusammen, schrieb die Worter mal gro?, mal klein und legte dann, am Ende des Diktats, die Hande in den Scho?. Sie sah aus, als wollte sie gleich weinen.

Frieda wuchtete sich von ihrem Stuhl, rollte auf Jana zu, blickte ihr uber die Schulter und stie? einen grunzenden Laut aus.»Immerhin, man kann's lesen«, sagte sie sanft.»Und nun, mein Kind, schreibst du das Ganze noch mal sauberlich ab. Du wirst sehen: Morgen geht es schon besser.«

«Bestimmt, Oberschwester. «Jana ri? das Blatt aus der Maschine.»Darf ich hier in Ihrem Zimmer uben… nach der Dienstzeit? Ich… ich will Sie nicht enttauschen.«

«Naturlich darfst du das. «In Frieda Wilhelmis Herz schien eine bisher verrammelte Tur aufgeschlossen worden zu sein.

Mit ihrer dicken, schweren Hand streichelte sie Jana uber den Kopf, grunzte erneut und rollte dann zu ihrem Schreibtisch zuruck.»Du wirst auch nicht im Schwesternbau schlafen, sondern im Zimmer nebenan. Das ist eine Art Magazin, das Badezimmer ist direkt daneben.«

«Danke, Oberschwester«, sagte Jana gehorsam. Ein Zimmer ohne Beobachtung, dachte sie dabei. Kein Dienst auf der chirurgischen Station. Schnell wird es sich rumsprechen, da? ich nur fur die Oberschwester arbeite. Beneiden wird man mich, oder auch nicht, aber ein Hauch von Autoritat wird auch auf mich fallen. Niemand wird mich kontrollieren. Unter ihrem Schutz stehe ich. Gott im Himmel, du hast mir wirklich geholfen.

Auf der chirurgischen Station II hatte sich erwartungsvolle Spannung ausgebreitet. Der Rothaarige in der Verwaltung hatte sofort, nachdem Jana Petrowna das Buro verlassen hatte, in der Chirurgie angerufen und bekam ausgerechnet Dr. Phillip an den Apparat. Dr. Hans Phillip, mit seinen 28 Jahren noch sehr jungenhaft aussehend, mit rotlichblonden Haaren und einem sportlichen Korper genau der Typ des modernen Germanen, wie man ihn in den Illustrierten abgebildet sah und wie der Reichsfuhrer SS, Heinrich Himmler, sie in extra dafur eingerichteten Zuchtanstalten, genannt» Lebensborn«, als neue deutsche Rasse zuchten wollte, war der von allen geliebte Arzt in den Stadtischen Krankenanstalten. Seine Abenteuer waren» grenzuberschreitend«: Nicht nur in der Chirurgie bekamen die Schwestern blanke Augen bei seinem Anblick, sondern auch in der Inneren, der Gynakologie, der Padiatrie und bei HNOlern gab es Schwestern, die ihn verfluchten und ha?ten und dennoch immer noch heimlich liebten. Ein Oberarzt der Rontgenabteilung hatte Phillip sogar schon einmal Schlage angedroht, ein Kollege von der Gynakologie war noch weiter gegangen und hatte ihn zum Duell gefordert, auf Pistolen, drau?en auf der Nehrung vor dem Haff an der Ostsee, aber da Duelle im Dritten Reich verboten waren ebenso wie das Pauken der Studenten, das Sabelfechten mit Mensuren, und alle schlagenden Studentenverbindungen aufgelost worden waren, kam es nicht zu einer Begegnung zwischen den beiden Arzten. Die Aufforderung, das Duell heimlich auszutragen, beantwortete Dr. Phillip mit gro?er Geste:»Wenn ich verwundet werden soll, dann nur an der Front! Aber doch nicht wegen eines Madchens… ich bitte Sie.«

Dr. Phillip, im Range eines Unterarztes, horte interessiert zu, was der Rothaarige zu berichten hatte.

«Sie stellt sich gleich vor?«fragte er mit freudiger Stimme.»Bildhubsch, sagen Sie? Pechschwarze Haare und ebensolche Augen? Und was Anstandiges in der Bluse? Kommt von der Front bei Leningrad? Danke, Robert… dann ist die Kleine ja nahkampferfahren. Bei Frieda ist sie jetzt? Danke fur den Tip. Ich werde mich doch noch zum Drachentoter qualifizieren.«

Der Chef der Chirurgie, Stabsarzt Dr. Pankratz, war noch nicht im Haus. Er hatte am vergangenen Tag bis gegen Mitternacht operiert. Ein Lazarettzug war angekommen, und neun Sankas hatten Schwerverwundete zum Krankenhaus gebracht, von denen fast die Halfte sofort versorgt werden mu?te. Sie kamen ohne Zwischenaufenthalt direkt von der Leningrader und Wol-chowi-Front, mit durchgebluteten Verbanden, eiternden Wunden, hohem Fieber… neun Wagen voll zerfetzter Leiber.

Dr. Phillip wartete auf die neue hubsche Schwester, hatte in seinem Arztzimmer einen starken Kaffee gebraut, mit Schokolade uberzogene Kekse bereitgestellt und eine Flasche Danzi-ger Goldwasser aus dem Bucherschrank geholt. Die besten Erfahrungen hatte er damit gemacht… Kaffee, Schokoladenkekse und Danziger Goldwasser, das schien eine Mischung zu sein, die bei den Madchen nicht nur die Herzen offnete…

Er wartete eine Stunde, machte durch die Station II eine Runde und besuchte drei schwierige Falle, kniff Schwester Angelika beim Vorubergehen in den Hintern und rief dann ungeduldig in der Verwaltung an. Der Rothaarige — Hausapparat 009 — war ba? erstaunt.

«Was? Sie ist noch nicht bei Ihnen?«sagte er.»Das verstehe ich nicht. Vielleicht hat sie sich verlaufen.«»Eine Stunde lang?«

«Fragen Sie doch mal bei Frieda nach, Dr. Phillip.«

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